Auch, falls es keinen Gott gibt, ist nicht alles erlaubt.
Atheisten behaupten gerne, dass Menschen, die an Gott glauben, sich nur etwas vormachen und dass ihr Glaube an Gott einem kindlichen Wunschdenken entspringen würde, das sie in ihrer Kindheit beigebracht bekommen hätten, da ihre Eltern sie damit zum Gehorsam erziehen wollten. Aber wieso eigentlich sollten sich erwachsene Menschen denn überhaupt wünschen, dass es einen Gott gibt, wenn ein Leben im Glauben an Gott, nach den zehn Geboten und nach der Goldenen Regel, den Verzicht auf Racheakte und Hassverbrechen, die Vermeidung von Geiz und Gier, Neid und Eifersucht, etc. das Leben doch eher schwerer als leichter macht?
Ist es nicht viel, mehr gerade umgekehrt? Nämlich so, dass Atheisten sich wünschen, dass es keinen Gott gibt, vor allem keinen Gott, der Moses die zehn Gebote als Regeln für ein lebensdienliches Leben offenbart hat, weil das Leben dann sehr viel leichter ist, weil man dann tun und lassen kann, was einem gerade einfällt und gefällt, und worauf man Lust hat, auch wenn es unmoralisch, ungerecht oder unfair oder gar grausam und böse ist? Es ist nämlich kein Zufall, dass britische Atheisten vor ein paar Jahren in ihrer öffenlichen Kampagne gegen Religionen, ihre Behauptung, dass es wahr-scheinlich gar keinen Gott gibt, mit der Empfehlung verbunden haben, lieber sein Leben zu genießen.
Diese atheistische Verknüpfung von Glaube mit ethischen Orientierungen und moralischen Forderungen einerseits
und von Unglaube mit hedonistischem (und konsumistischen) Lebensgenuss andererseits spricht sehr viel mehr für die Tatsache, dass der Atheismus bzw. der Unglaube auf Wunschdenken basiert als der Glaube an Gott oder der Theismus. Dazu braucht man gar nicht wie noch im Mittelalter und zumindest bis zur Reformation oder wie auch heute noch in einigen bibelfundamentalistischen Kreisen den Menschen mit dem Jüngsten Gericht oder mit der Hölle zu drohen. Daher hatten die britischen Atheisten mit ihrer Kampagne gegen den Glauben an Gott und für eine hedonistische Lebensweise nicht recht. Sie kämpften gegen ein weitgehend veraltetes und überhohltes Gottesbild an.
Zum Verhältnis der christlichen zur philosophischen Ethik
Der protestantische Theologe Emil Brunner (1889-1966) war auch schon wie Martin Luther der Auffassung, dass der natürliche Mensch von Natur aus gegen Gott rebelliert. Er will nicht, dass es Gott gibt. Die Menschen wollen von Natur aus lieber selbst wie Gott sein. Denn sie wollen nicht nur wissen, was gut und was böse ist, wie im Buch Genesis erzählt wird, sondern sie wollen selbst bestimmen, was ethisch richtig und was ethisch falsch ist. Sie glauben nämlich meistens gar nicht, dass es etwas gibt, das in ethischer Hinsicht immer richtig oder immer falsch ist.
Denn dann können sie immer und überall tun und lassen, wonach ihnen gerade zumute ist. Die Menschen wollen in diesem Sinne eigentlich am liebsten absolut frei von allen sittlichen Vorschriften, von Geboten und Verboten sein. Bei dieser absoluten Freiheit handelt es sich jedoch um Willkürfreiheit, also um eine grenzenlose Freiheit ohne irgendeinen Verzicht leisten zu müssen oder ohne eine schwere Verantwortung übernehmen zu müssen. Vor allem wollen sie sich nicht an ihrem Lebensende vor einer höheren Instanz wie Gott für ihren Lebenswandel verantworten müssen.
