Dogmatik oder Glaubenslehre

 

 

Was ist Dogmatik?

 

Dogmatik hat spätestens seit der Religionskritik des 19. und 20. Jahrhunderts (Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud, u.a.) in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf bekommen. Aber das kommt von mangelnden Kenntnissen und massiven Vorurteilen. Denn zumindest Feuerbach, Marx und Freud waren selbst extreme Dogmatiker, nämlich dogmatische Materialisten, die ihren eigenen Materialismus selbst nie infrage gestellt und kritisch hinterfragt hatten. Sie gingen nämlich ganz dogmatisch davon aus, dass der Materialismus angeblich die einzig richtige Einstellung und die richtige Grundüberzeugung der Naturwissenschaftler ihrer Zeit wäre und auch bleiben müsste. Damit stellten sie sich vor allem gegen die Aristoteliker und Platoniker, Cartesianer und Leibnizianer, Kantianer und Hegelianer ihrer Zeit, die den Materialismus zurecht für eine schlechte Metaphysik und für eine dogmatische Weltanschauung gehalten hatten. Außerdem konnten ihnen in ihrem Materialismus zumindest die Logiker und Mathematiker sowie viele Historiker und Philologen sowie die Pioniere der wissenschaftlichen Soziologie und Psychologie kaum folgen.

 

Im umgangssprachlichen Sinne will zwar niemand dogmatisch oder ein Dogmatiker sein. Denn ein Mensch, den wir

in diesem Sinne zurecht als "dogmatisch" bezeichnen, verhält sich in der Regel nicht pragmatisch und kompromiss-bereit, sondern klammert sich halsstarrig an seine Prinzipien und ist nicht bereit angesichts von Meinungsverschieden-heiten oder Interessenkonflikten kluge, beiderseitig vorteilhafte und vernünftige Kompromisse zu machen. Im deutschen Politikbetrieb nennt man sie "Fundamentalisten" oder noch einfacher "Fundis" und unterscheidet sie von "Realisten" und "Pragmatikern".

 

Aber die umgangssprachliche Bedeutung von "dogmatisch", "Dogmatismus" und "Dogmatiker" hat nicht viel mit dem

Fach Dogmatik in der christlichen bzw. evangelischen Theologie zu tun. Denn "Dogmatik" nennen Theologen ganz einfach ihre jeweilige Glaubenslehre, die ihre jeweiligen gemeinschaftlichen Glaubenspraktiken mit Sinn erfüllen.

Das griechische Wort "dogma" bedeutet nämlich ganz einfach nur "Meinung" oder "Überzeugung" im Unterschied

zum griechischen Wort "episteme", das "Erkenntnis" oder "Wissen" bedeutet.

 

Wer jedoch etwas aufgrund klarer logischer, mathematischer oder unmittelbarer sinnlicher Evidenz sicher weiß, ist

nicht dogmatisch, auch wenn er an seiner festen Überzeugung festhält, da Wissen gut und hinreichend begründete wahre Meinung ist. Und unmittelbare evidentes Wisse ist nun einmal das sicherste Wissen, das es gibt. Wenn ich etwas sicher weiß, dann kann und sollte ich keine Kompromisse machen. Denn, sobald ich dann trotz meines Wissens dennoch Kompromisse machen wollte, müsste ich entweder mein Wissen verleugnen und damit mich selbst verleugnen, oder ich müsste zu lügen anfangen oder aber ich müsste irrational, kopflos und unvernünftig werden und mich wie ein Idiot verhalten. Denn, wenn ich etwas sicher weiß (wie z.B. dass ich jetzt Zahnschmerzen habe, oder dass ich hier und jetzt in meinem Sehfeld etwas Rotes wahrnehme, oder dass zwei plus zwei vier ergibt (2+2=4) oder dass ein jedes Ding mit sich identisch ist (x=x)), dann weiß ich auch, dass das jeweils wahr ist, und dann weiß ich auch, dass ich das jeweils weiß und nicht bloß meine, glaube, ahne, rate oder vermute. Ich bin dann dazu gelangt, zu wissen, dass ich etwas weiß. Ein höheres und besseres Wissen gibt es nicht.

