Eine Rezension von Josef Quack
Über die Menschenwürde
Peter Bieri, Eine Art zu leben.
Über die Vielfalt der menschlichen Würde.
München: Hanser 2013.
Juris praecepta sunt haec: honeste vivere,
alterum non laedere, suum cuique tribuere.
Die Vorschriften des Rechts sind folgende: ehrenhaft leben,
den anderen nicht verletzen, jedem das Seine zuteilen.
Justinianus, Corpus juris civilis
So würdig wie das Pferd die Schmach,
erträgt sein Herr die Würde nicht.
Karl Kraus
Nach der Promotion an der Universität bleiben,
Literatur, Kongresse, die man besucht,
um sich bekannt zu machen – würdelos.
Karl Jaspers
Ein problematisches, gelegentlich enttäuschendes, oft Widerspruch herausforderndes Buch.
Der Schweizer Philosoph Peter Bieri, unter dem Namen Pascal Mercier auch als erfolgreicher Romancier bekannt, erörtert in seinem neuen Buch erzählend und beschreibend das Problem der menschlichen Würde. Er diskutiert nicht gerade alle Erscheinungsformen der Menschenwürde, aber doch eine beachtliche Vielzahl. Er schildert verschiedene Verhaltensformen, die mit der Würde der agierenden Personen vereinbar sind, und viele Situationen, in denen die Würde der Personen verletzt wird, Demütigungen u. dgl. m.
In der Schilderung der diversen Erscheinungsformen der Menschenwürde liegt zweifellos der Vorzug dieser leicht verständlichen philosophischen Arbeit. Bieris Stärke ist die erzählerische Genauigkeit, sein Buch ist kasuistisch angelegt, er beschreibt vorwiegend Einzelfälle, spezifische Situationen, und die anschaulichen Beispiele entnimmt er meist der Literatur und dem Film. Dabei ist nicht zu übersehen, daß er seine Beispiele nach der Art pedantischer Schulmeister gelegentlich überstrapaziert, so etwa den Tod eines Handlungsreisenden, aus dem er den letzten Tropfen Sinn herauspreßt.
Den Vorzügen des Bandes stehen die offensichtlichen Schwächen gegenüber: Bieris oft eigenwilliger Sprachgebrauch (1.), seine Vorliebe für den modischen Psychojargon (2.), die Tendenz zur Verniedlichung oder Verharmlosung ethischer Phänomene (3.) und schließlich ein argumentatives oder systematisches Defizit (4.), das kurz gesagt darin besteht, daß er im Prinzip nur moralische Konventionen bespricht, seinen eigenen moralischen Standpunkt aber weder genügend expliziert noch eigentlich begründet oder zu begründen vermag.
1. Kuriose Formulierungen
Die Würde des Menschen im engen Sinn ist seit Kant und Schiller im Sprachgebrauch des Deutschen eine moralische Kategorie. Bieri zeigt, daß man in vielen Fällen von Menschenwürde in einem weiteren Sinn sprechen kann, der mit Moral im eigentlichen Sinn unmittelbar wenig zu tun hat. Es geht in diesem Bereich eher um Fragen des Anstands und der Ehre – freilich unterläßt es Bieri, den Begriff der moralischen Würde von dem Begriff der Ehre und des Anstands abzugrenzen, er bringt das Problem nicht einmal zur Sprache.
Seine Redeweise, nicht nur die Überschrift „Würde als Lebensform“, erinnert an den feuilletonistischen Sprachgebrauch Thomas Manns, der von Lübeck als Lebensform gesprochen hatte und immer großen Wert auf Gesittung legte, wo-runter er vor allem die bürgerliche Wohlanständigkeit, die Geltung bestimmter Umgangsformen verstand. Er schreibt in seinem Tagebuch vom 24.5.42 etwa: „Ingrimm gegen das Weibsbild, nervös und meiner nicht würdig“. Damit will er sagen, daß sowohl diese verachtete Frau als auch sein Ärger über sie seiner nicht angemessen sei, d.h. seinem Niveau oder seinem Rang nicht entspreche. Wenn er am Jahresende über seinen Roman den Wunsch äußert, „daß das kom-mende, aufregungsvolle Jahr etwas Würdiges daraus machen möge“, dann wünscht er sich, daß sein Roman in den Augen der Literaturkenner angesehen sein möge.
