Sünde und Gnade sind aneinander gebunden. ...
Wir könnten nicht einmal wissen, was Sünde ist,
hätten wir nicht schon etwas von der Einheit des Lebens
erfahren, die Gnade heißt.
Paul Tillich
Rechtfertigung, Gerechtigkeit und Gnade
Wann ist ein Mensch Gott recht?
Der Begriff „Rechtfertigung“ beschreibt das Zentrum des evangelischen Glaubens. Darum ist es gerade hier höchst wichtig, klar und verständlich zu reden. Doch leider gibt schon das Wort Anlass zu Missverständnissen. Denn unter einer „Rechtfertigung“ verstehen wir gewöhnlich den Versuch eines Menschen, kritische Stimmen zurückzuweisen und die eigene Unschuld zu beteuern. Und das ist es gerade nicht, was der evangelische Glaube mit „Rechtfertigung“ meint.
Dem Gläubigen geht es nicht darum, Recht zu haben, sondern recht zu sein – nämlich Gott recht zu sein. Und die große Frage ist, wie ein Mensch dahin kommt. Wie kann es geschehen, dass Gott, statt zu zürnen und zu verdammen, zu einem schuldbeladenen Menschen sagt: „Du gehörst zu mir, und ich meine es gut mit dir. Ich zähle dich zu meinen Freunden. Für dich ist ein Stuhl frei an meinem Tisch. Du bist in Ordnung. Du bist mir recht.“ In dieser Weise von Gott angenommen zu werden, ist wahrscheinlich der Wunsch aller Menschen. Wir wünschen uns, dass Gott ein positives Urteil über uns fällt. Aber wie kann es dazu kommen?
Die evangelische Antwort auf diese Frage ist nicht schmeichelhaft, aber sehr klar: Wenn Gott zu einem Menschen sagt „Du bist mir recht“, dann geschieht das nie, weil Gott diesem Menschen seine menschlichen Qualitäten oder Verdienste zu Gute hielte (davon haben wir einfach zu wenig), sondern es geschieht immer nur, weil Gott dem Menschen die Qualitäten und Verdienste Jesu Christi zu Gute hält. Der Grund für Gottes positives Urteil liegt nie im Menschen, sondern immer in Gott. Es ergibt sich aus seinem – und gerade nicht aus unserem Wesen. „Rechtfertigung“ meint daher einen positiven Richterspruch, einen Freispruch, der nicht aus der Unschuld des Angeklagten, sondern nur aus der Barm-herzigkeit des Richters zu erklären ist.
Heißt das dann aber, dass Gott „so tut als ob“? Handelt er unwahrhaftig, wenn er Sünder „gerecht“ nennt und wie „Gerechte“ behandelt? Nein. Denn man muss hier zwei Arten des Urteilens unterscheiden. Es gibt Urteile, durch die man feststellt, was etwas ist. Und es gibt Urteile, durch die etwas erst zu etwas wird. Im ersten Fall nimmt das Urteil Fakten zur Kenntnis. Und im zweiten Fall schafft das Urteil Fakten.
Am Beispiel der Vater-Sohn Beziehung kann man sich klar machen, wieso dieser Unterschied wichtig ist. Denn dass einer Vater ist und einer Sohn – das kann auf zweierlei Weise „festgestellt“ werden. Entweder durch einen Gentest. Oder durch eine Adoption. Der Gentest ist ein Urteil der erstge-nannten Art. Es ist ein Urteil, durch das man feststellt, was einer ist. Er ist das leibliche Kind seines Vaters, selbst wenn der Vater das nicht weiß oder es bestreitet. Denn die Kindschaft ist durch den Gentest nachweisbar. Wer das Test-ergebnis vorliegen hat und daraufhin urteilt „A ist der Sohn von B“, stellt nur ein Faktum fest. Es liegt in der Person des Sohnes selbst begründet, dass man ihn als solchen anerkennen muss. Jede einzelne seiner Zellen beweist es. Denn die Sohnschaft ist eine ihm innewohnende Qualität.
Ganz anders verhält es sich aber im Falle der Adoption. Wenn da ein Mann sagt „Ich will diesen Jungen an Kindesstatt annehmen, er soll von heute an mein Sohn sein“, dann ist das ein Urteil, das nicht ein bestehendes Faktum zur Kenntnis nimmt, sondern dieses Faktum erst schafft. Würde der Vater nicht seinen Willen zur Adoption erklären, so gäbe es keine Kindschaft. Denn in der Person des Sohnes ist nichts enthalten, woraus sich ein entsprechender Anspruch ableiten ließe. Das Sohn-Sein ist keine ihm innewohnende Qualität, sondern es wird ihm erst im Vorgang der Adoption zugesprochen. Die Kindschaft wird hier durch das positive Urteil des Vaters nicht bloß anerkannt, sondern allererst geschaffen.