Ethische und moralische Überzeugungen in unserer säkularen Moderne
Die meisten Menschen bestreiten normalerweise nicht, dass es in jeder Situation eine vergleichsweise beste und kluge Entscheidung gibt, die in strategischer oder pragmatischer Hinsicht allen anderen Optionen vorzuziehen ist, aber sie bestreiten zumindest in unserer säkularen Moderne, dass es in jeder ethischen Konfliktsituation eine vergleichsweise beste Entscheidung gibt, die in ethischer, moralischer und rechtlicher Hinsicht anderen Optionen vorzuziehen ist.
Vor allem bestreiten viele Menschen in unserer säkularen Moderne, dass es gewisse Handlungsweisen gibt, die unter allen Umständen verwerflich und moralisch verboten sind, wie z.B. Mord und Totschlag aus eigennützigen Motiven
oder die Folter von unschuldigen Menschen oder eine grundlose Tierquälerei aus bloßer Freude am Quälen oder die blindwütige und grundlose Zerstörung gesunder und schöner Pflanzen oder seltener und wertvoller sowie einmaliger und unersetzbarer Kunstwerke (d.h. Originale und keine Kopien oder industrielle Reproduktionen von Kunstwerken).
Ob Folter in manchen Situationen moralisch zulässig ist, wird manchmal davon abhängig gemacht, wozu sie dient und was man mit ihr erreichen kann bzw. welche Konsequenzen es hätte, sie nicht als Mittel für bestimmte Zwecke einzu-setzen, wie z.B. das Leben von unschuldigen Menschen zu retten. Ob es jedoch in ethischer Hinsicht erlaubt ist, grund-los Pflanzen oder Kunstwerke zu zerstören, wird sehr oft nur davon abhängig gemacht, wem sie gehören. Damit wird
es zu einer Frage, ob es sich um Privatsachen handelt und damit zu einer Frage der Rechtmäßigkeit von Privateigentum.
Nur bei Mord und Totschlag aus eigennützigen Motiven und bei grundloser Tierquälerei aus bloßer Freude am Quälen sind sich vermutlich die meisten Menschen auch in unserer säkularen Moderne immer noch einig, dass diese beiden Handlungsweisen unter allen Umständen ethisch verwerflich sind. Das heißt nicht, dass es nicht Menschen gibt, die auch da alle Hemmungen verloren haben, so etwas zu tun und es zumindest sich selbst und ihrer Gruppe erlauben,
sei es auch aufgrund von psychopathologischen, kriminellen, fanatisch-politischen oder fanatisch-religiösen Motiven.
Viele Menschen in unserer säkularen Moderne, glauben jedoch nicht mehr, dass es noch viel mehr gibt, dass unter allen Umständen in ethischer Hinsicht prima facie falsch ist. Ob Ehebruch erlaubt ist, wird dann von schönen Gefühlen der Verliebtheit, von erotischen und sexuellen Bedürnissen sowie von der momentanen Qualität seiner Ehe und Beziehung abhängig gemacht. Ob Abtreibung erlaubt ist, hängt nur noch von der beruflichen und privaten Lebensplanung ab. Lügen tun angeblich alle Menschen sowieso mehrmals am Tag, behaupten viele Psychologen und Psychotherapeuten.
Auch Betrug und gewisse Tricksereien gehört für viele Menschen zum täglichen Beruf und Geschäftsleben dazu. Dieb-stahl und Steuerbetrug sind für viele Leute leider nur noch ein Kavaliersdelikt, bei dem man sich nur nicht erwischen lassen sollte.
Situationsethik als Ausweg?
Nicht nur einige Philosophen, sondern auch bestimmte Theologen nennen das "Situationsethik" und meinen damit, dass es keine allgmeingültigen und situationsunabhängigen ethischen Ideale und Prinzipien, Werte und Normen gibt, weil es immer und überall und für jeden Menschen nur auf die jeweiligen Umstände ankommt. Was in ethischer
Hinsicht richtig oder falsch ist, halten manche daher nicht nur für situationsabhängig, sondern sogar für relativ.
Dieser ethische Relativismus ist sicherlich unterschiedlich stark ausgeprägt und hängt in frühen Jahren noch von der Erziehung, von Vorbildern, vom Elternhaus und von der Peergroup Jugendlicher ab.