 

Wissen impliziert Wahrheit

 

Wo etwas wirklich sicher erkannt und gewußt wird, haben wir es mit Wahrheit zu tun. Wo wir es mit Wahrheit zu tun haben, da verschwinden Meinungsverschiedenheiten und hören berechtigte Zweifel von selbst auf. Die Erkenntnis der Wahrheit in diesem Sinne ist zwar das Ziel und der Zweck aller Realwissenschaften, nicht nur der Naturwissenschaften, sondern auch der Sozialwissenschaften, der Kulturwissenschaften, der Geisteswissenschaften und der Historischen Wissenschaften. Aber Wahrheit in diesem Sinne ist kein sicherer Besitz, sondern ein Ziel, dem sich Wissenschaftler stetig und gewissenhaft annähern sollten. Gleichwohl gibt es für alle Realwissenschaften, Lehrbücher und Enzyklopädien, in denen das bisherige, weitgehend gesicherte Wissen einer Epoche gesammelt und festgehalten wird, um es für jede Generation von Studierenden vermittelbar und für Interessierte zugänglich zu machen.

 

Da die christliche bzw. evangelische Theologie eine Verbindung aus verschiedenen Arten von Wissenschaften ist,

und da sie alle diese verschiedenen Arten von Wissenschaften angeht und berührt, liegt sie quer zu dieser heuristischen Einteilung der Wissenschaften. Sie ist ähnlich wie die Philosophie eine ganzheitliche Wissenschaft. Aber anders als

die Philosophie geht sie in erster Linie von der Bibel (AT & NT) als einer überlieferten Sammlung alter Schriften aus,

die die Zeugnisse der Vorgeschichte, der Entstehung und der Grundüberzeugungen des christlichen Glaubens enthält.

 

Grundlagen der Wissenschaften

 

Ein grundsätzliches Problem aller Realwisseschaften und also auch der christlichen bzw. evangelischen Theologie

ist daher, dass ihre minimalen Grundlagen und also auch der Kernbestand des christlichen Glaubens nun einmal kein sicheres Wissen im Sinne klarer logischer oder unmittelbarer sinnlicher Evidenz sein kann. Alle Realwissenschaften müssen von bestimmten Grundannahmen oder Glaubenssätzen ausgehen, die kein absolut sicheres Wissen im Sinne klarer logischer oder unmittelbarer sinnlicher Evidenz sind. Auch die christliche bzw. evangelische Theologie muss

das tun, aber das ist weder ein Mangel noch ein Makel, sondern eine praktische Normalität, die sie mit vielen anderen Wissenschaften teilt.

 

Alle Wissenschaften gehen nämlich von irgendwelchen ersten Annahmen und Grundüberzeugungen über den jeweiligen Gegenstandsbereich und die Art von Gegenständen aus, die sie erforschen. Dann gehen sie weiterhin von ersten Annahmen und Grundüberzeugungen über den jeweiligen Methoden aus, die erfahrungsgemäß am besten geeignet sind, die Art von Gegenstände in ihrem jeweiligen Gegenstandsbereich zu erforschen. Ohne solche ersten Annahmen und Grundüberzeugungen kann keine Wissenschaft als Praxis in Gang kommen, d.h. können Wissen-schaftler gar nicht tun, was sie von Berufs wegen gewöhnlich tun.

 

So geht selbst die exakte Naturwissenschaft der Physik von bestimmten Hypothesen und Grundüberzeugungen

aus, wie z.B. dass es ein raumzeitlich ausgedehntes Universum gibt, das zumindest aus Materie und Energie, Teilchen und Wellen, elektromagnetischen Feldern (eventuell auch Informationen) und verschiedenen Grundkräften wie der Schwerkraft besteht, das durch einige Naturgesetze zusammengehalten wird und das auf eine erstaunliche Weise sehr fein aufeinander abgestimmt zu sein scheint. Diese Hypothesen und Grundüberzeugungen gehen jedoch weit über unsere klare logische und unmittelbare sinnliche Evidenz hinaus. Sie sind daher kein sicheres Wissen, sondern für ihr Fachgebiet notwendige und unvermeidbare Hypothesen und Grundüberzeugungen. Da sie kein ganz sicheres Wissen sind, können sie grundsätzlich aufgrund neuerer Forschungen, Experimente und Berechnungen zumindest teilweise revidiert und korrigiert werden, wie das vor allem im 20. Jahrhundert geschehen ist.