Ich will nicht behaupten, daß Bieri unter Würde ebenfalls nichts anderes als den steifen Habitus bürgerlicher Umgangs-formen versteht, doch gleicht er dem Romancier darin, daß er sich ebenfalls im Ausdruck große feuilletonistische Frei-heiten herausnimmt, die sich mit der angestrebten erzählerischen Genauigkeit schlecht vertragen.
Er redet also über „Würde als Lebensform“, „Würde als Selbständigkeit“ oder „Würde als Begegnung“, „Würde als Achtung vor Intimität“, „Würde als Wahrhaftigkeit“, „Würde als Selbstachtung“, „Würde als moralische Integriät“, „Würde als Sinn für das Wichtige“, „Würde als Anerkennung der Endlichkeit“. So lauten die seltsamen Kapitelüberschriften dieser Arbeit. Keine einzige dieser Formulierungen ist klar oder genau. Anders als im Deutschen üblich, muß man bei diesen Konstruktionen mit „als“ erst umständliche Überlegungen anstellen, um herauszufinden, was Bieri jeweils gemeint hat. Man kann zwar sagen, daß Würde etwas mit Lebensform, Selbständigkeit, Wahrhaftigkeit oder moralischer Integrität zu tun hat, doch kann man keineswegs diese Prädikate mit Würde ohne weiteres gleichsetzen, was man annehmen können müßte, wenn man diese Prädikate mit „als“ konstruiert.
Es ist überflüssig, im einzelnen nachzuweisen, daß diese Formulierungen allesamt schief und unpassend sind. Ihre sprachliche Mißgestalt und logische Verfehltheit dürfte jedem, der mit der deutschen Sprache und der elementaren Logik auch nur einigermaßen vertraut ist, sofort ins Auge springen.
Es sei nur daran erinnert, daß nach dem Grimmschen Wörterbuch Würde etymologisch sich von Wert herleitet und im wesentlichen vier Bedeutungen hat:
(a.) Würde ist Bezeichnung für Stand, Rang, Amt, äußeres Ansehen (das ist es, was Thomas Mann vor allem meint),
(b.) Würde als Übersetzung von meritum (Verdienst),
(c.) als Bezeichnung für innere Wertung, für Qualitätswert.
(d.) Diese Bedeutungen treten mit Kant und Schiller zurück, die unter Würde Gehalt und Norm des inneren Seins und Handelns verstehen: Würde als moralischer Wert, als unbedingter Wert einer Person. Diese Bedeutung ist gemeint, wenn es im Grundgesetz heißt, daß die Würde der Person unantastbar sei.
Wie anders hört sich Bieri an, wenn er schreibt, es gehe in seiner Arbeit darum, „den intuitiven Gehalt der Würde-erfahrung auszuschöpfen“ (12). Was aber soll das sein, die Würdeerfahrung? Und was ist mit intuitivem Gehalt gemeint? Wiederum muß man umständliche Überlegungen anstellen, um dahinterzukommen, was mit diesen Formulierungen gemeint sein könnte.
2. Psychojargon
Ärgerlicher als solche eigenwilligen Redeformen ist jedoch, daß Bieri mit Fleiß den unsäglichen modischen Psychojargon verwendet. Er schreibt also: „Wenn ich meiner Überzeugung nicht folge, verliere ich mich als einen in dieser Sache Engagierten“ (48). Das soll heißen: Wenn ich nicht nach meiner Überzeugung handle, bin ich in dieser Sache nicht mehr engagiert. Kann man sich prätentiöser ausdrücken? Natürlich kann das beliebteste Klischee des derzeit gebräuchlichen Psychojargons hier nicht fehlen, das vielfach unverstandene und falsch gebrauchte Klischee der Identität.