Sobald Jugendliche nach der Pubertät in Schule und Ausbildung, in einer Lehre oder im Studium, in Ehe und Familie, in Beruf und Gemeinde lernen, Verantwortung zu übernehmen, ändern sich ihre ethischen Ideale und Prinzipien, Werte und Normen und der ethische Relativismus und Subjektivismus, der meistens - falls er überhaupt aufkam - nur eine vorübergehende pubertäre Auflehnung gegen die Eltern und die Erwartungen und Anforderungen der Erwachsenen
in Schule und Ausbildung, in Lehre oder im Studium gewesen ist, geht über in erwachsenere und reifere Auffassungen und Überzeugungen. Aber gewisse Zweifel können bleiben und bestimmte Ausnahmen und Gewohnheiten können
sich je nach den ethischen Anforderungen und Konflikten im Berufsleben, in der Ehe und Familie sowie in der Nach-barschaft und Gemeinde ergeben.
Angesichts solcher situationsethischer Auffassungen und relativistischer Überzeugungen meinen einige Zeitgenossen, dass man auch nicht anhand von gesundem Menschenverstand und gewissen ethischen Prinzipien wie der Goldenen Regel oder Kants kategorischem Imperativ entscheiden könne, was im Allgemeinen und im Besonderen ethisch richtig oder falsch sei. Sobald der ursprüngliche und eher kindliche Glaube an das Gute im Menschen mit den Jahren aufgrund von Lebenserfahrung schwindet, werden einige zu Zweiflern und die Meisten fangen an, mit dem Strom der Mehrheit
in der Gesellschaft zu schwimmen, andere werden zu realistischen Zynikern und heulen mit den Wölfen.
Manche von denen, die ihre ethischen Ideale und Prinzipien nicht ganz aufgeben wollen und weiter glauben wollen, dass es möglich sei, ab und zu etwas Gutes zu tun und wenigstens Böses zu unterlassen und sich nicht auf schlechte Abwege einzulassen, nehmen Zuflucht zu einer Religion oder Konfession, denn die Wenigsten lassen sich tiefer und gründlicher auf eine philosophische Ethik mit ihren rationalen Überlegungen und komplizierten Begründungen ein. Sehr viel mehr Menschen suchen ihre ethische Orientierung in einer frei flottierenden Mystik mit gewissen Anleihen
aus östlichen Religionen, weil man hier nicht lange und gründlich rational nachdenken muss, sondern nur mystisch erleben und subjektiv fühlen darf, was für einen selbst richtig und gut ist und was für einen selbst aktuell "dran ist".
"Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt."
Dostojewskis Diktum "Falls es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt." ist nicht richtig. Dostojewski war offensichtlich nicht mit dem Faktum philosophischer Ethik vertraut, die ihre Geltung nicht aus einer göttlichen Offenbarung bezieht. Auch hatte er anscheinend noch nie darüber nachgedacht und sich bewusst gemacht, dass es verschiedenegibt, die teilweise verschiedene Ethiken lehren, obwohl sie alle geoffenbart sein sollen.
Es ist aber eine offensichtliche Tatsache, dass es selbst unter den Menschen ein und derselben Religion und Konfession verschiedene Gottesbilder gibt. Auch gibt es in den Philosophien und Weltanschauungen, Religionen und Konfessionen verschiedene ethische Lehren über das gute Leben, über richtige und gute Charaktere, über ethische Ideale und Prinzipien, Normen und Werte, über Handlungsweisen und Einstellungen, über Absichten und Motive, über Intuitionen und Entscheidungen, etc.
Dostojewski war offensichtlich nicht mit der Geschichte der europäischen Philosophie vertraut und kannte weder die bisherigen Ethiken aus der Antike, dem Mittelalter und der Neuzeit noch die Ethiken seiner drei Zeitgenossen Franz Brentano, Jeremy Bentham und John Stuart Mill.
