Drachensaat des Pantheismus?
Georg Wilhelm Friedrich Hegel und die Religionsphilosophie des deutschen Idealismus
Jan Rohls
Am 27. August 1770, vor genau 250 Jahren, wurde der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel geboren. Sein Werk ist ein wichtiger Ausgangspunkt und eine stete Reibefläche der modernen Philosophie. Hegel war auch ausgebildeter Pfarrer und beschäftigte sich sehr mit theologischen Fragen. Anlässlich des Jubiläums skizziert
der Systematische Theologe Jan Rohls aus München Hegels Erkenntnisse in Sachen christlicher Religion.
Beethoven, Hölderlin, Hegel: Diese Repräsentanten der deutschen Klassik in Musik, Dichtung und Philosophie teilen
das Geburtsjahr 1770. Hölderlin und Hegel teilten zudem mit Schelling die akademischen Anfänge als Theologie-studenten im Tübinger Stift, der Kaderschmiede des schwäbischen Luthertums. Beide traten nach dem theologischen Examen in Stuttgart eine Hauslehrerstelle an, damals das Los vieler Akademiker.
Hölderlin verschlug es nach Frankfurt, Hegel nach Bern. Bereits der junge Hegel zeigte weitgespannte Interessen.
Vor allem nahm er Anteil an den politischen Umbrüchen der Zeit, nicht zuletzt an der Französischen Revolution und ihren Folgen. Die fragmentarischen Skizzen, die er 1793/94 in Bern zu Papier brachte, sahen auch die Religion unter einem sozialpolitischen Aspekt, nämlich in ihrer Rolle als Volksreligion. Religion nach der Aufklärung müsse nicht nur
die Vernunft, sondern, um Volksreligion zu sein, auch die Phantasie und das Herz der Menge befriedigen und alle
politischen Aktionen des Staates begleiten können.
Rousseaus Idee einer religion civile klingt hier ebenso nach wie die Begeisterung der Stiftler für die „schöne Religion“
der griechischen Polis. Das Christentum tauge hingegen kaum zur Volksreligion, weil es über die Vernunft hinausgehe, rein geistig sei und den Blick des Menschen nur aufs Jenseits lenke. Unter dem Eindruck der Lektüre der praktischen Philosophie und der Religionsschrift Kants gelangte Hegel zwar zu einer Deutung Jesu als des Stifters einer rein morali-schen Religion und schrieb sogar ein Leben Jesu, aus dem er alles Wunderhafte zugunsten des Moralischen verbannte.
Doch die weitere Entwicklung von der moralischen Religion Jesu zur positiven christlichen Religion stellte er als Verfalls-geschichte dar. Hegels Auffassung der Religion erhielt allerdings neue Konturen, als er durch Vermittlung Hölderlins
eine Hauslehrerstelle in Frankfurt antrat. Er griff die platonisierende Vereinigungsphilosophie seines Freundes auf,
und an die Stelle der kantischen Gesetzesmoral traten die Leitbegriffe „Liebe“, „Leben“ und „Sein“, mit denen sich die Aufhebung von Entzweiung, Einheit von Entgegengesetztem verband.
Das Christentum, ebenso übrigens das Judentum, erfuhr aber auch jetzt noch keine positive Deutung, da es die
Entzweiung nicht wirklich überwinde. Immerhin gelangte Hegel am Ende seiner Frankfurter Zeit zu einer positiven Deutung der Religion. Sie bewege sich im Unterschied zum analytischen Verstandesdenken, der in Gegensätzen sich bewegenden philosophischen Reflexion, nicht in der Sphäre der endlichen Dinge. Vielmehr sei sie eine Erhebung vom endlichen zum unendlichen Leben.
Das Jahr 1800 bedeutete eine entscheidende Wende in Hegels Biografie. Mit der Übersiedlung nach Jena, damals ein Zentrum des literarisch-philosophischen Lebens, begann in enger Zusammenarbeit mit Schelling seine akademische Karriere. In der Kontroverse Schellings mit Fichte, der als Folge des Atheismusstreits Jena kurz zuvor in Richtung Berlin verlassen hatte, ergriff er für seinen ehemaligen Tübinger Kommilitonen Partei. Im Anschluss an ihn bildete er den traditionell in der Metaphysik und philosophischen Theologie verankerten Gedanken des Absoluten aus, des durch nichts außer sich bedingten, aber alles bedingenden Unbedingten.