Bieri versichert hier im Ton des Seelenarztes tatsächlich: „Wir arbeiten an unserer seelischen Identität“ (23). Nach der unsäglichen Trauerarbeit der Mitscherlichs nun also die Identitätsarbeit. Ähnlich hochgestochen ist der Ausdruck, daß die Selbständigkeit mißlinge (70), oder die Formulierung einer Trauer, „daß wir uns als moralisch integre Person verloren haben“ (176). Bieri kennt auch die unmögliche Konstruktion einer „Versöhnung mit sich selber“ (176) und das Selbst, „auf das es mir ankommt“ (180).
Dieser psychologische Jargon ist nicht nur deshalb zu beanstanden, weil er stilistisch unangebracht umständlich und gehoben ist, sondern vor allem deshalb, weil er verrät, daß Bieri eine undurchdachte Subjekttheorie zu vertreten scheint. Indem er von dem Selbst, dem substantivierten Pronomen der ersten Person, und zugleich von dem Pronomen der ersten Person in der üblichen Form spricht, suggeriert er, daß das Subjekt aus zwei Instanzen bestehe. Dabei ist es doch gerade die Funktion von „selbst“, zu unterstreichen, daß es hier nur um dieselbe Person geht, auf die mit „ich“ verwiesen wird.
Die falsche Ansicht des Autors kommt besonders kraß dort zum Ausdruck, wo von dem merkwürdigen Fall die Rede ist, daß ich „mich in meinem Bedürfnis nach einem zurückgezogenen, privaten Leben verpasse“ (219). Irreführender könnte eine Metaphorik doch wohl kaum sein. Gegenüber dieser sprachlichen und begrifflichen Konfusion kann ich nur das Standardwerk über die Subjekttheorie empfehlen: Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung.
3. Verharmlosung moralischer Phänomene
Ein Vorzug dieser Arbeit ist, daß Bieri vielfach auf literarische Vorlagen zurückgreift, um an konkreten Beispielen anschaulich die Situationen zu beschreiben, in denen die menschliche Würde auf die eine oder andere Art tangiert ist. Freilich zeigt sich in zwei Fällen, daß er der Intention der literarischen Vorlage offensichtlich nicht gerecht wird. Das soll heißen, daß er den Sinn des jeweiligen Zitats verfehlt, weil er die Radikalität des Bezugstextes entweder nicht erkennt oder absichtlich verschweigt. So erörtert er zum Beispiel im Anschluß an Sartre, daß wir die Blicke der Anderen gleichsam als Bedrohung oder Verletzung spüren können. Bieris Beschreibung nimmt sich aber vergleichsweise manierlich aus, weil es ihm nicht gelingt, die prinzipielle Feindseligkeit des Blicks des anderen herauszuarbeiten, und dies gelingt ihm deshalb nicht, weil er Sartres Theorie der radikalen individuellen Freiheit nicht teilt. Das hängt natürlich damit zusammen, daß er eine andere philosophische Grundposition als Sartre hat.
Ein zweites Beispiel ist womöglich noch aufschlußreicher. Bieri zitiert aus Kafkas Roman, daß Josef K. verleumdet wurde. Wiederum gelingt es ihm nicht, die unausweichliche Verzweiflung, die bei Kafka zum Ausdruck kommt, auch nur an-nähernd wiederzugeben. Auch ist er weit davon entfernt, die radikale Konsequenz der Gedanken bei Kafka wahrzu-nehmen: das Problem und die Folgen eines moralischen Nihilismus. Denn die ganze Veranstaltung des gerichtlichen Prozesses ist deshalb so trostlos und absurd, weil in dem Roman die Geltung jeden Gesetzes an und für sich in Frage gestellt wird (cf. J.Q., Der Prozeß des Träumers und das Gericht des Satirikers. Notizen zu Franz Kafka und Karl Kraus. In: Die fragwürdige Identifikation). Übrigens findet sich bei Bieri hier ein verstecktes Zitat, das man nach üblichem Maßstab als Plagiat bezeichnen müßte. Er spricht von einer Scham, „als würde sie seinen Tod überdauern“ (167) – was eine fast wörtliche Paraphrase des Schlußsatzes von Kafkas Roman, Der Prozeß, ist.