Sokrates hat gegen die subjektivistischen und relativistischen Sophisten seiner Zeit die philosophi-sche Überzeugung vertreten, dass es in Menschen ein implizites sittliches Wissen gibt, das ihnen durch seine maieutische Kunst der dialek-tischen Befragung entlockt und durch seine geschickten Reformulierungen explizit gemacht werden kann.
Platon hat sich dieser philosophischen Überzeugung seines verehrten Lehrers angeschlossen und sie weiterhin gegen die Sophisten verteidigt. Dazu hat er ein philosophisch-literarisches Gesamtwerk in Dialogform verfasst, um der Nach-welt anhand seiner schriftlichen Zeugnisse zu zeigen, dass und warum Sokrates kein Sophist gewesen ist, sondern eine besondere maieutische und dialektische Kunst beherrschte, die sein echtes und überlegenes philosophisches Wissen unter Beweis stellt.
Beide, Sokrates und Platon waren der festen Überzeugung, dass keine äußere religiöse, soziale oder politische Autorität und noch nicht einmal die Götter selbst die Quelle dieses impliziten sittlichen Wissens sein können. Der Ursprung des impliziten sittlichen Wissens muss vielmehr im Menschen selbst liegen und genauer in den kognitiven und rationalen Fähigkeiten seiner Psyche verankert sein. Platon hat dann etwas spekulativ vermutet, dass dieses sittliche Wissen (wie
z. B, auch das geometrische Wissen) den Menschen angeboren sein müsste und dass es seinen Ursprung in einem früheren Leben ihrer unsterblichen Geistseele haben müsste.
Aristoteles hat diese platonische Auffassung vom Ursprung des impliziten sittlichen Wissens in einer angeblich un-sterblichen Geistseele dann jedoch abgelehnt, da es dafür keine hinreichende Evidenz in der allgemein zugänglichen Erfahrung gibt. Aristoteles war zwar damit einverstanden, dass es ein implizites sittliches Wissen gibt, aber er erkannte auch, dass es nicht nur eine Sache der Intelligenz und der Rationalität sein kann, sondern auch eine Sache der Motivation und des Willen sein muss. Denn es gibt das menschliche Phänomen der Willensschwäche (akrasia). Jemand kann wider sein besseres Wissens, dass es gut wäre, etwas Bestimmtes A zu tun und etwas Anderes B zu unterlassen, dann dennoch das schlechtere B tun. Die freiwillige und kluge Wahl des Besten unter dem Erreichbaren ist von inneren psychischen Dispositionen wie von notwendigem theoretischem und praktischem Wissen, von passenden Kognitionen, günstigen Emotionen und angemessenen Motivationen abhängig.
Acht Arten einer philosophischen Ethik
Überspringt man die christlichen Ethiken der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit, dann gehören Immanuel Kant, Franz Brentano und John Stuart Mill zu den wichtigsten philosophischen Ethikern der Neuzeit, deren Ethiken ie bis in die Gegenwart hinein wirksam geblieben sind. Aus heutiger Sicht gibt es in systematischer Hinsicht acht verschiedene Arten von Ethik bzw. über das Ethische allgemein zu denken:
1. eine theonome Ethik, derzufolge das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche von Gott selbst (als Schöpfer der Welt und aller Geschöpfe in ihr, der zugleich für die Menschen ein Gesetzgeber und Richter ist) bestimmt wird und dann den Menschen durch eine göttliche Offenbarung vermittelt wurde, wie z.B. im Dekalog, der Moses offenbart worden ist; (Quellen: Tanach der Juden, Bibel der Christen, Koran der Muslime, etc.);
2. eine orthonome Ethik, derzufolge das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche durch die intrinsischen Qualitäten menschlicher Absichten und Entscheidungen, Verhaltensweisen und Handlungen, Einstellungen und Gewohnheiten, Persönlich-keiten und Charaktere selbst bestimmt wird, die grundsätzlich von allen erwachsenen Menschen aufgrund von Erfahrung und Reflexion verstanden werden können (Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Brentano, u.a.);