 

In diesem Sinne vertreten natürlich auch Naturwissenschaftler und Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Politiker,

Ärzte und Psychotherapeuten zumindest an den Fronten neuerer Forschungen gewisse Meinungen und Überzeu-gungen, die weit über das bereits einigermaßen gesicherte Vermutungswissen hinausgehen und keine beweisbaren Grundvoraussetzungen ihres Fachgebietes darstellen. Die populäre Vorstellung, dass die modernen Wissenschaften

nur auf bewiesenen oder zumindest beweisbaren Erkenntnissen oder auf empirisch gesichertem Wissen basieren,

ist ein ziemlich weit verbreitetes Vorurteil, das nur von einer fehlenden Kenntnis wissenschaftlicher Praxis zeugt.

 

Dogmatik als Glaubenslehre

 

Eine Dogmatik oder Glaubenslehre enthält also gewisse Glaubensinhalte oder Glaubensüberzeugungen, die

seit vielen Jahrhunderten und in der Regel etwa seit den ersten drei Jahrhunderten nach Christus zum kirchlich und historisch anerkannten Kernbestand des christlichen Glaubens gehören. Diese  Glaubensinhalte oder Glaubens-überzeugungen gehörten also schon sehr früh zur Identität der Christen und Christinnen und unterscheiden sie

bis heute anhand ihrer Glaubensüberzeugungen einerseits von anderen Monotheisten wie von den ihnen nahe stehenden Juden und Muslimen, Parsen und Sikhs und andererseits von den letzten, immer noch existierenden

Polytheisten, nämlich den Hindus, oder von den bereits ausgestorbenen Polytheisten der Antike, wie den Ägyptern,

Griechen und Römern oder wie den alten Germanen, Kelten und Goten.

 

Die christliche Dogmatik hat zumindest für die evangelisch-christlichen Kirchen also eine ähnliche Identität stiftende und Orientierung gebende Funktion wie eine Verfassung in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Aber eine Verfassung enthält im Wesentlich ethische und rechtliche Ideale und Prinzipien, Normen und Werte. Die christliche Dogmatik bezieht sich über Ethisches und Rechtliches hinaus auch auf authentische Glaubenserfahrungen und auf zuverlässige Zeugenberichte über die historischen Ereignisse und wunderbaren Geschehnisse rund um die Person

Jesu von Nazareth.

 

Diese frühen Glaubenserfahrungen und Glaubenszeugnisse führten in den ersten beiden Jahrhunderten zur Entstehung einer zunächst innerjüdischen Reformbewegung, aus der dann die neue Glaubensweise der Christen entstanden ist. Daher war die sich allmählich heraus kristallisierende christliche Dogmatik von Anfang an weder frei

von theologischen Kontroversen über ihre ursprünglichen Quellen noch frei von verschiedenen Interpretationen der maßgeblich gewordenen biblischen Schriften und der kirchlichen Praktiken und Konventionen, Institutionen und Traditionen. Vielmehr diskutieren gelehrte Theologen und gebildete Laien praktisch von Anfang an über alle praxis-relevanten dogmatischen Themen und Probleme ihrer kirchlichen Überlieferung und ihrer jeweiligen kirchlichen

Gegenwart, um zu klären, wie sie am besten zu verstehen und zu interpretieren sind sowie angesichts von wichtigen Zweifeln zu begründen oder gegen Angriffe von Außenstehenden und Gegnern zu verteidigen sind.

 

Dogmatik als Teilgebiet der christlichen bzw. evangelischen Theologie

 

In diesem Sinne ist die christliche Dogmatik als Teilgebiet der christlichen bzw. evangelischen Theologie zumindest ebenso gut eine seriöse Wissenschaft wie die verschiedenen Philologien, wie die verschiedenen Kulturwissenschaften oder wie die Geschichtswissenschaft seriöse, methodisch vorgehende Wissenschaften sind. Aber sie bezieht sich anders als diese Wissenschaften nicht nur auf von Menschen verfasste Schriften, auf kulturelle Praktiken und auf historische Ereignisse und Prozesse, sondern auch noch auf menschliche Glaubensüberzeugungen und Glaubenserfahrungen von ethischen Idealen, Prinzipien, Normen und Werten sowie von etwas Heiligem und Transzendenten, das nur erahnt werden kann, da es sich einer direkten oder wiederholbaren intersubjektiven Erfahrung entzieht.

