Religion dient der Freiheit und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt
Gott ist für viele tot. Dabei kann man den freiheitlichen Gesellschaften nur wünschen, dass sie den Sinn für die Religion nicht verlieren.
Martin Grichting, NZZ, 16.09.2022
In einem Klima der individuellen Freiheit könnten die Menschen zu sehr vom Genuss der persönlichen Freiheit und
von Partikularinteressen in Anspruch genommen sein. Diese Gefahr erkannte Benjamin Constant schon zu Beginn
des 19. Jahrhunderts: Das verleite sie dazu, darauf zu verzichten, an der öffentlichen Sache teilzuhaben. Ihm schwante, dass die Inhaber der Staatsmacht solchen Individualisten gerne jede Pein abnehmen würden, ausser derjenigen,
zu bezahlen und zu gehorchen. Und er hörte die Lenker des neuen Bevormundungsstaats sagen: Ist nicht das Glück
das Ziel all eures Arbeitens und Strebens? Lasst es uns euch geben!
Was aber wirkt in einem Staat und einer Gesellschaft, welche die grösstmögliche individuelle Freiheit fördern, der
Gefahr entgegen, die öffentliche Sache zu vernachlässigen? Constant gehörte zu jenen Liberalen, die überzeugt
waren, dass die freiheitliche Gesellschaft und die Demokratie für ihren Erhalt sowie Zusammenhalt der Religion
als vorrationaler Motivationsquelle bedürften.
Kein irreligiöses Volk ist jemals frei geblieben, davon zeigte er sich überzeugt in seinem monumentalen Werk über
die Quelle und die Entwicklungen der Religionen. Denn die Freiheit kann sich nur durch Uneigennützigkeit durchsetzen und erhalten. Um die Freiheit zu verteidigen, muss man bereit sein, sein Leben aufzuopfern. Aber was gibt es Höheres als das Leben für denjenigen, welcher jenseits des Lebens nur das Nichts sieht?
Trete der Despotismus auf gegenüber einem Volk, das der Religion nicht anhänge, werfe sich die Menschheit in den Staub, so Constant. Auch lasse sich eine Moral, der die Religion fremd sei, nur auf das Kalkül, den Nutzen gründen.
Das sei jedoch nicht ausreichend, um den egoistischen Tendenzen des Individuums zu wehren. Es sei gerade die Religion, welche den Menschen aus seinen kleinlichen Interessen heraustreten lasse.
Bürger an die politische Partizipation heranführen
Der Liberalismus ist, abgesehen von Tocqueville, Constant betreffend die Rolle der Religion mehrheitlich nicht gefolgt. Und diese hat in den letzten Jahrzehnten gerade in Europa wohl nicht in dem Masse die Funktion ausgeübt, die ihr Constant zugedacht hatte. Gott ist für sehr viele mittlerweile tot. Und stets droht sich zu bewahrheiten, was schon Nietzsche seinen Zeitgenossen prophezeite: ein tragisches Zeitalter voller Zerstörung und Umsturz.
Auch wenn man dies – freilich unter Absehung der grossen «Unfälle» des 20. Jahrhunderts mit ihren sicher nicht religiösen «Übermenschen» – als Kulturpessimismus abtun will, bleibt die Frage aktuell, welche heute die Kohäsions-kräfte zur Erhaltung einer Gesellschaft von Freien sind. Interessanterweise sah Constant diese Kräfte auch im Staat angesiedelt. Die Aufgabe des Gesetzgebers sei nicht erfüllt, wenn er das Volk zufriedengestellt habe. Es gehöre auch
zur Pflicht der staatlichen Institutionen, die Bürger an die politische Partizipation heranzuführen.
So problematisch dies ist, bleibt es – faute de mieux – ein Notnagel. Aber sogar dieser kann sich als trügerisch er-
weisen, falls der Staat selbst überschiessenden Individualismus fördert. Die neue Rechtsprechung des Schweizer Bundesgerichts, die darauf hinausläuft, dass nach einer Ehescheidung die Partner materiell wieder auf sich gestellt
sind, bedeutet beispielsweise die Entwicklung in Richtung gesellschaftlicher Fragmentierung – in einem sensitiven gesellschaftlichen Kernbereich. Man meint hierin eine der letzten Folgerungen der Ausscheidung des Religiösen
aus dem Bereich von Ehe und Familie zu sehen. Diese begann damit, dass der Staat diese ehemals religiös gepräg-
ten Institutionen unter seine Fittiche nahm und schrittweise säkularisierte.
