Im Jahr 1524 veröffentlichte Erasmus von Rotterdam seine Abhandlung „Vom freien Willen“, worin er Martin Luthers Theologie scharf angriff. Daraufhin antwortete Martin Luther 1525 mit seiner theologischen Streitschrift „Vom unfreien Willen“.
Der entscheidende Kern der theologischen Auseinandersetzung zwischen dem streitbaren Reformator und dem eher mäßigenden Humanisten betrifft die theologische Frage, ob sich Menschen überhaupt frei für oder gegen den Willen Gottes entscheiden können. Erasmus bejaht es, um die Freiheit der Menschen selbst Gott gegenüber zu verteidigen, Luther verneint es, um die Souveränität Gottes zu wahren.
Dass leiblich, seelisch und geistig gesunde Menschen in ganz alltäglichen Angelegenheiten von Hause aus eine gewisse Wahlfreiheit zwischen alternativen Optionen haben, wenn sie nicht durch innere Zwänge oder äußere Hindernisse eingeschränkt oder behindert oder gar versklavt werden, darin sind sich Erasmus und Luther ganz und gar einig.
Dass die Willkürfreiheit jenseits von vernünftigen Gründen und sittlicher Verantwortung für die absehbaren Folgen ein falsches und defizitäres Verständnis von der Willensfreiheit der Menschen und insbesondere von der Handlungsfreiheit der Christenmenschen ist, auch darin wären Erasmus und Luther selbstverständlich einer Meinung gewesen.
Die dogmatische, naturalistische Leugnung der potentiellen Willensfreiheit durch Spinozas affektpsychologischen Determinismus, durch Freuds psychoanalytischen Determinismus oder durch den neurowissenschaftlichen Deter-minismus der reduktionistischen Gehirnforscher, kannten Erasmus und Luther als Zeitgenossen des 16. Jahrhunderts natürlich noch nicht. Aber sie hätten diese dogmatische Leugnung jeglicher Willensfreiheit aus ähnlichen Gründen infrage stellen können wie im 18. Jahrhundert der Philosoph Immanuel Kant oder wie im 20. Jahrhundert der Arzt und Psychiater Karl Jaspers.
Aber ob leiblich, seelisch und geistig gesunde Menschen sich auch in ihrem existenziellen und persönlichen Verhältnis zu Gott frei entscheiden und selbst bestimmen können, so als ob sie nicht auf das freie und unverfügbare Geschenk der Gnade Gottes angewiesen wären, diese eine theologische Frage trennte sie. Auch hat diese neuralgische Glaubensfrage bis heute nichts von ihrer Aktualität und Brisanz verloren.
„Heiliger Sokrates, bitte für uns!“
Der eine poltert, der andere ist feinsinnig: Martin Luther will die Welt aus den Angeln heben, Erasmus von Rotterdam will sie einen. Die so unterschiedlichen Theologen haben aber auch etwas gemeinsam: Sie wollen Kirche und Theologie reformieren – geprägt vom Humanismus. Beide bewegen um 1520 so viele Menschen wie niemand sonst. Am Ende gehen sie getrennte Wege.
Astrid Nettling im Deutschlandfunk vom 04.01.2017
„Es ist ein Unglück, dass dieser Weltsturm mich gerade in einem Augenblick überrascht hat, da ich auf eine durch meine viele Arbeit verdiente Rast hoffen konnte. Warum erlaubt man mir nicht, bloß Zuschauer zu sein bei dieser Tragödie, der ich doch so wenig geeignet bin, als Schauspieler mitzuwirken?“
Erasmus von Rotterdam ist schon über fünfzig Jahre alt, als er 1522 diese Zeilen schreibt. Gerade hat er sich im schweizerischen Basel niedergelassen. Sieben Jahre wird er dort wohnen, bis ihn 1529 der Sturm der Reformation aus Basel vertreibt.