 

Theologische Kontroversen gehören in der christliche Dogmatik ebenso zum alltäglichen Kerngeschäft wie in der Ethik, Hermeneutik, in der Exegese des AT und NT oder in der Kirchengeschichte als den wichtigsten Teilgebieten der christlichen bzw. evangelischen Theologie. Aber anders als in der philosophischen Ethik oder in der philosophischen

und juristischen Hermeneutik, spielen die biblischen Schriften des AT und NT eine zentrale, fundamentale und unver-zichtbare Rolle als Bezugspunkt, als Quelle und als Berufungsinstanz. Schon Martin Luther hatte sich in Worms in seiner Verteidigungsrede auf sein Gewissen, die Bibel und die Vernunft berufen und gesagt, dass er seine neuen Thesen

nur dann widerrufen werde, wenn man ihm nachweist, dass er sich in seiner Auslegung der Schrift oder in der Berufung auf die allgemeine Vernunft geirrt habe.

 

Der schlechte Ruf der falsch verstandenen Dogmatik stammt jedoch nicht nur aus der Außenperspektive und nicht nur aus der geschichtlichen Erfahrung mit der kirchlichen Hierarchie der Römisch-Katholischen Kirche, in der die kirchliche Lehre durch eine strenge Kirchendisziplin und durch strafende Ämter geschützt wurde. Auch in den frühen Kirchen der Reformation wurden Zweifel lange unterdrückt und verdrängt und wurden Abweichler, Dissidenten und Häretiker, wie z.B. die Wiedertäufer, die Antitrinitarier und die Schwärmer nicht selten wie in der Antike und wie im Alten Testament erzählt körperlich gezüchtigt, verbannt und verfolgt oder gar mit dem Tod bestraft.

 

Glaubensstreitigkeiten, Kirchenkämpfe und Konfessionskriege

 

So wie die Reformatoren in einem Kirchenkampf gegen die katholische Kirche verstrickt waren, der sie doch zuvor selbst angehört hatten, so stritten sie auch nach ihrer Abspaltung sofort untereinander um den besten und richtigen Weg ihrer neuen Glaubensweise. Die Glaubensstreitigkeiten, Kirchenkämpfe und Konfessionskriege wurden auf eine heute kaum noch nachvollziehbare Weise mit einer unerbittlichen Härte und mit einer fanatischen Bereitschaft

zur Gewaltanwendung ausgefochten.

 

Außerdem galt auch nach der Reformation bis ins 17. Jahrhundert hinein das religionspolitische Prinzip Cuius regio, cuius religio, demzufolge die Untertanen eines Landesfürsten auch dessen Religion oder Konfession annehmen

mussten. Das galt selbst dann, wenn ein Landesfürst und sein Fürstenhaus seine Konfession wechselte, also etwa

zuvor katholisch war und dann protestantisch, also entweder lutherisch oder reformiert wurde. Dieses religions-politische Prinzip wurde erst im 17. Jahrhundert der sog. Frühaufklärung abgeschafft, nachdem Baruch de Spinoza in den toleranteren Niederlanden und dann auch andere politische Philosophen in ganz Europa die absolute Gültigkeit

des jüdischen Tanach und der christlichen Bibel infrage gestellt hatten und die bürgerliche Freiheit der eigenen

Wahl der Religion oder Konfession und andere Toleranzbestimmungen für sich und alle Bürger gefordert hatten.

 

Die tiefe historische Erinnerung an die Glaubensstreitigkeiten, Kirchenkämpfe und Konfessionskriege im Zeitalter

der Reformation prägt seit dem 18. und 19. Jahrhundert nicht nur den immer stärker werdenden Willen zur religiösen Toleranz in Europa, sondern auch den schlechten, aber von Vorurteilen und Klischees beladenen Ruf der kirchlichen Dogmatik überhaupt. Denn zum Glück wollen europäische Christen weder noch einmal in solche harten Auseinander-setzungen untereinander zurückfallen noch wollen sie noch einmal solche harten Auseinandersetzungen mit Juden

und Muslimen.

 

Der ökumenische Geist der religiösen Toleranz und der friedlichen Dialoge

 

Der ökumenische Geist der religiösen Toleranz und der friedlichen Dialoge bedeutet jedoch weder die vollständige Leugnung von Differenzen in den Glaubensweisen und Glaubensüberzeugungen noch die völlige Verabschiedung von Wahrheitsfragen überhaupt. Auch und gerade Juden und Muslime wollen das nicht und nicht nur Christen, sondern auch Muslime wissen, dass das der Lehre Jesu zutiefst widerspricht. Denn auch der Koran enthält einige Lehren Jesu, auch wenn sie ihn "nur" für einen bedeutenden Propheten und für einen eminent wichtigen Vorläufer ihres eigenen, abschließenden Propheten Mohammed halten.