Aufhebung der Entzweiung
Das Absolute als das in sich differenzierte Ganze, als „Identität von Identität und Nichtidentität“, lasse sich aber nur als System philosophisch erkennen und darstellen. Was zuvor allein der Religion zugetraut worden war, die Aufhebung der Entzweiung, die Erhebung zum Unendlichen, Absoluten, wurde nun zur Aufgabe der Philosophie.
Diese Neuausrichtung seiner Gedanken verband sich bei Hegel mit einer Abrechnung mit den Häuptern der zeitge-nössischen Philosophie. In „Glauben und Wissen“ (1802) warf er Kant, Fichte und Jacobi vor, das Absolute zu einem der Vernunft unzugänglichen, dem endlichen Subjekt entgegengesetzten transzendenten Göttlichen gemacht zu haben, das Gegenstand nicht des Wissens, sondern nur des Glaubens sein könne. Er stellte zudem einen Zusammenhang her zwischen dem in der Aufklärung kulminierenden Prozess der Subjektivierung und Säkularisierung, der Entzauberung der Welt, und dem Protestantismus.
Schleiermachers „Reden über die Religion“ (1799), die Religion als Anschauung und Gefühl des Universums fassen, wurden zwar wegen des Begriffs des Universums gerühmt, weil er wie der Begriff des Absoluten den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt überwinde. Aber zugleich wurden sie als Gipfel des Subjektivismus kritisiert, weil An-schauung und Gefühl des Universums rein subjektiv blieben. Auf diesen Subjektivierungsprozess, der die Welt ent-göttert und Gott in ein unerkennbares Jenseits verdrängt, bezieht sich Hegels Wort vom „spekulativen Karfreitag“
oder „Tod Gottes“, auf den allerdings seine Auferstehung im Geist folgen soll.
Frisch habilitiert und bald zum außerordentlichen Professor ernannt, widmete sich Hegel in seinen Jenaer Vorlesungen der Ausarbeitung seines Systems, für das der Begriff des Geistes zentrale Bedeutung gewann. Der Geist trat an die
Stelle von Liebe, Leben und Sein. Das Absolute wurde jetzt als Geist gefasst, das heißt aber als wissende Selbst-beziehung, kurzum als Selbstbewusstsein oder Subjekt. Allerdings – und das ist die Pointe –: Diese Selbstbeziehung
des Geistes ist vermittelt durch das Andere seiner selbst, die Natur, in der er nur verborgen existiert. Und sie findet ihre Erfüllung dort, wo der Geist sich auf den Geist als solchen richtet und unser Erkennen Selbsterkenntnis des Geistes ist.
Allmählich bildete Hegel auch die Unterscheidung von subjektivem, objektivem und absolutem Geist aus. Der sub-jektive Geist umfasse das Bewusstsein ebenso wie den Willen und das Gefühl, und er manifestiere sich im objektiven Geist, in den sozialen Institutionen des Rechts und der Sittlichkeit.
Doch zur geistigen Welt gehörten schließlich auch Kunst, Religion und Philosophie als Sphären des absoluten Geistes. Absolut sei der Geist deshalb, weil er sich in ihnen nur noch auf sich selbst beziehe, wobei der Kunst die Anschauung, der Religion die Vorstellung und der Philosophie der Begriff, das begreifende, vernünftige Wissen, zugeordnet sind.
Die reife Frucht der Jenaer Zeit ist Hegels „Phänomenologie des Geistes“, die Darstellung des Weges zum absoluten Wissen. Sie erschien, während Jena unter der französischen Besatzung litt, 1807 in Bamberg, wo Hegel für ein Jahr als Zeitungsredakteur tätig war, bevor er für acht Jahre nach Nürnberg ins Schulamt wechselte. Dem Schlusskapitel „Das absolute Wissen“ über das vollkommene Wissen des Geistes von sich, ist das Kapitel „Die Religion“ vorgeschaltet, das
nun endgültig dem Christentum den Vorrang vor der früher verherrlichten griechischen „Kunst-Religion“ einräumt.
Die gesamte Religionsgeschichte wird als Menschwerdung Gottes gefasst und das Christentum als absolute Religion, weil es auf dem Glauben gründe, dass der Geist als ein Selbstbewusstsein, das heißt, als wirklicher Mensch sinnlich gewiss sei. Dessen Tod, der ihn der Sinnlichkeit entziehe, bilde zwar den Übergang vom einzelnen zum allgemeinen Selbstbewusstsein der Gemeinde. Doch gerade darin, dass die nachösterliche Gemeinde die Versöhnung an ein vergangenes Individuum, an eine fremde Genugtuung und an eine zukünftige Erlösung knüpfe, bleibe auch sie der defizitären Form der religiösen Vorstellung verhaftet. Die christliche Religion sei wohl die offenbare und daher absolute Religion, weil Gott oder das Absolute in ihr als das, was es ist, nämlich als selbstbewusster Geist offenbar sei. Aber als Religion habe sie diesen wahren Inhalt in der unangemessenen Form der Vorstellung und klebe somit am Sinnlichen, Bildlichen.