Der dritte Fall einer Verniedlichung moralischer Phänomene ist dekuvrierend für Bieris ethische Auffassung im ganzen. Er zögert von einem „bösen Willen“ zu sprechen, weil der Ausdruck einen „metaphysisch dubiosen Klang“ habe (272). Unser Autor hat zwei Beispiele aus der Welt des KZs gebracht, es waren zwei randständige Beispiele moralischen Verhaltens, aber doch Beispiel aus dieser Welt des radikal Bösen. Zwar hat er die schimpflichste Verletzung der Menschenwürde, die im letzten Jahrhundert zu verzeichnen war, die millionenfache Ermordung der europäischen Juden, nicht direkt besprochen, aber diese Welt doch immerhin erwähnt, und nun zögert er, von einem bösen Willen zu sprechen!
Weltfremder und akademischer hat sich ein Philosoph unserer Tage wohl selten geäußert. Dieses Verhalten verweist aber auf die grundsätzliche Schwäche dieser Arbeit, auf Bieris Defizit in der Begründung und systematischen Erörterung der Grundprinzipien der Ethik.
4. Argumentative Schwäche
Am enttäuschendsten ist Bieri dort, wo er die von ihm vertretene Ethik hätte explizieren und begründen müssen. Er lehnt, was natürlich sein gutes Recht ist, die christlich-biblische Begründung der Menschenwürde ab, unterläßt es aber auf säkularer Grundlage auszuführen, worauf letztlich in moralischer Hinsicht die unantastbare Würde des Menschen beruht. Das hängt natürlich damit zusammen, daß er es unterläßt, darzulegen, was er unter ethischen Grundsätzen versteht und wie sie systematisch zu erklären sind.
Gelegentlich greift er auf die moralische Auffassung Kants zurück, ohne allerdings dessen systematische Argumentation zu übernehmen. Er behauptet etwa, dem Menschen komme deshalb Würde zu, weil er ein Subjekt sei, ein selbständiges oder autonomes Wesen, das das Recht habe, „nicht bloß als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck behandelt zu werden“ (24). Jedoch erklärt er nicht, warum die Autonomie des Menschen dieses Recht samt der daraus folgenden Würde impliziert.
Ganz unverständlich ist, was er zur moralischen Würde schreibt, wo er zu einem Fall behauptet: „Das moralische Tun entspringt gar nicht spontanem moralischen Empfinden und ist deshalb nicht echt“ (266). Er scheint zu behauptet, daß nur jenes moralische Urteil gerechtfertigt sei, das auf einer intuitiven Regung, also einem Reflex, beruht, während im üblichen Verständnis für das moralische Urteil wesentlich ist, daß es gerade nicht intuitiv ist, sondern eine rationale Überlegung, eine Reflexion über verschiedene Handlungsmöglichkeiten enthält.
Er verkündet dann den löblichen Grundsatz, daß man bereit sein solle, auf das Leben und die Bedürfnisse der anderen Rücksicht zu nehmen – was ja nichts anderes besagt, als daß man nett zueinander sein sollte (269). Warum wir diese Rücksicht nehmen sollen oder, noch schärfer formuliert, warum wir verpflichtet sind, auf die elementaren Bedürfnisse der Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, erklärt und begründet Bieri aber nicht.
Im Grunde redet er ein paar moralischen Konventionen des derzeitigen Zeitgeists das Wort, die gut und empfehlens-wert sein mögen – die Befolgung von Konventionen wird man jedoch kaum als autonomes moralisches Handeln bezeichnen können.
Es ist der größte Nachteil dieser Arbeit, daß der Autor es unterläßt, sich systematische Gedanken über die Ethik und ihre Begründung zu machen, wie es etwa Ernst Tugendhat und Jürgen Habermas getan haben (cf. J.Q., Wenn das Denken feiert).