 

Nur gegnerische Atheisten und außenstehende Skeptiker meinen, dass eine gänzliche Verleugnung seiner über-lieferten Glaubensweisen und Glaubensüberzeugungen und die pragmatische Aufgabe von Wahrheitsfragen über-haupt der Preis sei, den man für religiöse Toleranz und für einen dauerhaften und stabilen Frieden unter den Religionen und Konfessionen zu zahlen habe. Weder Juden noch Christen noch Muslimen noch Parsen noch andere Gläubige halten das für notwendig und richtig. Ganz im Gegenteil, setzen sich gegenwärtig doch gerade die überzeugten Repräsentanten der großen Weltreligionen und Konfessionen am meisten gemeinsam für religiöse Toleranz und

für Frieden unter den Völkern ein, während Atheisten und Skeptiker im Namen politischer Ideologien und völkerrecht-licher Prinzipien sowie im Kampf um ökonomische und politische Interessen blutige Kriege führen. Natürlich wird dabei oft vorgetäuscht, dass es ihnen gar nicht um ihre eigenen Interessen, sondern um hehre "Werte" wie Frieden und Gerechtigkeit, Demokratie und Menschenrechte ginge. Wo Kriege geführt werden, wurden schon immer höhere Ziele vorgetäuscht.

 

Aufklärung und religiöse Toleranz, säkulare Rechtsstaatlichkeit und religiöse Autonomie der Bürger

 

Die politischen Konsequenzen der europäischen Aufklärung waren politische Gewaltenteilung, religiöse Toleranz, säkulare Rechtsstaatlichkeit, medizinisch-psychiatrische Forensik und das Grundrecht auf religiöse Autonomie der Bürger. Wie sehr diese Konsequenzen der Aufklärung zumindest in anderen Regionen der Erde immer noch ganz

fehlen oder heftig umstritten sind, können wir in den meisten muslimisch dominierten arabischen Staaten, teilweise

in Brasilien und China, in Indien und Indonesien, in Nordkorea und Russland und selbst in den USA beobachten.

 

Da die Epoche der Aufklärung vor allem ein europäisches Phänomen gewesen ist, ist Europa ist in dieser Hinsicht

bis in unsere Gegenwart hinein eine religionsgeschichtliche und rechtspolitische Ausnahme und keine weltanschauliche und politische Normalität. Aber auch die europäische Aufklärung geht auf das weltweit einzigartige Amalgam aus Dialogen und Diskussionen zwischen jüdischen Rabbis, christlichen Theologen, griechisch geprägten Philosophen und römisch geprägten Rechtslehrern zurück. Aufgrund dieser weltgeschichtlich einmaligen Entwicklung erleben wir gegenwärtig etwa seit Beginn des 21. Jahrhunderts heftige politische Angriffe von außen und innere ideologische Infragestellungen dieser politischen Konsequenzen der europäischen Aufklärung, die wir für lange Zeit für einen unanfechtbaren Fortschritt und für unsere kaum anfechtbaren überlieferten Errungenschaften gehalten haben. 

 

Persönliche Glaubensgeschichte und kirchliche Glaubensbekenntnisse

 

Die christlichen Kirchen haben aufgrund innerer Missstände und wegen der Aufdeckung früherer Verfehlungen

einen bisher unbekannten Vertrauensverlust hinnehmen müssen, der zu einer bedenklichen Anzahl von Kirchen-austritten und zu einem großen Autoritätsverlust geführt hat. Zugleich stoßen in diese neuen religiösen Vakuen nicht nur eine bisher unerhörte Anzahl von muslimischen Einwanderern hinein, sodass sich die religionspolitische Situation in Deutschland und Europa pluralisiert und zugunsten des Islam und zum Leidwesen des Judentums und des Christen-tums verändert. Welche politische Folgen das langfristig haben wird, ist noch nicht abzusehen, obwohl die massiven gegenwärtigen Integrationsprobleme kein Grund zur Hoffnung darstellen.