Welcher Art ist nun das positive Urteil, das Gott über einen Christen fällt? Darauf kommt nun alles an! Wäre es ein Urteil der ersten Art, so liefe es darauf hinaus, dass Gott lediglich die in uns liegenden Qualitäten festzustellen hätte – und auch nichts anderes tun könnte, ohne „unwahrhaftig“ zu urteilen. Im besten Fall nähme er dann zur Kenntnis, dass ein Mensch ein gerechtes Leben führt. Er würde als vorgegebenes Faktum erkennen: „Das ist ein Gerechter“. Und er müsste daraufhin urteilen „Er soll mir recht sein. Ich anerkenne, dass er für den Himmel taugt.“ Der Grund der Erlösung läge dann weniger in Gott, als im Menschen selbst und müsste bloß zu Tage gefördert werden, wie der Gentest ein Kind-schaftsverhältnis zu Tage fördert.
Doch so verhält es sich nach dem Zeugnis des Neuen Testaments gerade nicht. Das positive Urteil Gottes über den Christen ist von der anderen Art. Es ist ein Urteil, das Fakten nicht feststellt, sondern Fakten erst schafft. Denn in der Person eines Sünders ist ja nichts enthalten, was Gott zu dem Urteil nötigte „Das ist ein Gerechter“. Ganz im Gegenteil! Darum gilt: Wie ein Adoptivsohn erst durch den Willen des Vaters zum Sohn wird, so wird der Christ erst durch das positive Urteil Gottes zu einem „Gerechten“. Das positive Verhältnis zwischen Gott und uns wird dabei nicht festgestellt, sondern durch das Urteil hergestellt.
Und der Grund dafür liegt in keiner Weise im Menschen. Sondern der Grund liegt einzig in Gott, der um Christi willen sagt: „Ihr, für die Christus gestorben ist, sollt mir recht sein“. Das nämlich ist Gottes barmherzige Art, an seinen gefalle-nen Geschöpfen festzuhalten. Er betrachtet ihre Schuld als getilgt, weil Christus ihre Strafe getragen hat, und lässt sie als rein und heilig gelten, als wären sie so rein und heilig wie Christus selbst. Als Christen werden sie von Gott in das positive Urteil mit eingeschlossen, dass er über Christus fällt. Und darum ist jeder echte Christ ein „Gerechter“. Er ist es aber nicht auf Grund seiner fortgeschrittenen Moralität, sondern ist es allein durch die Gerechtigkeit Christi, an der er teilhat und partizipiert.
Spätestens hier wird uns bewusst, dass es nicht nur zwei Arten von Urteilen, sondern auch zwei Arten von Gerechtigkeit gibt. Weltliche Gerechtigkeit ist eine Tugend, gemäß der man jedem gibt, was ihm zukommt und niemandem etwas schuldig bleibt. Geistliche Gerechtigkeit aber ist keine Charaktereigenschaft, sondern eine Beziehung, in der „gerecht“ ist, wer Gott recht ist (und sonst keiner). Nach weltlicher Gerechtigkeit, bekommt jeder, was er verdient. Nach geistlicher Gerechtigkeit bekommt der Sünder, was er braucht. Die beiden Arten von „Gerechtigkeit“ haben also nicht viel mehr gemeinsam, als den Namen! Die weltliche Gerechtigkeit ist eine Eigenschaft, die geistliche ist eine Beziehung. Die weltliche kann man erwerben, die geistliche muss man geschenkt bekommen. Die weltliche haben nur die Anständigen, die geistliche wird auch Verbrechern zugesagt. Die weltliche gehört uns selbst, die geistliche bleibt immer eine Leihgabe Christi. Die weltliche basiert auf guten Werken, die geistliche basiert auf dem Glauben. Die weltliche gilt etwas vor der Welt, die geistliche gilt etwas vor Gott. Die weltliche kommt aus dem Gesetz, die geistliche aus dem Evangelium.