3. eine autonome Ethik, derzufolge ein jedes menschliche Subjekt nur die subjektiven Maximen seines Willens und seines Handelns, aber nicht das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche, anhand universaler rationaler Prinzipien der praktischen Vernunft selbst überprüfen kann, wie z.B. durch die Goldene Regel oder durch den Kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Varianten (Kant, Konfuzius, u.a.);
4. eine utilitaristische Ethik derzufolge das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungül-tige, das ethisch Richtige und Falsche durch allgemeine Glücksmaximierung und durch einen hedonistischen Kalkül bzw. durch das größte Glück der größten Zahl ohne Rücksicht auf liberale Bürgerrechte und auf eine Schädigung von Minderheiten bestimmbar ist (Jeremy Bentham, Henry Sidgwick);
5. eine liberale Ethik, derzufolge das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche nur durch Negation bestimmt werden kann, insofern alles erlaubt ist, solange keine Person ohne ihr Einverständnis bzw. gegen ihren Willen von Anderen (oder von der Gesellschaft?) zu etwas Bestimmten gezwungen wird (John Stuart Mill, u.a.);
6. eine existenzialistische, hedonistische oder subjektivistische Ethik der Authentizität, der Selbstverwirklichung oder Selbstzufriedenheit, der Individualität oder des eigenen Lebensgefühls, der Entspanntheit oder seelischen Harmonie, des Lustgewinns oder der Steigerung von Freude, denen zufolge jeder einzelne Mensch das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche ohne eine Berücksichtigung allgemeingültiger Prinzipien der praktischen Vernunft willkürlich selbst bestimmen kann (Epikur, Friedrich Nietzsche, Max Stirner, Rudolf Steiner, Albert Camus, u.a.);
7. eine naturalistische und kulturrelativistische Ethik, derzufolge das (allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche durch die jeweilige Natur, Kultur und Gesellschaft sowie gegebenenfalls auch durch die jeweilige Religion und Konfession bestimmt wird und den Menschen durch eine Erziehung und Gewöhnung von Kindheit und Jugend auf vermittelt wird (Rousseau, Feuerbach, Marx, Freud, u.a.);
8. eine kommunikative Konsens-Ethik, derzufolge in jeder Konfliktsituation das (vorläufige allgemein oder situativ) ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche durch zwei oder mehrere betroffene erwachsene Menschen oder Gruppen immer wieder kommunikativ neu ausgehandelt werden muss, um sich durch Konsens auf eine pragmatische Konfliktlösung zu einigen (Jürgen Habermas);
Der theonome Typ einer Ethik wurde zum ersten Mal von Sokrates kritisiert. In Platons Dialog Eutyphron stellt Sokrates den in Athen vorherrschenden Glauben an einen verbindlichen Götter-spruch infrage, mit dem irgendwelche Götter verfügen, was die Menschen tun oder lassen sollen. Auch bezweifelt er, dass der in Athen bekannte Priester und Seher Eutyphron besser wisse, was gerecht sei als andere kluge und weise Menschen ohne eine solche religiöse Begabung. Seine Kritik handelt jedoch noch nicht explizit von dem Glauben an eine geschichtliche Offenbarung des Willens Gottes, den Juden, Christen und Muslime teilen. Fraglich ist, ob sich die sokratische Kritik auf deren theonome Ethiken über-tragen lässt, da Sokrates zwar die vielen in Athen verehrten Götter für von Menschen geschaffene Fiktionen gehalten hatte, aber nicht den wahren und wirklichen Gott, der nur ein einziger sein kann.
Jesus und Mohammed habe die mosaische Offenbarung des Dekaloges durch den einen, sich selbst offenbarenden Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs für wirklich geschehen und daher für alle Juden und Muslime verbindlich gehalten. Die griechischen Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles kannten die mosaische Offenbarung des Dekaloges noch nicht, obwohl sie auch schon gute Gründe gegen den (athenischen) Polytheismus und für einen Monotheismus angeführt hatten, da es logisch und philosophisch gedacht nur einen einzigen Gott geben kann.