Die Erlösung aus dem Nürnberger Schulamt und die Rückkehr an die Universität, und zwar zunächst 1817 nach Heidel-berg, verdankte Hegel unter anderem Carl Daub, der als einer der ersten seine Philosophie für die protestantische Theologie fruchtbar machte. Doch Heidelberg diente nur als Sprungbrett für die 1818 erfolgte Berufung als Nachfolger Fichtes an die neugegründete Berliner Universität.
Bereits in Heidelberg begann Hegel über die einzelnen Sphären des absoluten Geistes, über die Ästhetik und die Ge-schichte der Philosophie zu lesen. Vorlesungen zur Philosophie der Religion traten erst in Berlin hinzu, während die Religion, und zwar ausschließlich die christliche Religion, zuvor nur im Rahmen der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (1. Auflage, 1817) als eine der Kunst überlegene Sphäre des absoluten Geistes behandelt worden war.
Walter Jaeschke, dem wir neben dem „Hegel-Handbuch“ die kritische Ausgabe von Hegels Manuskript und die Nach-schriften der vier Berliner religionsphilosophischen Kollegs von 1821 bis 1831 verdanken, hat die Hinwendung zur Religion mit der gleichzeitigen Publikation der Unionsdogmatik „Der christliche Glaube“ seines Berliner Kollegen Schleiermacher in Verbindung gebracht. An Schleiermacher kritisierte Hegel vor allem die Bestimmung des Wesens
der Religion als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Zwar bestritt er nicht, dass der religiöse Inhalt auch im Gefühl sei, aber seine Rechtfertigung könne der in der Religion vorgestellte Inhalt nur durch das begreifende Denken erlangen. Und das Wesen der christlichen Religion sah Hegel nicht in der Abhängigkeit, sondern in der Freiheit.
Radikale Religionskritik
Für ihn ist die Religion Selbstbewusstsein des absoluten Geistes in der Form der Vorstellung, und sie muss, soll ihr
Inhalt gerechtfertigt werden, in die Form des Begriffs überführt werden. Angesichts der radikalen Religionskritik der Aufklärung forderte Hegel die Religion auf, sich in den Begriff, die Philosophie, zu flüchten. Denn nur durch ihre geist-philosophische Fundierung lasse sich zeigen, dass Vernunft in der Religion sei. Weder der Rückgriff auf die Offenbarung, die Schrift und die Tradition noch der auf die Geschichte und das subjektive fromme Gefühl taugten zu ihrer Recht-fertigung.
Hegel geht nach Aufstellung des „Begriffs der Religion“ unter dem Titel „Die bestimmte Religion“ die gesamt Religions-geschichte von Osten nach Westen durch – schon dies eine imposante, innovative Leistung –, um die positiven Reli-gionen als Gestalten des absoluten Geistes darzustellen. Das Christentum hingegen ist für ihn die „vollendete Religion“, weil es das Absolute als Geist fasst und sich der Begriff der Religion in ihm realisiert. Geist: Das bedeutet Vernunft und bewusster Selbstbezug. Das Spezifikum des Hegelschen Geistbegriffs besteht dabei darin, dass dieser Selbstbezug nicht unmittelbar, sondern durch Anderes vermittelt ist. Das meint Hegel, wenn er sagt, dass es das Wesen des Geistes sei,
im Anderen seiner selbst bei sich selbst zu sein. Das Subjekt wird sich, indem es sich auf Anderes, auf ein Objekt bezieht, seiner selbst bewusst.
Im Christentum werde dies vorstellungshaft ausgedrückt im Trinitätsdogma: Gott ist nur Gott, insofern der Vater über das Andere, den Sohn, im Geist bei sich selbst ist. Das äußerliche Setzen des Anderen thematisiere die Lehre von der Erschaffung der Welt und des Menschen, die Entzweiung von Gott und Welt die Lehre von der Sünde und die Aufhebung der Entzweiung von Mensch und Gott die Lehre von der Menschwerdung Gottes. Das macht zugleich deutlich, dass für Hegel das Wesen Gottes nicht in der Transzendenz Gottes liegt, sondern in der Versöhnung von Gott und Mensch liegt.