Auf welche aber kommt es an? Welche ist wichtiger? Nach welcher wollen wir streben? Mit welcher gedenken wir, vor Gott zu treten und vor ihm zu bestehen? Eigentlich dürfte das keine Frage mehr sein. Denn unsere selbstgestrickte weltliche Gerechtigkeit – unser kleines bisschen Disziplin und Moralität – bleibt allemal ein löchriges Gewand: Wollten wir uns dahinein hüllen, so guckte immer noch aus tausend Löchern der nackte Sünder hervor. Die geistliche Gerechtigkeit dagegen, die Christus uns erworben hat und die er uns leiht, ist ein dicker, warmer Mantel, der die Blöße des Sünders vollständig zu bedecken vermag.
Wie also wäre es ihnen lieber, vor Gott zu treten: Im Netzhemd ihrer eigenen Tugend, oder im warmen Mantel der Gnade Christi? Ich zumindest weiß, welche Art von Gerechtigkeit mir lieber ist …
Pfarrer Dr. Thomas Gerlach
https://www.evangelischer-glaube.de/der-heilige-geist/81-rechtfertigung-gerechtigkeit-und-gnade/
Shit happens!
And when it happens, it is really shit!
Yes, shit is really shit!
Suche nach der Gnade in einer gnadenlosen Welt
An diesem Reformationstag wird viel Erbauliches gepredigt über Martin Luther. Trotzdem klingen manche Reden von Pfarrern und Bischöfen flach - weil sie alles Grausame aus dem Nachdenken über Gott eliminieren.
Matthias Drobinski - SZ - 31. Oktober 2017
Der Theologe und Lyriker Christian Lehnert erzählt, wie er einmal in einem ostdeutschen Dorf über die Liebe und Nähe des gnädigen Gottes predigte und sich danach eine alte Polin ihm in den Weg stellte: "Sie beteten um Gottes Nähe? Wissen Sie, was Sie da wollen?" Dann erzählte sie, wie sie 1939 in einer Ackerfurche lag und die deutschen Panzer kamen und sie um ihr Leben betete. Da spürte sie Gottes Nähe und lag geborgen im Schoß der Erde; die Panzer rollten vorbei. Tags darauf fand man alle Bewohner des Nachbarhofs, erschossen, mit der Zunge an den Küchentisch genagelt. Die eine gerettet, die anderen getötet.
Ist das Gottes Nähe und Gnade?
An diesem Reformationstag wird viel Erbauliches gepredigt über Martin Luther und seinen Thesenanschlag vor 500 Jahren in Wittenberg, über seinen Protest gegen die Behauptung, man könne das Heil und das Paradies mit Geld erwerben, über seine Erkenntnis, dass Gottes Gnade den Menschen erlöst und nicht seine Leistung; über Freiheit, Gewissen, Individualität. Das alles hat sein Recht. Und trotzdem klingt so manche Pfarrers- und auch Bischofsrede flach an diesem Tag: Du bist in Ordnung, wie du bist. Gott ist da und liebt dich, hat dich und die Welt in der Hand. Und geht es dir schlecht, ist er da.
Ist er das? Wo ist er, wenn in Syrien Assads Fassbomben Kinder zerreißen und angebliche Gotteskrieger Menschen köpfen? Wo ist er, wenn Menschen an Hunger und Krankheit krepieren? Ist er in den Folterkellern der Welt oder bei den ersaufenden Flüchtlingen im Mittelmeer, flüstert ihnen in ihrer verzweifelten Atemnot zu: Ist schon ok, wie du bist? Steht er den Alten bei, die einsam und vergessen im Neonlicht des Krankenhausflurs an ihr Ende kommen? Oder ist die Rede vom Beistand nicht mehr als eine billige Lüge?
Der Schriftsteller Günter Franzen hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom Tod seiner Frau berichtet, deren schmerzgeschüttelten Körper die Krebszellen fraßen. "Nun hat mein Auge dich gesehen", zitiert er den biblischen Hiob, dem Gott Schritt um Schritt das Liebste nahm, um ihn auf die Probe zu stellen, im Spiel mit dem Teufel. Im Moment des Abgrundes und der Verlassenheit wird er sichtbar, doch nichts verwandelt sich in Trost; die Verlassenheit und der Abgrund bleiben. Franzen schreibt, wie er mit dem Leitungspersonal der evangelischen Kirche hadert, den Softsellern des Trostes in allen Lebenslagen - nein, die Zeit heilt keine Wunden. Und dass ihn kein frommer Seelsorger zurück ins Leben bringt, sondern ein Therapeut, der nach dem Tod der Frau mit ihm lange schweigt und dann "verdammte Scheiße" sagt.