 

Persönliche Glaubensgeschichte und kirchliche Glaubensbekenntnisse können weiter auseinanderfallen, sodass eine baldige Regeneration oder gar eine nachhaltige Renaissance des christlichen Glaubens in in Deutschland und Europa unwahrscheinlich zu werden scheint. Der Jahrzehnte lange Missbrauch der historisch-kritischen Bibelexegese und die sog. liberale Theologie seit den 1970-er Jahren haben die beiden Amtskirchen von innen heraus ausgehölt und das Grundvertrauen auf das Evangelium tief erschüttert und die weitgehende Kenntnis und den Kernbestand des christlichen Glaubens weitgehend zerstört.

 

Selbstverständlich war die persönliche Glaubensgeschichte aller Christen von der Kindheit und Jugend an über das frühe, mittlere und späte Erwachsenenalter bis hin zu den höheren Altersstufen noch nie nur ein bloßer Widerhall der kirchlichen Glaubensbekenntnisse. Selbst damals, als die kirchlichen Glaubensbekenntnisse noch im Konfirmanden-unterricht gelehrt oder gar auswendig gelernt wurden, gab es eine Unterströmung des Herzens, die durch diese Lehre nur überdeckt wurde, und anstelle von Authentizität und Ehrlichkeit im Umgang mit der Differenz zwischen dem sich entwickelnden persönlichen Glauben und den überlieferten kirchlichen Glaubensbekenntnissen nur allzu oft zu Heuchelei, zu Selbsttäuschungen und zu inneren seelisch-geistigen Konflikten führten.

 

Die Wiederkehr alter Ideologien und die Geburt neuer Ideologien

 

In das religiöse Vakuum der angeschlagenen christlichen Kirchen stoßen außer dem sich welzweit ausbreitenden Islam auch noch drei alte Ideologien aus dem 19. Jahrhundert wieder, weil an die Leerstelle das verlorenen Gottvertrauens wie schon einmal eine Vergötzung weltlicher Mächte tritt, wie (1.) der Naturalismus als einer falschen Verabsolutierung der (irdischen) Natur, derzufolge entweder alles Natur sei oder auf sie zurückgeführt werden könne und derzufolge alles Natürliche gut sei, alles Künstliche hingegen schlecht; (2.) der Nationalismus und der Sozialismus, als zwei Formen einer falschen Verabsolutierung des Staates, demzufolge die Menschen nicht sich selbst, ihren Fähigkeiten zur Freiheit und zur Verantwortung vertrauen könnten, weil der Nationalstaat oder der Sozialstaat besser für sie, für ihr Leben, für ihre Gesundheit und für ihre Sicherheit sorgen könnten, und (3.) der Liberalismus als die falsche Verabsolutierung einer grenzenlosen und verantwortungslosen Freiheit und des Marktes, der angeblich das kulturelle, soziale und politische Zusammenleben am Besten regeln könne.

 

Aber auch noch drei andere neue  Ideologien breiten sich aus, stoßen in diese neuen religiösen Vakuen hinein und schlagen die Menschen in ihren Bann:

 

Da ist zum einen (4.) die sog. Wokeness-Ideologie als eine narzisstische Verabsolutierung des einzelnen Menschen

im hyper-individualistischen Irrglauben an eine angeblich grenzenlose Fähigkeit zu seiner freien Selbstgestaltung bis

hin zur Wahl des eigenen Geschlechtes, die mit einer arroganten und besserwisserischen Geschichtsvergessenheitund

mit einem fanatischen und gnadenlosen Moralismus einhergeht.

 

Da ist zum anderen (5.) die technizistische Ideologie des digitalen Kapitalismus als ein naives und blindes Vertrauen

in die imperialen, nach Daten und Profit gierenden Großkonzerne des Silicon-Valley und als ein hemmungsloser und suchtartiger Konsum einer kaum zu bewältigenden Flut von Bildern, Fake-News, Filmen, Informationen, politischer Propaganda, martialischen Videospielen und seichter Unterhaltungsmusik, etc.

 

Da ist schließlich (6.) die technizistische Ideologie des Transhumanismus als einer Verabsolutierung der künstlichen Intelligenz in Netzwerken, Maschinen und Robotern als einer neuen, aber künstlichen Art intelligenter Wesen, die den natürlichen Menschen angeblich überlegen sein werden, die den natürlichen Menschen als Sklaven beherrschen werden und die daher eine neue Stufe in der bisherigen Evolution der Arten einleiten werden.

 

Fortsetzung folgt