Der Glaube, die Mystik und das Wort


 

Die Mystik und das Wort

 

 

Einerseits gibt es selbst unter evangelischen Christen viele Freunde des Mystischen, die das Wort und damit "Gesetz und Evangelium" als dogmatische Einengung ihrer religiösen Subjektivität durch die überlieferten Lehren der christlichen Kirchen ablehnen oder zumindest gleichgültig gegenüber stehen. Diese Freunde der Mystik erhoffen sich davon meistens eine freiere „Spiritualität“ des subjektiven religiösen Erlebens und der größeren persönlichen Autonomie im Denken und Fühlen, Wollen und Handeln.

 

Leider wissen die meisten von ihnen kaum noch etwas über den christlichen Glauben und pflegen statt dessen die in der Gesellschaft vorherrschenden Vorurteile. Da es ihnen vor allem um die ständige Stabilisierung und Steigerung ihres persönlichen Selbstbewusstseins durch Anerkennung, Erfolg, Leistung und sozialen Status geht, kommt es ihnen natür-lich zupass, sich dann auch noch einzureden, fortschrittlich und modern zu sein und auf bekennende Christen als ewig Gestrige herabzuschauen.

 

Nicht nur während der Reformation, sondern auch noch in der Epoche der Aufklärung wurden die Freunde der Mystik wegen ihres oftmals allzu emotionalen Überschwanges in Ausdruck ihrer religiösen Gefühle oft als "Schwärmer" ver-spottet. Wegen der natürlichen Flüchtigkeit ihrer Emotionen (Empfindungen, Affekte, Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen) galten sie bei vielen Theologen der christlichen Kirchen als verirrte Anhänger von subjektivistischen Bewegungen und romantischen Strömungen ohne eine gesunde Skepsis, ohne eine gereifte Selbsterkenntnis und vor allem ohne eine persönliche Beziehung zu Christus.

 

Andererseits gibt es unter lutheranischen, reformierten und evangelikalen Christen aber auch einige Feinde des Mysti-schen, die das mystische Selbsterleben und damit alle Spielarten der religiösen Subjektivität unter das biblische Wort Gottes und damit unter die Autorität der Kirche zwingen wollen. Damit wollen sie zwar zurecht erreichen, dass das Wort im Sinne von "Gesetz und Evangelium" eine hohe Wertschätzung genießt. Aber dazu ergreifen sie die falschen Mittel und laufen dabei nicht nur Gefahr, das Mystische ganz und gar im Keim zu ersticken, sondern auch das Evangelium falsch zu verstehen, indem sie es gesetzlich als ein bloßes Mittel zur religiösen Disziplinierung missbrauchen. Das Evangelium ist jedoch gerade die befreiende Botschaft von der Verstrickung des Menschen in Kräfte und Umstände,

die das Leben eines Menschen deformieren und die freie Entfaltung der Persönlichkeit gefährden bis hin zur leiblichen, seelischen und geistigen Erkrankung und sogar bis zum Tod.

 

Eine solche Reaktion gegen das Mystische gab es schon im reformatorischen Kirchenkampf von Martin Luther gegen die "schwärmerischen Rotten" der aufständischen Anhänger von Thomas Müntzer oder gegen die radikalen "Wieder-täufer", den Vorläufern der heutigen Baptisten. Eine ähnliche Reaktion gab es auch im reformatorischen Kirchenkampf von Jean Calvin gegen den Anti-trinitarier Michel Servet, einen Vorläufer der heutigen Unitarier.

 

Die Reformatoren hatten zwar zurecht erkannt, dass schwärmerischer Mystizismus ohne Bindung an das Wort geistliche und sittliche Folgen hat, die zur Bibelverachtung, zur Bilderstürmerei und zu Gewalt gegen Menschen führen können. Aber sie hatten zur gezielten Eindämmung dieser Folgen manchmal selbst zur Gewalt gegriffen. Das war zeitbedingt und aus heutiger Sicht war das sicher eine tragische Verirrung. Damals gab es eben noch keinen modernen säkularen Rechtsstaat und keine Polizei, die mit ihrem Gewaltmonopol über solche Auswüchse religiöser Konflikte hätte wachen können. Zeitgenössische Christen lehnen solche gewalttätigen Kirchenkämpfe wie aus der Zeit der Reformation und Gegenreformation zurecht ab. Aber muss man deswegen auch das Wort im Sinne von „Gesetz und Evangelium“ ver-werfen?

