Christliche Spiritualität

 

 

Während es in der Metaphysik und Religionsphilosophie seit der Moderne um die Frage geht, ob es Gott überhaupt unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und Geist wirklich gibt oder ob es nur Ideen oder Vorstellungen von Gott gibt, die kulturell prägend sind und kulturell überliefert wurden, geht es in der christlichen Spiritualität um die spezi-fischen Charakteristika der christlichen Ideen oder Vorstellungen von Gott. 

 

In der Metaphysik, die die klassischen und neueren Argumente für die Existenz Gottes diskutiert, tendieren Philo-sophen und Theologen eher dazu, sich Gott als einen schöpferischen Ursprung des Universums, als ersten Beweger

der Welt oder als ein absolutes und transzendentes Prinzip vorzustellen. Wer herausfinden will, ob es Gott unabhängig vom menschlichen Bewusstsein und Geist überhaupt wirklich gibt, muss wie Wissenschaftler von seinen subjektiven und persönlichen Neigungen absehen, um dem näher zu kommen, wie es sich wirklich verhält.

 

In der christlichen Spiritualität geht es hingegen gerade um diese subjektiven und persönlichen Neigungen, die mit menschlichen Interessen und seelischen Bedürfnissen verbunden sind. Daher steht die christliche Spiritualität auch in einer engen Verbindung zur Seelsorge und Psychotherapie, Religionspsychologie und Religionspsychologie. Außerdem vergleicht die christliche Spiritualität oft auch sich selbst mit verschiedenen Formen der Spiritualität in anderen großen Weltreligionen, wie insbesondere im Buddhismus und Hinduismus. Dabei kann man einige Gemeinsamkeiten, wie in den Praktiken von Andacht und Gebet, Meditation und Fasten entdecken, aber auch einige Differenzen hinsichtlich des Gottesbildes und des Menschenbildes oder der Rolle und Beziehung von Religionsstiftern und Mittlern zu Gott.

 

Die christliche Spiritualität zeichnet sich nämlich im deutlichen Unterschied zum im Buddhismus und Hinduismus  dadurch aus, dass die Differenz zwischen Gott und den Menschen -- wie im Judentum und im Islam -- nicht aufgehoben werden kann, weil die Menschen besondere Geschöpfe Gottes sind und Gott oder die Götter nicht von Menschen geschaffen wurden. Im Buddhismus und Hinduismus gilt das nur für den Gott Brahman der Hochtheologie der gebildeten Brahmanen, aber nicht für die vielen Götter und Götterbilder der volkstümlichen Kulte Indiens.

 

Aus diesem Grunde unterscheiden sich auch die mystischen Vorstellungen und Lehren in der lebenden Weltreligio-nen. Im Judentum und im Islam sind die mystischen Gruppen und Traditionen, wie z.B. die jüdischen Chassiden und die islamischen Sufis, meistens nur Ausnahme- und Randerscheinungen, die von ihren jeweiligen orthodoxen Gelehrten und Schulen skeptisch betrachtet, nur gering geschätzt oder sogar offen abgelehnt und manchmal verbannt werden. 

In den verschiedenen Traditionen und Schulen des Buddhismus und des im Westen sog. Hinduismus befinden sich die mystischen Gruppen und Traditionen nicht nur in den volkstümlichen Traditionen im Mittelpunkt des Geschehens, sondern auch in den verschiedenen Klöstern der Mönche und Nonnen, in den Ashren und Zentren der Gurus und in manchen Schulen von Gelehrten.

 

Aufgrund der vergleichwseise größeren Nähe der römisch-katholischen Kirche mit ihren Klöstern und Orden, Riten und Sakramenten zum Buddhismus und Hinduismus wird die christliche Spiritualität bis heute eher von katholischen Priestern, Ordensleuten und Laien gepflegt als von protestantischen Pfarrersleuten, Theologen und Gläubigen. Daher stehen auch in der christlichen Spiritualität die seelsorgerlichen Fragen im Mittelpunkt: Welche Gottes- und Menschen-bilder sind menschenfreundlich und seelisch gesund? Welche Formen von Spiritualität und Mystik sind erbaulich und seelisch förderlich? Was nützt und hilft den meisten Menschen in ihrem Alltag, in ihrem Familienleben, in ihrem Berufs-leben, in ihren privaten und beruflichen Beziehungen zu ihren Mitmenschen, Kunden, Patienten, etc.? Wie können sich Christenmenschen durch ihre gelebten Formen christliche Spiritualität (wie z.B. von Andacht und Gebet, von Meditation und Fasten, etc.) selbst helfen, körperlich möglichst gesund bleiben, seelisch wachsen und zu geistigen Einsichten kommen? Wie können sie mithilfe ihrer Spiritualität unnötige Ängste verlieren, besser mit Stress umgehen sowie Glaube, Liebe und Hoffnung wachsen lassen?