Gott ist gerade nicht der ganz Andere.
Hegel gewann somit gerade den nicht nur von der Aufklärung, sondern gleichfalls von Schleiermacher kritisierten zentralen christlichen Dogmen eine geistphilosophische Deutung ab. Anders als Schleiermacher orientierte er sich auch nicht am vermeintlich historischen, sondern an dem vom Geist der Gemeinde als Gottmensch gefassten Jesus, dessen Tod die Aufhebung der Trennung, die Versöhnung von Mensch und Gott und damit der Gewinn der Freiheit sei. Der von ihr an der Geschichte Jesu vorgestellte Prozess der Versöhnung müsse sich jedoch in der Gemeinde an den einzelnen Subjekten selbst vollziehen, so dass sich der Geist in der Gemeinde realisiere und Gott als Gemeinde existiere.
Da Hegel in der christlichen Religion den wahren Inhalt – das Absolute als Geist – entdeckte, sah er es als Aufgabe der Philosophie an, ihn aus der unangemessenen Form der Vorstellung in die adäquate Form des begreifenden Denkens
zu überführen, statt ihn wie die Orthodoxie, in geistlosem Buchstabendienst festzuhalten, wie die Aufklärung kritisch
zu zersetzen oder wie der Pietismus zugunsten des frommen Gefühls preiszugeben.
Der Überführung des Inhalts aus der Form der Vorstellung in die des Begriffs auf theoretischer Ebene entspreche auf praktischer Ebene die Einbildung des Inhalts des Christentums, nämlich der Versöhnung und Freiheit, ins Weltliche. An die Stelle der Weltdistanz des antiken Mönchtums und der Weltherrschaftsansprüche des mittelalterlichen Papsttums trete, eingeleitet durch die Reformation, das Aufgehen der Gemeinde und Kirche in das sittliche und rechtliche Staats-leben.
Hegel wurde während seiner Berliner Zeit schnell zur Zielscheibe frommer Kritik. Der Erweckungstheologe August Tholuck warf ihm Pantheismus vor, gegen den der zum Katholizismus konvertierte Friedrich Schlegel in Wien ebenso
wie Schelling in München eine dezidiert christliche Philosophie meinten, in Stellung bringen zu müssen. Der späte Schelling wurde vom preußischen König nach Berlin berufen, um dort die „Drachensaat des Hegelschen Pantheismus“ zu bekämpfen.
Bei Hegel vermissten seine Kritiker unter anderem die Persönlichkeit Gottes und die Unsterblichkeit der Seele. Daran änderte auch die Werkausgabe nichts, die nach Hegels Tod 1832 von einem „Verein von Freunden des Verewigten“ auf den Weg gebracht wurde und die, abgesehen von den bereits von ihm selbst publizierten Werken, darunter die „Wissenschaft der Logik“ (1812 – 1816) und die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (1821), Kompilationen von Manuskripten und Nachschriften der Vorlesungen Hegels enthielt.
Besonders seine Vorlesungen zur Philosophie der Religion gerieten ins Visier der Kritik, und ihre Deutung war auch innerhalb der Hegelschule strittig. Es bildete sich der Gegensatz zwischen Rechts- und Linkshegelianern aus. Während Rechtshegelianer wie Carl Daub und Philipp Marheineke in Hegels Religionsphilosophie eine spekulative Rechtfertigung des Dogmas erblickten, warfen Linkshegelianer wie David Friedrich Strauß ihnen vor, ihr kritisches Moment zu unter-schlagen. Und es war die von Hegel inspirierte Tübinger Schule um Strauß und Ferdinand Christian Baur, der die protestantische Theologie die entscheidenden Impulse in der historisch-kritischen Bibelwissenschaft und Dogmen-geschichte verdankte. Doch letztlich obsiegten, sieht man von wenigen Ausnahmen ab, die restaurativen kirchlichen Kräfte an den theologischen Fakultäten, so dass der Einfluss Hegels hier Episode blieb.
Jan Rohls ist emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Universität München.
https://zeitzeichen.net/node/8450
Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens?