Erasmus von Rotterdam – „Fürst der Wissenschaft“
Noch gilt der niederländische Gelehrte und Humanist als die tonangebende Stimme in Europa in wissenschaftlichen, literarischen und geistigen Dingen. Man nennt ihn „doctor universalis“, rühmt ihn als „Fürst der Wissenschaft“, als „Vater der Studien“ und preist ihn als „Beschützer der ehrlichen Theologie“. Doch er sieht seine Autorität, sieht vor allem seine Arbeit bedroht durch jenen „Weltsturm“.
„Wie die Luthersache ausgehen wird, weiß ich nicht. Ich habe von Anfang an immer einen stürmischen Ausgang erwartet, jetzt fürchte ich ihn.“
Erasmus spricht sogar von einer „Luthertragödie“ – „ach, wäre sie nie auf der Bühne erschienen“. Seit dem Reichstag zu Worms im April 1521 hatte sich die Situation bedrohlich zugespitzt. Dort hatte sich der Reformator geweigert, seine Überzeugungen zu widerrufen. Der bereits angedrohte Kirchenbann wurde daraufhin vollzogen und die kaiserliche Reichsacht über ihn verhängt. Im September 1522 schreibt Erasmus an den Herzog Georg von Sachsen:
„Luther, das lässt sich nicht leugnen, hatte die allerbeste Sache angefangen. Hätte er nur eine so wichtige Sache gemäßigter in Stimme und Sprache geführt und sein Gutes nicht durch unerträglich Schlechtes verpfuscht! Jetzt steht zu befürchten, dass so viel Gutes untergeht, was ich nicht abgeschafft sehen möchte.“
Das Gemälde "Luther auf dem Reichstag zu Worms" des Künstlers Julius Schnorr von Carolsfeld (1794-1872) wird am 26.01.2015 im Stadtmuseum in Meißen (Sachsen) erstmals nach der Restaurierung gezeigt. Das 307 x 363 cm Großkartongemälde zeigt eine Szene aus dem Jahr 1521, als Luther auf dem Wormser Reichstag vor Kaiser Karl V. steht und sich weigert, seine Lehren zu widerrufen.
Viel steht für den Humanisten auf dem Spiel – nicht mehr und nicht weniger als die Frucht seiner unermüdlichen Anstrengung, das Christentum durch Wiedererweckung des antiken Schriftguts zu erneuern.
Vom Feuer des Humanismus erfasst
Wie Luther war auch Erasmus Augustinerchorherr – und zwar im niederländischen Steyn bei Gouda. Schon während seiner Zeit im Kloster war der junge Erasmus vom Feuer des Humanismus erfasst worden. Von jener europäischen Bildungsbewegung, die sich von dem als ungebildet – als ‚barbarisch‘ – wahrgenommenen Mittelalter absetzte und auf eine Renaissance der Antike drängte. 1489 schreibt der Zwanzigjährige aus dem Kloster an einen Freund:
„Ich habe meine Führer, denen ich folge. In der Poesie habe ich Vergil, Horaz, Ovid, Juvenal, in der Prosa Cicero, Quintilian, Sallust, Terenz.“
„Die wenigen Briefe, die uns aus dieser Zeit erhalten sind, zeigen keine Spur von religiösem Interesse; sie bezeugen jedoch eine umfangreiche Belesenheit in den lateinischen Klassikern, eine gewisse Kenntnis der italienischen Humanisten und ein brennendes Interesse für die bonae litterae, die Quellen der Antike.“
Erklärt der Theologe und Erasmusforscher Cornelis Augustijn. 1493 erhält Erasmus die Erlaubnis, das Kloster zu Studienzwecken zu verlassen. Er wird es nie wieder betreten. Schnell gewinnt neben dem Lateinischen für ihn das Studium des Griechischen an Bedeutung. Denn ebenso wie zu den Quellen der Antike – zu den „bonae litterae“ – gilt es, zu den Quellen des Christentums – zu den „sacrae litterae“ – zurückzukehren. Zur Bibel wie zu den frühchristlichen Autoren. Was für ein „Gipfel des Wahnsinns“ sei es doch, entrüstet sich Erasmus, die Worte der Heiligen Schrift zuverlässig verstehen zu wollen, „wenn man nicht auch des Griechischen mächtig ist.“
Tätige Frömmigkeit statt frommer Spekulation
„Erasmus hat seinen Weg gefunden. Er schließt sich der Reihe jener an, die der Bibel durch das philologisch ausgerichtete Studium der Theologie einen zentralen Platz einräumen wollen, um auf diesem Wege die Kirche und die christliche Gemeinschaft zu erneuern.“
So der Erasmus-Experte Cornelis Augustijn. Dass eine solche Erneuerung – eine Reform – vonnöten sei, davon ist der Humanist zutiefst überzeugt. Die Gründe liegen für ihn auf der Hand: Die Kirche ist verweltlicht, die Theologie durch scholastische Spitzfindigkeiten deformiert.