 

Auch in der Moderne hat der schwärmerische Mystizismus geistliche und sittliche Folgen, die das Gewissen schwächen und das gemeinsame christliche Ethos zerstören können: Flucht vor dem Gewissen, Ausschaltung des kritischen Denkens, Schwächung der Urteilskraft, Auslöschung der Erinnerung und damit der persönlichen, lebensgeschichtlich gewachsenen Identität, Verdrängung der Geschichte, Sehnsucht nach einer sorglosen Existenz in einer ewigen Gegen-wart, fehlende Verantwortung für die Schöpfung und für zukünftige Generationen, etc.

 

Religiöse Schwärmerei im Namen Gottes kann im schlimmsten Fall sogar zu einer unbändigen und rechtlosen Gewalt führen. Die Warnung der Reformatoren im Namen des Evangeliums war daher sachlich berechtigt, obwohl die Mittel zu deren Bekämpfung zeitbedingt und aus heutiger Sicht falsch waren. Sie basierte auf der Autorität einer erfahrenen und gelehrten Auslegung der biblischen Schriften. Wenn religiöse Schwärmerei im Namen Gottes jedoch zu fragwürdigen neuen Lehren und willkürlichen Sektierereien, zu schädlichem Aberglauben, zu seelischen Abhängigkeiten, zu wilden Verschwörungstheorien und politischen Extremismen führt, dann ist zwar menschliche Gewalt keine angemessene Reaktion, aber eine freundliche Ermahnung und eine engagierte Einladung zum zivilisierten Streitgespräch können durchaus angemessen sein und bisweilen hilfreich wirken.

 

Zeitgenössische Christen wünschen sich zurecht keine religiösen Anfeindungen oder gar gewalttätige Kämpfe zwischen fanatisierten Anhängern von Kirchen und Konfessionen zurück. Vielmehr wünschen sich die meisten Christen religiöse Vielfalt und konfessionelle Toleranz als dauerhafte Voraussetzung einer kulturellen und politischen Ökumene der friedlichen und gerechten Koexistenz.

 

Aber schwärmerische Mystik ohne das Wort ist für Christen auch aus anderen Gründen kein Gewinn, sondern vielmehr ein Verlust. Denn schwärmerische Mystik ohne das Wort ist oft der Versuch einer Befreiung von religiösen Bindungen an überlieferte Dogmen, Konfessionen und Rituale, aber sie ist auch ein Verlust im Sinne einer Verschmähung des Evange-liums Jesu Christi. Denn das befreiende Evangelium kann ohne das Wort weder verkündet noch verstanden werden.

 

Dieser Verlust ist für Christen jedoch entscheidend. Denn die wahre Freiheit ist nicht bloß eine individualistische und subjektivistische Willkürfreiheit, sondern die wahre Freiheit ist eine Freiheit zur Verantwortung. Die heilsame Befreiung durch das Evangelium ist keine verzweifelte Befreiung von allen moralischen und religiösen Geboten hin zu einem egozentrischen Vorrang der eigenen Willkür und der Selbstsucht. Die heilsame Befreiung durch das Evangelium ist vielmehr eine Befreiung zur Liebe, zur Sachlichkeit und zur Verantwortung.

 

Die christliche Freiheit ist eine Befreiung zur Liebe in Christus, die eine Liebe zu Gott, zu sich selbst und zum Anderen ist. Diese Liebe basiert auf angemessener Selbstliebe und nicht auf von Gier getriebener Selbstsucht. Zu dieser Befreiung zur Liebe in und durch Christus brauchen alle Menschen, ganz gleich, ob sie schon Christen sind oder es erst werden wollen, jedoch ein tieferes Verständnis des Wortes im Sinne der Dialektik von "Gesetz und Evangelium".

 

Eine Mystik ohne das Wort kann dieses Verständnis vom christlichen Glauben kaum vermitteln. Denn keine Mystik kann das Evangelium alleine vermitteln. Deswegen ist eine Mystik ohne das Wort sicherlich keine christliche Mystik. Daraus folgt jedoch nicht, dass das mystische Erleben an sich ein Problem für die Menschen oder für die Christen wäre. Nur der Glaube, dass das Mystische alleine genügen könnte, sodass man getrost auf das Wort im Sinne von "Gesetz und Evangelium" verzichten könne, ist aus christlicher Sicht ein Irrglaube, der sich dem christlichen Glauben widersetzt.