In seinen Prolegomena spottete Immanuel Kant selbstbewusst über Philosophieprofessoren, denen die Geschichte
der Philosophie auch schon ihre ganze Philosophie sei. Denn indem sie alles Philosophische nur als geschichtliche Gedankengänge in den Schriften der großen Denker der Vergangenheit kennen und behandeln, haben sie entweder gar keine eigene Philosophie oder sie wagen es nicht, sie klar und deutlich auszusprechen oder aufzuschreiben, um
sie öffentlich zur Diskussion zu stellen. Vergangenes Denken hielt Kant jedoch nur für einen "toten Hausrat", der
zuerst einmal vernünftig geprüft werden müsste, ob er überhaupt noch tauglich und wahr sei.
Philosophen sollten Kant zufolge selbst denken und in der Auseinandersetzung mit ihren Zeitgenossen und mit den Werken der großen Philosophen der Vergangenheit, zu ihrer eigenen Philosophie finden, um sie so weit wie möglich
zu entwickeln und schriftlich darzulegen. Aber es kommt auch nicht bloß auf das Selbstdenken an, denn auch wer selbst denkt, kann Denkfehler machen und sich über die Wirklichkeit irren. Andererseits können aber auch einige Gedanken früherer Philosophen schon damals wahr und richtig gewesen sein und auch gegenwärtig immer noch wahr und richtig sein. Daher müssen sich auch Selbstdenker mit den größten Philosophen der Vergangenheit auseinandersetzen, um ihre Gedanken an deren Gedanken zu prüfen, um von ihnen zu lernen und um an ihnen zu wachsen. Zugleich sollten sich Selbstdenker mit den führenden Wissenschaften und Künsten, Religionen und Konfessionen ihrer Zeit auseinander setzen. Kants Ideal des Selbstdenkens ist daher um Hegels Methode der geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Meilensteinen der Geschichte der Philosophie zu ergänzen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel war ein Philosoph, der sich selbst nicht nur für die Geschichte der Philosophie, sondern auch für die Geschichte der Wissenschaften und Künste, Religionen und Konfessionen interessierte. Doch für Hegel war diese Geschichte der Philosophie, Religionen und Künste keine lose und nur zufällige Abfolge von Gebilden aus mensch-lichen Gedanken und Vorstellungen, Worten und Bildern. Vielmehr suchte er stets nach einer dialektisch und rational nachvollziehbaren Entwicklungslogik in ihrer Geschichte. Daher glaubte er auch verstehen zu können, dass der mensch-lichen Geschichte ähnlich wie der biographischen Entwicklung einzelner Menschen eine teleologische Entwicklungslogik innewohnt. So stellte er sich z. B. die geschichtliche Entwicklung der Religionen als einen Prozess vor, der aus den An-fängen in der Kindheit und Jugend über das frühe, mittlere und späte Erwachsenenalter zur Reife des Alters und schließlich zum Sterben und Tod führte.
Hegel glaubte, dass auch das Christentum einen solchen Entwicklungsprozess in einer gestuften Abfolge durchge-macht hatte. Dabei folgte er jedoch dem christlichen Geschichtsdenker Joachim des Fiore (1130/35 - 1202) und dessen Schema von den drei christlichen Reichen: dem "Reich des Vaters", dem "Reich des Sohnes" und dem "Reich des Heiligen Geistes". Dass er dabei nicht wie in der allgemeinen Religionsgeschichte einem der menschlichen Entwicklung nach-empfundenen Schema folgte, legt den Verdacht nahe, dass er dabei eine gewisse Willkür walten ließ und den Stempel dieses Stufenschemas eher den komplexen Phänomenen aufgedrückt hatte als von ihnen behutsam abgelesen hatte.
Hegels teleologische Betrachtungsweise der Geschichte der Philosophien, Religionen und politischen Systeme befeuert zwar immer noch den Fortschrittsglauben des westlichen Liberalismus. Joachim de Fiores Rede vom dritten "Reich des Heiligen Geistes" jedoch wurde zuerst von den Schwärmern in der Epoche der Reformation aufgegriffen und zur Rechtfertigung der gewalttätigen Bauernaufstände missbraucht. Luther missfiel nicht nur deren gewalttätiges und mörderisches Verhalten, sondern auch deren schwärmerischer Geist, der sich von christlichen Geist von Gesetz und Evangelium losgesagt und entfernt hatte, obwohl Thomas Müntzer und seine Anhänger sich fälschlich immer noch
für Christen hielten.