„Selbst die Apostel brauchten einen neuen Geist, hätten sie mit dem neuen Theologengeschlecht zu streiten.“
„Die Losung des Erasmus ist: tätige Frömmigkeit statt frommer Spekulation, Vereinfachung der Theologie und des kirchlichen Zeremonienwesens durch Neubelebung der Gedanken des urchristlichen Lebens.“
Erläutert der Literaturwissenschaftler und Erasmusübersetzer Werner Welzig. Eine solche Orientierung an der reinen und unverfälschten Lehre des Evangeliums sollte zusammen mit humanistischer Bildung zu einer „philosophia christiana“ verschmolzen werden.
„Denn wie viel mehr entspräche es dem Sinne Christi, in der ganzen christlichen Welt ein Haus zu sehen! Das Taufsakrament für höchste Frömmigkeit zu halten, nicht darauf zu achten, wo, sondern wie sittlich gut man lebt.“
„Es waren unerhörte Töne, die Erasmus anschlug. Innerhalb des Christentums sollte es keinen Unterschied geben zwischen Klerus und Laien, alle Getauften sollten gleichwertig sein, ohne Rücksicht auf die Lebensweise, die sie für sich selbst wählten. Auf Verantwortung und Mündigkeit des Menschen liegt das volle Gewicht.“
Hebt Cornelis Augustijn hervor. Dafür aber braucht es das enge Bündnis von Bildung und Glauben, braucht es das gründliche Studium des christlichen wie des antiken Gedankenguts. Denn „nichts was zu guten Sitten beiträgt, sollte man heidnisch nennen“, unterstreicht Erasmus in seinen „Colloquia familiaria“, den „Vertrauten Gesprächen“:
„Der Heiligen Schrift gebührt zwar überall das höchste Ansehen, gleichwohl stoße ich teils auf Aussprüche der Alten, teils auf Schriften der Heiden, die so rein, so ehrwürdig und so vortrefflich sind, dass ich nicht glauben kann, dass ihren Verstand, als sie das schrieben, nicht irgendein gutes Wesen lenkte.“
Eine Mischung aus Sympathie und Abneigung für Luther
Als Erasmus 1518 seine „Colloquia“ veröffentlicht, ist Martin Luther in der Welt der Gelehrten längst kein Unbekannter mehr. Und längst findet er als einer, der Kritik an Kirche, Papst und Theologie übt und auf Reformen drängt, Beifall in den Humanisten-Kreisen. Zum Leidwesen von Erasmus jedoch werden er und Luther viel zu häufig in einem Atemzug genannt.