Im Dialog Eutyphron argumentiert Sokrates jedoch, dass nichts nur deswegen (allgemein oder situativ) ethisch gültig oder ungültig bzw. richtig oder falsch ist, weil es die Götter kraft ihrer Autorität so verfügt haben. Vielmehr verfügen es die Götter kraft ihrer Autorität nur deswegen so, weil es an sich selbst (intrinsisch) gültig oder ungültig bzw. richtig oder falsch ist.
Entsprechend würde Sokrates behaupten, dass die zehn Gebote nicht nur deswegen gültig sind, weil sie von Gott dem Mose offenbart wurden, weil sie im jüdischen Tanach oder in der Bibel stehen. Vielmehr hat Gott die Zehn Gebote dem Mose offenbart, weil sie an sich selbst einsichtig und gültig sind. Denn sie dienen einem wohl geordneten, friedlichen und gerechten Zusammenleben in allen menschlichen Gemeinschaften.
Sokrates würde daher weiter behaupten: Ganz gleich, ob Vatermord oder Brudermord, ob Ehebruch oder Tötung eigener Kinder, ob ehrloser Betrug oder Meineid vor Gericht, ob Diebstahl oder Räuberei, ob Folter von Menschen oder Tierquälerei, wenn die Götter kraft ihrer göttlichen Autorität etwas nicht gutheißen und für ethisch falsch erklären, dann werden sie das kraft ihrer göttlichen Weisheit nur daher tun, weil es an sich (intrinsisch) ethisch falsch ist.
Ziel und Aufgabe einer philosophischen Ethik
Ziel und Aufgabe einer philosophischen Ethik (im Unterschied zu einer theonomen Ethik) ist es seit der klassischen griechischen Antike, zu verstehen und zu begründen, warum etwas an sich (intrinsisch) ethisch gut oder schlecht bzw. richtig oder falsch ist. ohne sich dazu nur auf eine göttliche Autorität zu berufen.
Nach Kants Ethik (Metaphysik der Sitten, Tugendlehre) sind die ersten beiden Typen von Ethik, sowie die utilitaristische Ethik heteronom, weil das Subjekt nicht selbst bestimmen kann, was das ethisch Gültige und Ungültige, das ethisch Richtige und Falsche ist. Kants Ethik hingegen ist eine kognitive Ethik der sittlichen, d.h. vernünftigen Autonomie (GMS, KpV) und des guten Willens, obwohl sie auch zu gewissen orthonomen Konsequenzen (MSTL) führt.
Sittliche, d.h. vernünftige Autonomie steht daher bei Kant und Hegel im Gegensatz zur bloßen Willkürfreiheit ohne kognitive Einsicht, ohne Rücksicht auf Andere, ohne Umsicht in Bezug auf die Umstände und ohne Vorsicht in Bezug auf die mutmaßlichen Folgen. Aber eine detaillierte und lehrbare moralische Kasuistik hielt Kant für nicht realisierbar, weil es in realen und singulären Konfliktsituationen letztlich immer auch auf die persönliche Urteilskraft ankommt, die es jemand ermöglicht, eine Situation richtig einzuschätzen, da die immer nur schematisch beschreibbaren (fiktiven oder realen) Fälle einer jeden Kasuistik in einigen Hinsichten unbestimmt bleiben müssen.
Brentanos Ethik ist hingegen eine orthonome Ethik der persönlichen Einsicht nach bestem Wissen und Gewissen in singulären Situationen. Kants Vorbehalte gegen eine ethische Kasuistik teilt er, weil sie nur Kindern, Jugendlichen und Studierenden zur Einübung des sittlichen Urteils anhand paradigmatischer Fälle und zur Schärfung des Gewissens dienen können. Sittlich reife Erwachsene hingegen begegnen einander mit gegenseitigem Respekt und unterschied-lichen Einschätzungen der singulären Situationen.