Joachim de Fiores Rede vom dritten "Reich des Heiligen Geistes" wurde dann noch viel übler im politischen Kult des "Dritten Reiches" von den Nationalsozialisten missbraucht. Die Nationalsozialisten blendeten bei ihrem Mißbrauch dieser christlichen Idee völlig aus, dass es auch schon bei Joachim de Fiore selbst unklar geblieben war, ob es überhaupt ein "Reich des Geistes" ohne Trinität und also auch ohne Jesus Christus geben kann. Denn es könnte sich bei diesem namenlosen Geist nicht um den Heiligen Geist des christlichen Glaubens handeln, sondern um irgendeinen anderen Geist oder gar um einen antichristlichen und bösen Geist wie z.B. um einen luziferischen, mephistophelischen oder satanischen Geist.
Wissenschaftliche Historiker und kritische Philosophen sind spätestens aus den zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts mehrheitlich der Auffassung, dass zumindest starke teleologische Betrachtungsweisen der Geschichte von einem atheistischen und nicht-christlicchen Standpunkt aus betrachtet weder objektiv gültig noch methodisch vertretbar sind, obwohl sie zwar (inter)subjektiv nachvollziehbar, da sie meistens ideologisch oder politisch motiviert sind. Umgekehrt ergibt jedoch auch eine bloße positivistische Daten- und Faktenhuberei ohne irgendein erhellendes Leitmotif auch keine erzählbare und verstehbare Geschichtsschreibung, die die mutmaßlichen geschichtlichen Ent-wicklungen und eine mutmaßliche Entwicklungslogik in ihnen sinnvoll erklären könnte.
Die Frage nach dem Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens
Fragt jemand nach dem Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens oder gar des Christentums als verfasster Religion und kultureller Realität, dann kann er sicher sein, dass die meisten Menschen zumindest in Europa mit einer Heidenangst und mit einem instinktiven Abwehrreflex reagieren, der so sicher vorhersagen lässt, wie der Speichelfluss des Hundes von Pawlow, wenn das Glöckchen läutet. Jemand muss den Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens noch gar nicht behauptet oder verteidigt haben, sondern einfach nur erwähnen und danach fragen und schon werden die Schotten dicht gemacht, als ob man in einem U-Boot gefangen wäre und mit feindlichen Minen beschossen würde. Danach wird mit Torpedos zurückgeschossen und der harmlos Fragende hat nichts zu lachen.
Diese reflexartigen instinktiven Reaktionen zeigen, wie wenig autonom und tolerant die meisten Leute sind, die sich heutzutage doch für so aufgeklärt und tolerant halten. Aber Aufklärung wird gegenwärtig gemeinhin mit Szientismus (Habermas) oder "Wissenschaftsaberglaube" (Jaspers) verwechselt und was man gemeinhin "Toleranz" nennt, ist oft
nur eine gedankenlose Gleichgültigkeit gegenüber allen religiösen und metaphysischen Wahrheitsansprüchen, die über die eigene Willkür und die subjektiven Neigungen des eigenen zufälligen Meinens hinausgehen. Die Devise des Zeit-geistes in unserer wissenschaftlich-technisch geprägten Gesellschaft scheint es zu sein: "Produziert und konsumiert so viel ihr wollt, aber denkt bloß nicht über Gott nach und folgt den Anweisungen der jeweiligen Regierung!"
Wahre Toleranz setzt jedoch gerade voraus, dass jemand etwas Lebenswichtiges für wahr hält und Andersdenkende oder Andersgläubige trotzdem akzeptiert und respektiert. Mit achselzuckender Gleichgültigkeit gegenüber existenziell wichtigen Wahrheitsansprüchen hat echte Toleranz jedoch rein gar nichts zu tun. Voltaire verstand unter Toleranz, dass Andersdenkende sprechen und schreiben dürfen, was sie wollen, und dass er für diese Freiheit der Anderen auch dann einstehen will, wenn er den Auffassungen und Meinungen der Anderen nicht zustimmen kann.
Aufklärung war in der gleichnamigen Epoche primär eine Sache der intellektuellen Auseinandersetzung mit der
überlieferten platonischen und scholastischen Philosophie und mit den jüdischen und christlichen Theologien und Konfessionen. Mit dem erst im 19. und 20. Jahrhundert aufkommenden Positivismus, also einer verallgemeinerten Ablehnung der Metaphysik, und mit dem heutigen Szientismus, also einem verabsolutierenden Glauben an "die Wissenschaft" hatte die europäische Aufklärung der meisten Aufklärer noch gar nichts zu tun. Als Kant seine Freunde der Aufklärung zum Selbstdenken aufforderte, dann meinte er noch ganz selbstverständlich ein Nachdenken über die philosophischen Grundfragen der Logik und Erkenntnistheorie, der Ethik und Rechtsphilosophie sowie der Metaphysik von Gott, Willensfreiheit und Unsterblichkeit der Seele. Zum Selbstdenken gehörte für Kant selbstverständlich auch,
sich nicht von seinen Affekten beherrschen zu lassen, sodass man Andersdenkenden und Andersgläubigen erst einmal zuhören kann, sie zu verstehen versucht und dann erst einmal gründlich nachdenkt, bevor man spontan reagiert und sie sachlich oder gar persönlich angreift oder gar ausschließt und zensiert.