Zwar hatte Erasmus die 95 Thesen Luthers positiv beurteilt. Zunehmend jedoch befürchtet er, die ganze Sache könnte durch dessen provokantes Auftreten unabsehbare Folgen nach sich ziehen. Der Historiker Léon-Ernest Halkin:
„Erasmus, der das Schisma ebenso fürchtet, wie er die Gewalt verabscheut, empfindet für Luther eine Mischung aus Sympathie und Abneigung. Der Ablasshandel hätte sie zu Kampfgenossen machen können, in diesem Punkt sind sie sich einig. Darüber hinaus gibt es wenige Gemeinsamkeiten. Luther steht dem Humanismus gleichgültig gegenüber, und Erasmus ist alles andere als ein Volkstribun.“
„So viel wie möglich halte ich mich neutral, um desto mehr dem Wiederaufblühen der Wissenschaft nützlich zu sein. Meines Erachtens kommt man mit bescheidenem Anstand weiter als mit Sturm und Drang. Auf diese Weise hat Christus sich die Welt unterworfen.“
Erasmus – „Über den freien Willen“
Doch je mehr sich die „Luthertragödie“ zuspitzt, desto stärker gerät Erasmus unter Druck, für oder gegen Luther Stellung zu beziehen. Nach langem Zögern bringt er im September 1524 die Schrift „De libero arbitrio“ heraus, seine Abhandlung „Über den freien Willen“. Dazu der Kulturhistoriker und Philosoph Johan Huizinga:
„Um Luther mit gutem Gewissen bekämpfen zu können, musste Erasmus einen Punkt wählen, über den er im Tiefsten seines Herzens mit Luther uneinig war. Nicht Zeremonien, Bußwerke, Sakramente oder den Primat Sankt Peters. So kam er auf jenen Punkt, wo die tiefste Scheidung ihrer beider Naturen lag: im Bewusstsein vom Wesen des Glaubens, von Freiheit oder Gebundenheit.“
„Unter den vielen Schwierigkeiten, die einem in der Heiligen Schrift begegnen, ist kaum ein so unergründlicher Irrgarten wie der vom freien Willen. Vor kurzem wurde dieser Gegenstand wieder hervorgeholt von Martin Luther. Alles, was Menschen tun – und seien sie noch so fromm – wäre Sünde, die ewige Verdammnis eintrüge, wenn nicht der Glaube und Gottes Barmherzigkeit sich ins Mittel legte.“
Denn „sola gratia“ – „allein durch Gnade“, so Luther, werde der Mensch von Gott gerechtfertigt. Dies bildet ein Kernstück seiner reformatorischen Glaubenslehre. Schon in seiner „Heidelberger Disputation“ von 1518 hatte Luther unmissverständlich erklärt:
„Der freie Wille nach dem Sündenfall ist nur noch eine Bezeichnung, und wenn er tut, soviel ihm möglich ist, tut er Todsünde. Der Wille ist ein Gefangener und ein Sklave der Sünde. Er ist nur frei zum Bösen. Darum sagt auch St. Augustin: ‚Der freie Wille ohne Gnade hat nur Macht zum Sündigen.‘“
Dies will und kann Erasmus nicht unwidersprochen lassen. Stand er doch schon Augustinus und seiner Erbsündenlehre und Gnadentheologie äußerst distanziert gegenüber.
„Die Feststellung des freien Willens hätte in einer Weise erfolgen sollen, dass das Vertrauen auf menschliches Verdienst nicht verloren ging.“
Denn wozu, fragt Erasmus, würde der Mensch taugen, wenn Gott lediglich „so an ihm wirkte, wie der Töpfer am Ton wirkt“? Und wozu brauchte die Schrift dann überhaupt zu lehren, zu tadeln, zu ermahnen?