Suizidbeihilfe und Leihmutterschaft
Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Die Legalisierung der Suizidbeihilfe bringt – auch wenn der Gesetzgeber edle Motive anführt – die staatliche Billigung zum Ausdruck, dass das Individuum alle sozialen Bindungen unwiderruflich zerreissen darf. Auch hier wird der kohäsiven Kraft von Religion die Tür gewiesen, die solches Tun ablehnt.
Eine Treibmine stellt schliesslich die Leihmutterschaft dar. Sie wird bereits faktisch toleriert, indem sie in westlichen Staaten nicht unter Strafe steht. Leihmutterschaft bedeutet, dass ein Mensch Objekt eines Kaufvertrags wird. Diese Verdinglichung des Menschen ist ein Schlag gegen die Sozialstruktur einer Gesellschaft von Freien und Gleichen.
Denn die Existenz von Verdingkindern einer neuen Art dementiert die «rettende Übersetzung» (Habermas) der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die gleiche und unbedingt zu achtende Würde aller Menschen.
Romano Guardini hat das Ergebnis solch dissoziativer Prozesse in der Entstehung einer rein «religiösen Religion» gesehen, die ohne gesellschaftliche und kulturelle Vermittlung keinen «Weltgehalt» mehr besitze. Es entstehe dann umgekehrt auch eine rein «politische Politik», eine rein «wirtschaftliche Wirtschaft» und eine rein «wissenschaftliche Wissenschaft».
Das Glück der Bürger
Die instrumentelle Vernunft bleibt sich allein überlassen. Und es fragt sich dann eben, was die Welt im Innersten zusammenhält. Habermas hat zwar gemeint, das «einigende Band» der offenen Gesellschaft sei der demokratische Prozess selbst. Er ist dafür aber eine überzeugende Begründung schuldig geblieben, denn evident ist das nicht.
Letztlich ereignet sich immer wieder, was Constant geahnt hat, nämlich dass der fürsorgliche Staat zur vorherrschen-
den sozialen Klammer wird und gegen die Entrichtung von Steuern sowie das Leisten von Gehorsam für das Glück
der Bürger besorgt ist. Paradoxerweise scheint es gerade der übersteuerte Individualismus zu sein, der den all-umfassenden Staat hervorbringt, welcher dann die Freiheit gefährdet.
Tocqueville hat leicht resigniert das Fazit gezogen, Demokratien lernten nur durch Erfahrung. Diese vor bald 200
Jahren gemachte Vermutung dürfte sich vielfach bewahrheitet haben. Man wird sehen, welche Erfahrungen die westlichen Demokratien und Gesellschaften in nächster Zeit machen werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen,
dass ein neuer Schub von Individualismus grassiert, der getrieben ist vom Konsuminteresse des sich bis zur Er-schöpfung selbst ausbeutenden Individuums.
Man kann nur hoffen, dass dadurch nicht ein neues «tragisches Zeitalter» heraufbeschworen wird, eine «entgleisende Modernisierung», wie es Habermas genannt hat.
Solidarität in der Gesellschaft
In diesem Sinn kann man den freiheitlichen Gesellschaften nur wünschen, dass sie den Sinn für die Religion nicht verlieren: um der Freiheit der Individuen, aber auch um des Gemeinschaftlichen willen, das dem Menschen eben-
falls aufgetragen ist.
Jürgen Habermas und Joseph Ratzinger haben sich im Jahr 2005 unter dem sinnigen Titel «Dialektik der Säkulari-sierung» daran herangetastet, wie ein neues Aufeinanderzugehen von Vernunft und Religion aussehen könnte. Ratzinger plädierte dafür, dass Religion und Vernunft einander bedürfen würden und zu gegenseitiger Heilung ihrer jeweiligen Pathologien berufen seien. Mit Gewalt einhergehender religiöser Fundamentalismus müsse durch die Vernunft eingehegt werden. Eine Vernunft, welche die Atombombe und die Menschenzüchtung hervorbringe,
müsse an ihre Grenzen erinnert werden und Hörbereitschaft lernen gegenüber den grossen religiösen Über-
lieferungen der Menschheit.
Habermas seinerseits konzedierte, es liege im eigenen Interesse des Verfassungsstaats, mit allen kulturellen Quellen – zu denen auch die Religion zählt – schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität der Bürger speise. Dem hätte wohl auch Benjamin Constant zugestimmt.
Martin Grichting war Generalvikar des Bistums Chur und beschäftigt sich publizistisch mit religiösen und philosophischen Fragen.
Religion dient der Freiheit (nzz.ch)