Wenn von diesen metaphysischen Fragen die Rede ist, halten sich viele Kinder des Zeitgeistes schnell wie die drei berühmten chinesischen Äffchen die Ohren zu, um nichts zu hören, den Mund zu, um nichts "Falsches" zu sagen
und die Augen zu, um nichts zu sehen. Im fernen China klatschen die Menschen schon seit Generationen massenweise und marionettenhaft Applaus, wenn die jeweiligen großen Vorsitzenden der sozialistischen Einheitspartei etwas verlauten lassen. Das hat auch etwas mit dem kulturellen Hintergrund zu tun. Während unsere europäische Kultur durch griechische Philosophie, römisches Recht, jüdische Religion und christlichen Glauben geprägt wurde, wurde
die chinesiche Kultur durch den naturnahen Daoismus und den sozial regulierenden Konfuzianismus geprägt. Erst
im 20. Jahrhundert kam in China der aus Deutschland stammende Marxismus hinzu, der über Russland als Marxismus-Leninismus importiert wurde. Christen befinden sich dort gegenwärtig in der Minderheit, nehmen dort jedoch so schnell zu, wie kaum sonst irgendwo auf der ganzen Welt. Da sie von der chinesischen Regierung gefürchtet werden, werden sie stets beobachtet und überwacht, wenn auch nicht so stark unterdrückt und zwangsweise umerzogen wie die uiguri-schen Muslime.
Aber warum nur verhalten sich auch in Deutschland und Europa die meisten Menschen derart konformistisch und ängstlich, wenn vom Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens die Rede ist? Staatliche Repressionen haben
sie hierzulande doch (noch) kaum zu befürchten. Es kann nur die kulturelle Erinnerung an das frühere unchristliche Verhalten vieler nomineller Christen sein, die nicht nur Juden, sondern auch sich gegenseitig bekriegten und verfolgten bis hin zu blutigen Religionskriegen. Diese historische Erinnerung wach zu halten ist sicher wichtig und richtig. Aber es stimmt eben auch, dass sich diese nur nominellen Christen eben gerade nicht christlich verhalten haben. Daher ist die instinktive und spontane Ablehnung des Absolutheitsanspruch des Christentums eben gerade selbst eine Folge des christlichen Glaubens.
Worauf basiert nach Hegel der Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens?
Die Behauptung vom Absolutheitsanspruch des Christentums wird zu recht mit Hegels später Religionsphilosophie verbunden. In seiner Jugend hatte Hegel als Student der Theologie und Philosophie in Tübingen aber selbst noch eine Geschichte Jesu nach den strengen Vorgaben der Aufklärung im Sinne von Samuel Reimarus ohne Wunderglauben und ohne den Glauben an die leibliche Auferstehung Jesu verfasst. So wurde auch bei ihm Jesus zum "guten Menschen" von Nazareth, der die Ethik der Goldenen Regel lehrte, der zur Erbauung fromme Gleichnisse erzählte, der die Ausgestoße-nen annahm, der den Hungernden und Dürstenden zu Essen und zu Trinken gab und der die Kranken heilte. Hegel war also in seiner Jugend ähnlich wie Kant ganz von der aufklärerischen Säkularisierung des Evangeliums überzeugt.
Von einem Absolutheitsanspruch des Christentums konnte beim jungen Hegel in den vorgegebenen Bahnen der aufklärerischen Entzauberung der Welt und der Säkularisierung des Evangeliums noch gar nicht die Rede gewesen sein. Da gab es noch keine wesentlichen Differenzen zu anderen guten Menschen, wie einigen Propheten des Judentums, oder wie den Heiligen der vielen religiösen Kulte Indiens oder wie der Weisen in den verschiedenen Weisheitstraditionen Chinas. Zwar trat das Evangelium im Unterschied zur Bhagavad-Gita der Hindus mit dem Anspruch auf, wirklich Ge-schehenes zu berichten und nicht nur schöne Märchen zu erzählen. Daher war und ist der christliche Anspruch auf eine einmalige und wirkliche Gottessohnschaft Jesu Christi nicht nur für Juden und Muslime, Parsen und Jeziden, sondern auch für Hindus und Sikhs, Daoisten und Konfuzianer immer noch provokant und unverständlich.