„Wenn man sagt, es gebe so wenig ein Verdienst des Menschen, dass alle Werke desselben Sünde seien, wenn man sagt, unser Wille könne nicht mehr leisten als der Ton in der Hand des Töpfers, und wenn man alles, was wir tun oder wollen, auf unbedingte Notwendigkeit zurückführt, dann stoße ich auf viele Bedenken.“
Nicht zuletzt als Humanist kann Erasmus die Lehre von Prädestination und Determination keinesfalls akzeptieren, ohne gleichzeitig die humanistische Grundüberzeugung von der „dignitas hominis“, von der Würde und dem Wert des Menschen, preisgeben zu müssen. Der Theologe und Kirchenhistoriker Walther Köhler:
„Bei Erasmus ist von Sünde und Gnade nicht gerade viel die Rede; jene ist letztlich Unwissenheit, zwar hilft die Gnade und fördert, aber alleinseligmachend ist sie nicht. Die Willensfunktion ist eine göttliche Gabe, aber der Mensch gebraucht sie selbsttätig.“
Luther – „Über den geknechteten Willen“
Mit Widerwillen liest Luther denn auch die Abhandlung von Erasmus. An einen Freund schreibt er:
„Es ist nicht zu beschreiben, was für einen Ekel ich an dem Büchlein vom freien Willen habe.“
Im Dezember 1525 tritt er der Schrift „De libero arbitrio“ mit einer Erwiderung entgegen. In seiner Schrift „De servo arbitrio“ – „Über den geknechteten Willen“ bekräftigt er erneut rigoros seine Ablehnung der Willensfreiheit und die völlige Abhängigkeit des Menschen von der Gnade Gottes. Dazu Johan Huizinga:
„Schärfer, als er es je zuvor getan hatte, zog hier sein gewaltiger Bauerngeist die erstaunlichen Konsequenzen seines brennenden Glaubens. Ohne irgendeine Reserve nahm er jetzt alle Extreme eines unbedingten Determinismus in Kauf. Die katholische Kirche hatte sich in der Frage der Willensfreiheit eine Spur von Vorbehalt bewahrt. Luther leugnete sie vollkommen.“
So heißt es in seiner Schrift kategorisch:
„Es ist notwendig und heilsam für den Christen, zu wissen, dass Gott nichts zufällig vorher weiß, sondern dass er alles mit unwandelbarem, ewigem und unfehlbarem Willen sowohl vorhersieht, sich vornimmt und ausführt. Durch diesen Donnerschlag wird der freie Wille zu Boden gestreckt und ganz und gar zermalmt.“
Das bedeutet zugleich den endgültigen Bruch zwischen Luther und Erasmus. Den Bruch zwischen Erasmus, dem Reformer, der das christliche Leben aus dem Geist des Humanismus zu erneuern sucht, und Luther, dem Reformator, der ein grundsätzliches Umdenken durch eine neue Glaubenshaltung fordert.
Erasmus hat was gegen feststehende Lehren
Einen Bruch ebenso zwischen dem gewissenhaften Philologen, der den „unergründlichen Irrgarten“ biblischer Textstellen und die „sacrae litterae“ als ein Fragender durchforscht, und dem Dogmatiker, dem es um unumstößliche Behauptungen – „assertiones“ – geht. Luther beendet seine Antwort auf Erasmus mit den Sätzen:
„Ich habe in diesem Buch nicht Ansichten ausgetauscht, sondern ich habe feste Behauptungen aufgestellt und stelle feste Behauptungen auf. Ich will auch keinem das Urteil überlassen, sondern rate allen, dass sie Gehorsam leisten.“
Dazu der Theologe und Erasmusforscher Cornelis Augustijn.
„Erasmus‘ Ideal ist alles andere als eine ein für alle Mal feststehende Lehre. Er plädiert für eine offene, unfertige, weitergehende Besinnung. Für Luther ist der wahre Theologe derjenige, der ‚Assertiones‘ abfasst. Dieser Gegensatz zwischen einer behauptenden und einer in-Frage-stellenden Theologie war unüberbrückbar.“
„Grenzen des Wissen-Könnens nicht überschreiten“
Wie schon in seinen Schriften zuvor hatte Erasmus auch in seiner Abhandlung „Über den freien Willen“ vor jeder spekulativen Hybris gewarnt. Auch als Theologe gelte es, die Grenzen menschlichen Wissen-Könnens nicht zu überschreiten.
„Es gibt in der Theologie unzugängliche Stellen, wo Gott nicht gewollt hat, dass wir näher herzu dringen sollen; und wenn wir vorzudringen suchen, so tasten wir, je tiefer wir hineingehen, umso mehr im Dunkeln, so dass wir auch so die unergründliche Majestät der göttlichen Weisheit und die Hilflosigkeit des menschlichen Verstandes erkennen.“
Dass sich dem Göttlichen gegenüber eine gewisse Zurückhaltung gezieme, speist sich bei Erasmus einerseits aus der Glaubensüberzeugung des Christen, andererseits aus der sokratischen Einsicht des Humanisten. Speist sich aus dem Wissen um das eigene Nicht-Wissen, verbunden mit der Bereitschaft, sich mit vermeintlich unumstößlichen Behauptungen zurückzuhalten, gerade wo es um letzte Glaubenswahrheiten geht.