 

Allerdings gibt es angeblich auch eine universale Mystik, die alle religiösen und konfessionellen Differenzen zwischen den verschiedenen Spielarten mystischen Erlebens leugnet und die die personale und kulturelle Einbettung des echten mystischen Erlebens in das persönliche und gemeinschaftliche Denken, Fühlen und Handeln missachtet. Deren An-hänger möchten am Liebsten gottgleich inklusivistisch und humanistisch die ganze Welt umarmen, um die ganze Menschheit zu einer einheitlichen und universalen "Religion of the One" zu vereinen.

 

Dabei handelt es sich dann aber weder um die echte Mystik einer bestimmten Religion oder Konfession, sondern nur um einen künstlichen Mystizismus. Dieser modische Mystizismus hat weder mit echter christlicher, jüdischer oder isla-mischer Mystik noch mit echter buddhistischer oder hinduistischer Mystik etwas gemein. Es handelt sich dabei vielmehr nur um Schwärmerei ohne Einbettung in eine kulturelle Matrix. Diese von allen Traditionen entwurzelte Mystik führt nicht selten wie die Exzesse des Aberglaubens und der Gewalt, des Esoterischen und des Erotischen zu einem Verlust der seelischen Gesundheit, wie z.B. zu seelischen Abhängigkeiten, zu Burnout, zu Depressionen, zu Manien oder an-deren Persönlichkeitsstörungen.

 

Die einflussreichsten Wortführer dieses importierten Mystizismus waren der theosophische Schriftsteller Aldeous Huxley, der vom Zen-Buddhismus beeinflusste Alan W. Watts und auch zahlreiche Stars des Jazz, der Pop- und Rock-musik. Als Künstler taten sie sich oftmals schwer mit der Einbindung in die kulturelle Matrix verfasster Religions-gemeinschaften mit ihren tradierten Lehren und Ritualen. Es gab jedoch auch Künstler wie Bob Dylan, Leonard Cohen oder Cat Stevens, die nach einem exzessiven und ungesunden Leben des Konsums von Sex, Drogen und Erfolg beim Publikum zu einem heilsamen Glauben fanden.

 

In den verschiedenen Kulturen, Religionen und Konfessionen der Menschheit gibt es jedoch gar keine universale Einheitsmystik. Denn sie ist nur ein künstliches Konstrukt der Popkultur und der Wunschtraum mancher Hippies, Naturwissenschaftler und Pop-Stars. Die psychologischen und ethischen Differenzen zwischen den mystischen Lehren und Praktiken in den großen Religionen und Konfessionen wurden erstmals 1970 von dem britischen Religionswissen-schaftler Robert C. Zaehner in seiner umfangreichen Studie Mystik. Harmonie und Dissonanz. Die östlichen und die westlichen Religionen (1980) auf eine sehr überzeugende Art und Weise dargestellt und behandelt.

 

Trotz aller berechtigten Skepsis gegen diesen schwärmerischen Mystizismus wäre es schade, wenn es unter evange-lischen und evangelikalen Christen wieder zu einer Dämonisierung des mystischen Erlebens überhaupt käme. Ver-mutlich gibt es neuropsychologische Ursachen für mystisches Selbsterleben, die der Einheit des Bewusstseins und damit der seelischen Gesundheit der Menschen dienen, um die erotischen Kräfte in den Tiefen der leiblichen Psyche mit den spirituellen Kräften ihrer emotionalen, intuitiven, kreativen und kognitiven Funktionen in einer Person zu verbinden.

 

Wahre Liebe geht vom Herzen aus und ermöglicht eine geheimnisvolle Verbindung zwischen zwei Menschen, die den ganzen Menschen ergreift. Sie ist jedoch ebenso wunderbar wie selten. Sie ist weder eine Sache zweckrationaler Lebens-planung noch erotischer Abenteuerlust. Deswegen ist es wenig hilfreich, die christliche Mystik und das christliche Wort von "Gesetz und Evangelium" als ein absolutes Entweder-Oder hinzustellen und gegeneinander auszuspielen. Gesün-der ist der Weg einer psychischen Integration und insofern ein verbindendes Sowohl-Als-auch.

 

Ulrich W. Diehl, September 2019

 


 

Timothy Keller fields Life's Hardest Questions at Veritas Forum

 

Ever wonder how an articulate Christian responds to tough interlocutors? Come watch a blow-by-blow of the Veritas Forum at Columbia University and hear renowned NYC pastor and author of "Reason for God" Tim Keller give an account of his faith to NBC journalist Martin Bashir and Columbia Professor David Eisenbach

 

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