 

Die evangelischen Landeskirchen und Akademien könnten in Sachen christlicher Spiritualität ziemlich viel von ihren katholischen Freunden lernen, da sie seit vielen Jahren aufgrund ihrer protestantischen Konzentration auf die Bibel, auf die historisch-kritische Bibelexegese, auf die wissenschaftliche und akademische Theologie, auf die öffentliche Moral und das politische Engagement oft spirituell entleert und seelisch ausgetrocknet wurden. Darunter litten das seelisch gesunde Selbstverhältnis und die guten Beziehungen der Gläubigen untereinander seit einigen Jahrzehnten.

 

Schon in der Naizizeit hatte die Mehrheit der evangelischen Christen in Deutschland kaum die seelische Kraft und

die geistige Immunität, den perfiden Verführungen der Nazis zu widerstehen und sich gegen die starken politischen Repressionen des Naziterrors zur Wehr zu setzen. In der Nachkriegszeit war die EKD eher an die christdemokratischen Parteien der CDU/CSU gebunden, die sich vor allem auch zur Vereinigung von evangelischen und katholischen Christen der verschiedener Strömungen liberaler, konservativer und sozialer Orientierungen als eine Union verstanden hatten.

 

Das änderte sich in den siebziger und achtziger Jahren mit dem Einfluss der 68er-Bewegung, der Hippie-Kultur, der angelsächsischen Pop-Musik, der sexuellen Revolution durch die Erfindung und Verbreitung der Anti-Baby-Pille, des politischen Feminismus, der sozialistischen Studierenden, der linken Intellektuellen, des linken RAF-Terrorismus, des Marxismus und der Freudschen Psychoanalyse. In der EKD wurde seither kaum eine neuere Strömung des aktuellen Zeitgeistes ausgelassen.

 

Die evangelische Kirche wurde immer weniger vom Evangelium von Jesus Christus geprägt, wozu sie eigentlich berufen ist und was ihre geistige Mitte sein sollte. Selbst in den 90er Jahren hatte nach dem endgültigen Zusammenbruch der UdSSR und damit auch der DDR mit ihrer tapferen Widerstandsbewegung, die auch von der Kirche der DDR mitgetragen wurde, die neoliberale Managerkultur der Unternehmensberater Einfluss genommen, als man versuchte, die EKD von einer gemeindenahen Kirche Jesu Christi zu einer institutionellen "Kirche der Freiheit" unzugestalten.

 

Heute gleicht die EKD eher einer frömmelnden ökosozialistischen NGO, die die bibeltreuen Gläubigen in der Nachfolge Christi aus ihren "Tempeln" vertreibt, sodass sie zu einem Exodus in die Freikirchen gezwungen werden. Dort gibt es dann oft noch einen lebendigen Glauben, der freier ist von den modischen Zwängen des jeweiligen Zeitgeistes, von den öffentlichen Zwängen der politischen Correctness und von den Zwängen des Engagements für die angeblich "einzig richtigen" linken politischen Parteien.

 

In den Freikirchen stößt man dann jedoch bisweilen auf die anderen Probleme eines modernen Bibelfundamentalismus, einer unreflektierten und nicht selten sentimentalen Spiritualität, die entweder stark biblisch oder charismatisch oder pfingstlerisch geprägt ist, die aber auch spirituelle Erwartungen, soziale Zwänge und morali-sche Verkrustungen mit sich bringt, die nicht seelisch befreien, sondern kollektivistisch einbinden. Eine psychologisch und theologisch reflektierte seelisch gesunde christliche Spiritualität scheint also genau das zu sein, was die evangelischen Akademien, die Landeskirchen und die universitären Fakultäten und Seminare brauchen. Warum also nicht von den katholischen Freunden lernen?

 

In der Metaphysik und Religionsphilosophie sprechen wir über Gott und denken wir über Gott nach. Wir machen dadurch Gott zum Gegenstand unseres Bewusstseins und Geistes. Dabei entsteht die Gefahr der Verdinglichung,

die wir auch aus unseren Beziehungen zu anderen Menschen kennen. Wenn wir einen anderen lebendigen Menschen wie einen leblosen Gegenstand anstarren anstatt im in die Augen zu sehen, während er uns ebenfalls in die Augen schaut, sodass daraus ein gegenseitiges und wechselseitiges Anschauen von Ich und Du, von Dir und Mir wird, dann behandeln wir einen anderen Menschen wie ein bloßes Ding. 

 

Aber wenn wir wie in den verschiedenen Spielarten christlichen Spiritualität wie in der Andacht oder im Gebet mit Gott sprechen, dann behandeln wir Gott wie eine Person, die antworten kann. Aus Gott wird ein "absolutes Du",  wie das Martin Buber genannt hat, um es vom menschlichen Du des Mitmenschen zu unterscheiden. Gott als eine Person kann und jedoch nicht nur auf unsere Bitten antworten, sondern uns auch Fragen stellen, an unsere eigenen Fähgkeiten appellieren, in uns Sehnsüchte und Wünsche wecken und vieles andere mehr, was ein gutherziger Vater und eine liebe-volle Mutter auch können.