Mit diesem Defizit hängen auch einige andere Schwächen der Arbeit zusammen, so etwa die Behauptung, daß der Begriff der Anerkennung reicher sei oder mehr besage als Achtung oder Respekt (105). Das entspricht aber kaum dem üblichen Sprachgebrauch, nach dem Achtung ein spezifisch moralischer Begriff ist, der in ethischer Hinsicht grund-legender ist als der blasse umgangssprachliche Begriff der Anerkennung, der allenfalls als rechtliche Kategorie bedeut-sam ist. Später spricht Bieri dann von Selbstachtung und verwendet den Begriff der Achtung durchaus in dem üblichen Sinn, den er vorher Frage gestellt hat.
Ein Philosoph, der es unterläßt, die Grundlagen der von ihm vertretenen Ethik darzulegen, der nicht einmal den Versuch macht, die Geltung seiner ethischen Überzeugungen nachzuweisen, kann dann kaum Gehör erwarten, wenn er sich über existentielle Fragen wie den Sinn des Lebens und den Sinn und die Bedeutung von Sterben und Tod äußert. Was man hier zu lesen bekommt, ist kaum mehr als ein recht fades, gänzlich unverbindliches Feuilleton.
Zudem fällt unangenehm auf, daß dieser Philosoph für religiöse Einstellungen wenig Verständnis aufzubringen vermag. Was er etwa über Menschen schreibt, die im christlichen Sinn gläubig sind, kann man nur als naiv und töricht bezeich-nen. Er scheint der klischeehaften Meinung zu sein, daß solche Leute durchweg einem Wunderglauben im Stile Lourdes anhängen. Man sollte annehmen, daß ein Autor, der sich als Romancier ausgerechnet 'Pascal Mercier' nennt, doch ein wenig mehr von Religion und Christentum versteht, zumindest also wissen sollte, wie Pascal darüber gedacht hat.
Zum Schluß
Es dürfte zweierlei erwiesen sein: Bei dem Versuch, die Vielfalt menschenwürdiger Verhaltensformen zu beschreiben, indem er einzelne Fälle schildert und im Sinne eines erweiterten Begriffs der Menschenwürde charakterisiert, stößt Bieri an die Grenze seiner erzählenden Methode, und zweitens ist es ein erhebliches Defizit, daß er die moralischen Grund-lagen, auf denen der Begriff der Menschenwürde beruht, nicht nachgewiesen hat, wie er überhaupt auf eine systema-tische Erörterung seines ethischen Konzepts verzichtet hat. Seine unsystematische Darstellungsmethode erweckt manchmal den Eindruck, daß er einer Situationsethik oder einem moralischen Relativismus zuneigt. Da er seine Position aber nicht genau angibt, muß man die Frage offen lassen, ob dieser Eindruck richtig ist, ein höchst unbefriedigender Befund.
Wie man weiß, war Schopenhauer der erste Philosoph, der nachgewiesen hat, daß die Kantische Pflichtethik auf einem biblisch-christlichen Fundament beruht (cf. J.Q., Grenzen einer säkularen Ethik. In: Wenn das Denken feiert). Auch war er der schärfste Kritiker des Begriffs der Menschenwürde, und wer heute diesen Begriff verwendet, um seinen ethischen Standpunkt zu untermauern, kann die Kritik Schopenhauers nicht ignorieren.
Zunächst hält er den Begriff der Menschenwürde, so wie ihn Kant versteht, für inkonsistent. Nach Kant soll Würde des Menschen den unbedingten, unvergleichbaren Wert des Menschen bezeichnen, was jedoch nicht stimmig sein könne, da Wert ein Vergleichsbegriff sei.
Zweitens ist Würde nicht mehr als ein dekorativer Begriff, wenn man sagt, die Würde des Menschen beruhe auf dessen Autonomie. Der Begriff ist in diesem Fall nur eine „Ausschmückung“ des Kantischen Moralsystems. Daraus folgert Schopenhauer, daß die Würde des Menschen „das Schibboleth [d.h. Erkennungszeichen] aller rat- und gedankenlosen Moralisten [sei], die ihren Mangel an einer wirklichen oder wenigstens doch irgend etwas sagenden Grundlage der Moral hinter jenen imponierenden Ausdruck versteckten, klug darauf rechnend, daß auch ihr Leser sich gern mit einer solchen Würde angetan sehn und demnach damit zufrieden gestellt würde“.