Einschätzungen der philosophischen Ethiken
Sowohl Kant als auch Brentano haben alle anderen Typen von Ethik (1. und 4. bis 8.) abgelehnt, weil es sich bei ihnen gar nicht um allgemeingültige Ethiken mit überzeugenden normativen Kriterien zur Unterscheidung des ethisch Gültigen vom Ungültigen bzw. des ethisch Richtigen vom Falschen handelt oder weil sie wie die liberale Ethik, die utilitaristische Ethik und die Konsens-Ethik falsche bzw. unzureichende normative Kriterien zur Unterscheidung des ethisch Gültigen vom Ungültigen bzw. des ethisch Richtigen vom Falschen vorschlagen.
Die utilitaristische Ethik übersieht, dass die allgemeine soziale Glücksmaximierung durch einen hedonistischen Kalkül bzw. durch Orientierung am größten Glück der größten Zahl ohne Rücksicht auf moderne liberale Bürgerrechte sowohl mit einer Opferung oder Schädigung einzelner Menschen und mit einer Vernachlässigung von Minderheiten vereinbar ist und daher in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahrungsgemäß zu ungerechten Konsequenzen für Einzelne und für schwächere Gruppen und Schichten führt.
Die liberale Ethik und die Konsens-Ethik übersehen, dass ein beiderseitiges Einverständnis bzw. ein Konsens noch keine hinreichenden Kriterien zur Unterscheidung des ethisch Gültigen vom Ungültigen bzw. des ethisch Richtigen vom Falschen darstellen. Denn eine Person, beide oder mehrere Personen können physisch unfreiwillig zugestimmt haben, wie bei einer vitalen Notlage (Armut, Behinderung, Durst, Hunger, Krankheit, etc.), weil sie psychisch unfreiwillig zugestimmt haben können wie bei einer pathologischen Beziehung (mit dysfunktionalem Machtgefälle bei sexuellem Missbrauch, sadomasochistischer Beziehung, Verabredung zum Kannibalismus, Zwangs-prostitution, etc.), oder bei einer schweren Persönlichkeitsstörung (Depression, Manie, Sucht, Zwangserkrankung, etc.) oder weil sie finanziell unfreiwillig zugestimmt haben können wie in existenziellen Notlagen (bei Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Wohnungs-not, etc.) oder weil sie (als Arbeitnehmer, Bürger, Kunden, Mieter, Patienten, etc.) bewusst über relevante Fakten getäuscht wurden oder zumindest nicht hinreichend über alle relevanten Fakten und Faktoren informiert wurden.
Die existenzialistische oder subjektivistische Ethik präsentiert überhaupt keine allgemein gültigen und objektiv bestimmbaren normativen Kriterien zur Unterscheidung des ethisch Gültigen vom Ungültigen bzw. des ethisch Richtigen vom Falschen. Das führt zu einem ethischen Relativismus der normativen Beliebigkeit, der persönlichen Willkür und der anarchischen Irrationalität.
Moderne Ideale wie Authentizität, Eigensinn, Individualität und Selbstverwirklichung lassen sich nicht allgemein, diskursiv und objektiv bestimmen; auch Individuen wie Hitler und Stalin waren auf ihre eigene Art und Weise ganz authentisch und haben sich als mächtige Diktatoren und ruchlose Massenmörder selbst verwirklicht.
Alte Ideale wie persönliche Selbstzufriedenheit, körperliche Entspanntheit und seelische Harmonie sind mit großer Dummheit, fehlender Aufmerksamkeit und Gedankenlosigkeit sowie mit schweren Fehlentscheidungen mit schlimmen Folgen vereinbar, wie der Fall von Adolf Eichmann zeigt.
Das jeweilige Lebensgefühl ändert sich häufig und schwankt selbst bei ein und derselben Person. Einen gewissen Lustgewinn kann sowohl ein Masochist als auch ein Sadist, ein Tierschützer als auch ein Tierquäler empfinden. Freude ist, wie Brentano gezeigt hat, immer Freude an etwas. Ihre ethische Qualität hängt vom jeweiligen intentionalen Gehalt ab. Gute Menschen freuen sich am Wahren und Guten, böse Menschen am Falschen und Bösen.