Was Luther für einen verdammenswerten Skeptizismus hält, ist für Erasmus philosophische Weisheit, welche die humanistische Überzeugung von der Würde des Menschen bewahrt und damit ebenso das Vertrauen in Fähigkeit des Menschen, für sich und sein Tun selbstverantwortlich Sorge zu tragen. Aus diesem Grund hatte Erasmus schon in seinen „Colloquia“ keinen anderen als Sokrates als ein Vorbild gepriesen.
„Mich dünkt, dass ich bei den Heiden nie etwas gelesen habe, das für einen rechten Christenmenschen besser passte, als was Sokrates sagte, bevor er den Schierlingssaft trinken sollte: ‚Ob Gott unsere Werke billigen wird, weiß ich nicht. Wir haben uns jedenfalls ernsthaft bemüht, ihm zu gefallen.‘ Wenn ich derartiges von solchen Männern lese, kann ich mich kaum enthalten zu sagen: Heiliger Sokrates, bitte für uns!“
Reichstag von Augsburg – Zwietracht statt Frieden
Ein Stoßseufzer nicht zuletzt in eigener Sache. Vollzieht sich doch vor den Augen des Humanisten der Untergang seiner bisherigen Welt. Die Zeiten stehen endgültig auf „Weltsturm“. Am 20. Juni 1530 ruft Kaiser Karl V. in Augsburg den Reichstag zusammen: eine letzte Anstrengung, die drohende Spaltung aufzuhalten – jedoch umsonst. Der Schriftsteller Stefan Zweig:
„Der Reichstag von Augsburg zerreißt die Christenheit, die er verbinden wollte, endgültig in zwei Glaubenshälften, statt Frieden steht Zwietracht über der Welt. Hart zieht Luther seinen Schluss – "
„Wird ein Krieg daraus, so werde er daraus, wir haben genug geboten und getan.“
Erasmus ist geschlagen. Er muss erleben, was er stets befürchtet und schon Jahre zuvor Luther in einem Brief warnend mit auf den Weg gegeben hatte:
„Wenn Du furchtbare Wirrnisse in der Welt wirst entstehen sehen, dann denke daran, dass Erasmus sie vorausgesagt hat.“
Der Glaube und der freie Wille des Menschen | 11.17.1
Worthaus Pop-Up – Tübingen: 18. Oktober 2021 von Prof. Dr. Siegfried Zimmer
Wovon hängt es ab, ob jemand Christ wird? Ist der Glaube an Gott, Jesus und das Evangelium eine freie Entscheidung?
Unter Freiheit versteht jeder etwas anderes. Ob es nun die Freiheit ist, im Supermarkt keine Maske zu tragen, oder die Freiheit, auf dem Roten Platz gegen den Krieg in der Ukraine zu protestieren – die meisten Menschen sind sich darin einig, dass sie zumindest frei darin sind, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Mit allen Konsequenzen. Die meisten Menschen sind also überzeugt davon, einen freien Willen zu haben. Von diesem Willen hängt für sie auch ab, ob sie an Gott glauben oder nicht. Und gerade gläubige Christen schmücken sich gern damit, sich völlig frei und bewusst für ihren Glauben entschieden zu haben.
Siegfried Zimmer bezweifelt nicht, dass der Mensch einen freien Willen hat. Wenn es aber darum geht, ob in einem Menschen Glauben entsteht oder nicht, dann hält er – mit Martin Luther – die
schnelle Rede vom freien Willen für sehr oberflächlich und auch für irreführend. Er belegt das an zahlreichen biblischen Aussagen. Es geht ihm in diesem Vortrag darum, dass die Rede von »meinem
Glauben« bescheidener wird und biblisch tiefer gegründet ist.
https://worthaus.org/mediathek/der-glaube-und-der-freie-wille-des-menschen-11-17-1/