Verdammte Scheiße
Das ist tatsächlich viel näher an Martin Luther als manche Erbauungspredigt zum Reformationstag. Luthers Gottsuche ist zweifelnd und verzweifelt, sein Leben lang. Er ringt mit diesem Gott, der keine Antwort gibt, sich entzieht und dem Teufel Raum gibt, der sich ausgerechnet dann verbirgt, wenn eine Offenbarung in Macht und Herrlichkeit wirklich mal angebracht gewesen wäre. Er sieht sich ausgeliefert und gottverlassen: "Es muss ein jeglicher sich mit den Feinden, mit dem Teufel und Tode selbst einlegen und allein mit ihnen im Kampf liegen: Ich werde dann nicht bei dir sein noch du bei mir", schreibt er. Und seine Antwort, dass allein der Glaube den furchtbaren zum gnädigen Gott macht und dieses kleine Menschenleben doch einen Sinn und ein Ziel haben könnte, das ist ein Akt des durch nichts abgesicherten Vertrauens. Weniger als eine Bindfadenbreite trennt dieses durch keine innerweltliche Rationalität gerechtfertigte Vertrauen vom Nein zu Gott angesichts dieser unfassbaren Zumutung des Glaubens.
Fünf Jahrhunderte trennen Martin Luther und die Menschen des Jahres 2017; in Deutschland sind sie in einer Weise frei und gleich, dass der Reformator erschrecken würde; sie können Gene verändern und ins All fliegen und All und Welt aufs Smartphone in der Hosentasche holen. Der Faden, der sich von diesem fernen Mann des ausgehenden Mittelalters bis heute spannt, ist die Suche nach der Gnade in einer gnadenlosen Welt, nach einer Realität jenseits der Wahrneh-mung und des Augenscheins, nach der Letztbegründung der bedrohten, zerbrechlichen, gebrochenen Existenz. Es ist eine Suche, die Christen an die Grenzen ihres Glaubens führen muss, angesichts eines schweigenden und verborgenen Gottes, der aller Lebenshilfeliteratur spottet. Das erklärt die Angst vieler Theologen, evangelisch wie katholisch, von dieser existenziellen Gottessuche entlang der Abgründe zu reden. Sie gefährdet alle Sicherheiten, sie verbietet billigen Trost, sie stößt alle vor den Kopf, die Glaubenssicherheit wünschen.
Ein Gott, der keine Antwort hat, außer: verdammte Scheiße
Martin Luthers großartige Antwort war: Der Christengott ist kein Gott des innerweltlichen Triumphes, des Himmel-reiches auf Erden, kein "Spiritual Leader" fürs angenehmere Leben. Der gnädige Gott ist für ihn der gekreuzigte, leidende Gott, grausamstmöglich hingerichtet und erniedrigt, aller Menschenwürde beraubt. Es ist der Gott an der Seite der Krepierenden, Ertrinkenden, Krebszerfressenen und Bombenzerfetzten, der keine menschenverständliche Antwort hat, außer vielleicht: verdammte Scheiße. Es gibt gute Gründe, warum die evangelische Kirche den Karfreitag, den Kreuzestag, für den höchsten Feiertag hält. Und zu den schlechtesten Forderungen zeitgenössischer Theologie gehört es, sich von dieser Kreuzesgeschichte zu verabschieden, weil sie so grausam ist und vielleicht Kinder und andere zartbesaitete Gemüter erschrecken könnte. Wer das Erschreckende und Beunruhigende aus dem Nachdenken über Gott herausfiltert, macht es flach und banal.
Wann zeigt sich deine Gnade, gnädiger Gott? In allen Momenten der Menschlichkeit und der verzweifelten Liebe, dem unverhofften Guten; in der Hoffnung gegen alle Wahrscheinlichkeit, dem Vertrauen auf den schwankenden Boden, dass Gott auch in einer Welt voller Teufel "ein' feste Burg ist", wie es in dem Kirchenlied von Martin Luther heißt. Auch das zieht sich durch die Geschichte bis heute: Es gibt diese unglaublichen Momente der Gottesahnung und der Paradies-musik, es gibt sie auch dort, wo jede Menschlichkeit gemordet scheint. Und keine Aufklärung dieser Welt hat sie bislang wegrationalisieren können. Nur kann sie auch niemand herstellen oder herbeipredigen, kein Pfarrer oder Bischof, nicht zu Weihnachten oder am Reformationstag. Die letzten Worte, die Martin Luther am 16. Februar 1546 kurz vor seinem Tod aufschrieb lauten: "Wir sind Bettler, das ist wahr." Auch das gilt heute wie vor 500 Jahren.
Wichtige Fragen zum christlichen Glauben, Zweifeln und Denken über die Gnade
Rembrandt, Paulus im Gefängnis (1627)