Während es sich bei Kants Ethik um eine deontologische Ethik der Selbstvervollkommnung und der Glückswürdigkeit durch die Erfüllung der moralischen Pflichten gegen sich selbst und Andere beim natürlichen Streben nach Glück und Tugend handelt, handelt es sich bei Brentanos Ethik um eine intuitionistische Ethik des richtigen Liebens und Hassens bzw. der situativ angemessenen ethischen Emotionen und Präferenzen, Absichten und Entscheidungen, Verhaltens-weisen und Handlungen, Einstellungen und Gewohnheiten, Persönlichkeiten und Charaktere beim natürlichen Streben nach Glück und Tugend.
Im Hinblick auf die Tierethik kann Kant mit seiner deontologischen Moralphilosophie die artge-rechte Tierhaltung, die Schonung von Tieren und das Verbot von Tierquälerei nur anthropozentrisch damit begründen, dass Menschen dadurch gewöhnlich verrohen und daher bestimmte Pflichten der Selbstvervollkommnung verletzen. Brentano hingegen kann sie durch eine unangemessene emotionale Einstellung gegenüber Tieren als empfindungsfähigen und intelligenten Lebewesen (fehlendes Mitgefühl, keine Liebe) und durch eine eine fehlende Erkenntnis ihrer artspezifischen oder individuellen Bedürfnisse begründen (mangelnde Urteilskraft, keine Einsicht).
Brentanos philosophische Ethik
Brentanos Ausgangsfrage in seinem Vortrag Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889) ähnelt der kantischen Grundfrage nach der Möglichkeit eines freien und guten Willens in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) im Hinblick auf eine Überwindung des subjektivistischen und des kulturellen Relativismus durch eine allgemein gültige sittliche Erkenntnis:
„Aber nun tritt die andere, viel wichtigere Frage an uns heran: gibt es eine unabhängig von aller kirchlichen und politischen und überhaupt von aller sozialen Autorität durch die Natur selbst gelehrte sittliche Wahrheit? Gibt es ein natürliches Sittengesetz in dem Sinne, daß es, seiner Natur nach allgemeingültig und unumstößlich, für die Menschen aller Orte und aller Zeiten, ja für alle Arten denkender und fühlender Wesen Geltung hat, und fällt seine Erkenntnis in den Bereich unserer psychischen Fähigkeiten?“ (VUSE, S. 9)
Aber während es bei Kant um allgemeingültige und rationale, aber nur formale Kriterien der Sittlichkeit, wie dem Kategorischen Imperativ in seinen verschiedenen Varianten, zur moralischen Beurteilung der subjektiven Maximen der eigenen Willensbildung in Bezug auf das eigene Tun und Lassen (in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) geht, geht es bei Brentano um evidente und implizite Intuitionen über das richtige Lieben, emotionale Bevorzugen und selbstbestimmte Wollen bestimmter Handlungen oder Unterlassungen (in der Gegenwart und Zukunft) unabhängig von den praktischen (strategischen, pragmatischen oder moralischen) Erwartungen, Forderungen oder Bewertungen anderer Menschen, sei es auch in Übereinstimmung mit kulturellen, sozialen, religiösen oder staatlichen Konventionen, Institutionen und Traditionen.
Brentano setzt der kantischen Moralphilosophie eine intuitionistische Klugheitsethik entgegen. Daher ist es z.B. anders als bei Kants rigorosem Lügenverbot nicht immer klug und ethisch richtig, moralisch ganz richtig zu handeln, denn es kann situativ angemessen, klug und ethisch richtig sein, böse Menschen durch eine geschickte Lüge daran zu hindern, anderen unschuldigen Menschen einen schweren physischen oder psychischen Schaden zuzufügen oder gar ihnen willentlich und aus schlechten Motiven und verwerflichen Gründen das Leben zu nehmen. Auch kann eine kleine Unehrlichkeit (white lie) aus Liebe und Mitgefühl einem anderen Menschen und der gemeinsamen langjährigen und vertrauensvollen Beziehung dienen. Denn eine langjährige, gute und fruchtbare Ehe hat eine viel größeren Wert als
eine kleine Unehrlichkeit.
Fortsetzung folgt