Schließlich sei noch erwähnt, daß der zur Debatte stehende Begriff in jüngster Zeit als Grundkategorie der Ethik favorisiert wurde. Schnädelbach berichtet in seinem Buch über das, was Philosophen wissen können, von der Polemik Carl Schmitts gegen die Tyrannei der Werte und einer darauf beruhenden philosophischen Auffassung unserer Tage, wonach die Menschenwürde besser zum obersten Prinzip der Moral geeignet sei als der vielfach genannte Begriff der Wertegemeinschaft. Meines Erachtens kann diese Auffassung aber nicht überzeugen. Denn wie kann man Menschen-würde und Wertegemeinschaft als sich ausschließende Begriffe betrachten, wenn man weiß, daß Würde ebenfalls ein Wert sein soll, nämlich der oberste oder der unbedingte Wert? Eine Gesellschaft, die sich der Achtung der Menschen-würde verpflichtet weiß, kann man gewiß auch als eine Wertegemeinschaft verstehen.
Ein letzter Punkt. Bieri zitiert zustimmend eine Schrift, in der ein amerikanischer Philosoph aufgezeigt hat, daß dummes Geschwätz dummes Geschwätz ist – so als bräuchte man für diese triviale Erkenntnis einen ausgewiesenen Fachphilo-sophen.
© Josef Quack, 10. August 2014
Quelle: www.j-quack.homepage.t-online.de
Das Buch "Weisheit. Neun Versuche":
In die Berge schauen oder die Kraniche füttern
Der Philosophieprofessor Michael Hampe will im Namen der Weisheit das rationale Denken wieder mit der Selbstfürsorge versöhnen. Kann das klappen?
Johan Schloemann am 18. Oktober 2021 in der Süddeutschen Zeitung
Das Allerbeste in diesem Buch ist ein Zitat. Es stammt von dem chinesischen Maler und Dichter Chen Jiru, der von 1558 bis 1639 lebte, zur Zeit der Ming-Dynastie. Das Zitat geht so: "Viele menschliche Tätigkeiten, zum Beispiel Weihrauch abbrennen, Tee kosten, den Tuschstein waschen, auf der Zither spielen, Bücher sortieren, sich am Mondlicht erfreuen, auf den Klang des Regens hören, Blumen gießen, sich an eine hohe Brüstung lehnen, ein Divinationsbrett betrachten, auf und ab gehen, sich in der Sonne bräunen, fischen, Gemälde betrachten, sich in Frühlingswasser waschen, mit einem Stock umherschweifen, den Buddha anbeten, Wein probieren, meditieren, klassische Texte durchblättern, in die Berge schauen, alte Schriftproben nachziehen, Kerben in Bambus schneiden oder die Kraniche füttern, können in der Einsam-keit genossen werden."
Das klingt ja nicht nach einem schlechten Leben. Und es ist gewiss bestärkend für alle Singles und für all jene, denen die Vereinsamung in den Corona-Lockdowns noch nachgeht. Denn die Botschaft lautet: Man kann bei vielem alleine glück-lich werden, ganz für sich. Und von fernöstlichen Lehren kann, wer will, erfahren, wie man dabei von einem Tun in einen Zustand geraten könnte: in den Zustand der - Achtung, ein sehr großes Wort - Weisheit.
Die Kluft zwischen Sinn- und Weisheitssuche und der akademischen Philosophie scheint heute unüberbrückbar zu sein
Das große Problem ist nun, dass die Sphäre, in der es akzeptiert ist, sich um die eigene Entspanntheit und Abgeklärtheit zu kümmern (um etwas kleinere Wörter zu verwenden), von einer rationalen, wissenschaftlichen Sicht der Dinge maximal entfernt zu sein scheint. Also von dem Weltbild, das, so glaubt man, "den Westen" groß gemacht hat. Weisheitspraktiken hingegen assoziieren wir entweder mit einer muffigen, verfilzten Räucherstäbchen-Welt oder - in der sauberen, neoliberalen Variante - mit Achtsamkeitskursen, die ein Start-up-Gründer in der Mittagspause besucht, um seelisch dem Wettbewerb standzuhalten. Die Kluft zwischen derartiger Sinn- und Weisheitssuche und der Forschung, auch der akademischen Philosophie, scheint heute unüberbrückbar zu sein. Außerhalb der Universität gibt es ein Rieseninteresse an Philosophie - Weisheitsliebe - als lebenspraktischer Orientierung, während sich die professionelle Hochschulphilosophie von solchen persönlichen Bedürfnissen nach Orientierung großteils irritiert zeigt.
Der Philosoph Michael Hampe, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich lehrt - ausgerechnet da, könnte man sagen, oder: gerade da -, dieser Michael Hampe ist schon seit einiger Zeit bemüht, das rationale Denken und die Sorge um das gute Leben wieder enger zusammenzubringen, die Kluft zu überwinden. Er schreibt darum zunehmend ungewöhnlichere, nicht mehr nur "theoretische" Bücher.
In dieser Folge stehen auch die jetzt erschienenen "neun Versuche" über Weisheitspraktiken zwischen West und Ost,
die Hampe mit dem im taiwanischen Taipeh lehrenden Kollegen Kai Marchal zusammengebastelt hat, in der stets schön gemachten Reihe "Fröhliche Wissenschaft" von Matthes & Seitz. Hampes eigener Beitrag in dem Band liefert eine kleine Theorie der Erzählung, die seine Motive deutlich werden lässt: Es geht ihm, wie es aus mancher Interpretation der Welt-literatur geläufig ist, um die allgemeine Kraft, welche ganz spezifische Geschichten aus dem Leben einzelner Figuren ausstrahlen können. Die erzählende Dichtung sei, so Hampe, "eine Art zu denken (...), die sich jemand, der sich um Weisheit kümmert, zu eigen machen kann, um der behauptenden Philosophie etwas entgegenzusetzen".
Und munter oszilliert man zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen
Na dann erzählen Sie mal, Herr Philosoph, ist man geneigt zu antworten, und der Schwenk ins Narrative hat ja auch schon Tradition in der Geschichte der Philosophie, von Platons Mythen zu Nietzsches Gipfelgängen. Und mit dem Stoizismus und dem Epikureismus, mit der Askese, der Aphoristik und der Moralistik kennt das europäische Denken ja auch die Sorge ums Selbst, einen ethisch-therapeutischen Zug neben der offenbar irgendwann nicht mehr befriedi-genden "behauptenden Philosophie". Dies war das Terrain von Peter Sloterdijks Studie "Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik" (2012); ein Anliegen dieses neuen Bandes ist es nun, jene Tradition mit den Weisheitslehren Asiens zu verbinden.
Die verschiedenen Beiträge sind Mischungen aus Erfahrungen und Analysen. Und das Ausgesetztsein, das zum Be-richten über Selbstvervollkommnungsversuche gehört, bringt es notwendig mit sich, dass dieses ganze Weisheits-projekt zwischen dem Erhabenen und dem Lächerlichen oszilliert. Dies wird durch eine rahmende Kettenbrief-Spielerei zwischen den Aufsätzen selbst ironisiert. Da darf etwa Gert Scobel mit großem Ernst über die Vorzüge des Meditierens schreiben, was er auch schon in eigenen Büchern getan hat, oder ein Fan des Tai-Chi (das sind die, die sich in Parks in Zeitlupe bewegen) darf erläutern, was das Ziel diverser Selbst-Übungen ist: einen Zustand der Inhaltsleere zu erreichen.
Diese Nicht-Konzeptualisierbarkeit dessen, was das Ergebnis langer Arbeit an sich selbst sein soll, macht die Weisheits-lehren angreifbar und unangreifbar zugleich. Man kennt das schon von der Kritik an den Stoikern in der Antike: das Ideal des Weisen sei großartig, nur sei es so vollendet, dass noch nie jemand einen leibhaftigen Weisen gesehen habe. Genau so wandert man mal beeindruckt, mal ratlos durch diesen Sammelband.
Michael Hampe, Kai Marchal (Hrsg.): Weisheit. Neun Versuche. Matthes & Seitz, Berlin 2021. 230 Seiten.