Obwohl das für die meisten neuzeitlichen und modernen Europäer nur schwer zu verstehen ist, scheint es Menschen und Völker zu geben, die ihre Unterscheidung zwischen Fakten und Fiktionen, Historie und Mythen kaum kennen und verstehen. Sie scheinen mit einer anderen Mentalität zu leben, die selbst die alltägliche Wirklichkeit ihrer Lebenswelt
nur phänomenal aufgefasst. Sie haben anscheinend (noch) keinen Begriff von objektiver Wirklichkeit, kein Verständnis für die Differenz zwischen Schein und Sein, Mythos und Historie und keine kulturell verbreiteten kognitiven Methoden, das eine vom anderen zu unterscheiden.
Aber das "positive" oder wirkliche Christentum ist nicht nur für den jungen, sondern auch für den reifen und späten Hegel immer ein komplexes kulturelles Gebilde, das sich von seinen Anfängen im antiken Jerusalem vor fast 2000 Jahren bis in unsere Gegenwart hinein geschichtlich entwickelt und verändert hat. Hegel kann jedoch nicht dieses wirkliche oder "positive Christentum" gemeint haben, wenn er es später als "absolute Religion" bezeichnet hat. Denn nach seinem Verständnis ist das "positive Christentum" nur der Inbegriff und die Summe der christlichen Institutionen und Traditio-nen, der kirchlichen Kultusformen mit ihren Riten und Sakramenten und der intersubjektiv geteilten "religiösen Vor-stellungen". Diese Institutionen sind zwar geschichtlich gewachsen, können aber mittlerweile auch verknöcherte und abgestorbene Gebilde ohne einen belebenden und verbindlichen christlichen Geist sein, der von lebendigen und inspirierten Menschen getragen und am Leben erhalten wird.
Wenn Hegel das Christentum als die "absolute Religion" bezeichnet hat, kann er daher nur den christlichen Glauben lebendiger Menschen und Gemeinden gemeint haben, aber nicht die historischen und kulturellen Institutionen des Christentums bzw. der sich immer noch weiter entwickelnden Christentümer nach ihren konfessionellen Spaltungen. Aber wenn Hegel nur den gelebten Glauben von Christen gemeint hätte, dann könnte seine Behauptung, dass der christlichen Glaube die "absolute Religion" sei, als eine harmlose Trivialität verstanden werden. Denn auch die meisten Juden und Muslime, Parsen und Jeziden, Sikhs und Bahais halten jeweils ihre eigene Religion für absolut wahr und gültig. Daher werden in diesem Sinne natürlich auch viele Christen ihre eigene Religion für absolut wahr und gültig halten. Es scheint jedoch, dass die Hindus aufgrund ihres aspekthaften und relationalen Denkens keinen derartigen absoluten und exklusiven Wahrheitsanspruch kennen, der vor allem für die monotheistischen und prophetischen Religionen von Judentum und Islam charakteristisch ist.
Hegel als aufgeklärter und reflektierter Philosoph kann weder nur das "positive Christentum" als historisch ge-wachsene christliche Institutionen noch nur den persönlichen christlichen Glauben gemeint haben. Was Hegel als
bekennender Lutheraner jedenfalls nicht gemeint hatte, waren die beiden Hauptströmungen des geschichtlichen Christentums nach dem großen Schisma zwischen der orthodoxen Ostkirche und der katholischen Westkirche.
Hegel hielt weder die eine noch die andere dieser beiden Kirchen für "die absolute Religion". Denn diese beiden Formen des Christentum gehörten nach dem Schema Joachim de Fiores zum "Reich des Vaters", das durch die Reformation vom "Reich des Sohnes" abgelöst worden war. Hegel meinte vielmehr das protestantische Christentum, aber nicht nur in seinen kirchlich verfassten institutionellen Formen von Luthertum, Calvinismus und Unierten, zu denen auch Friedrich Daniel Schleiermacher als unierter Theologe der Preußischen Staatskirche gehörte.
Hegel war seit seinen Studienjahren in Tübingen aber auch ein enthusiastischer Verehrer der Ideale der Franzö-sischen Revolution, und ein grundsätzlicher Befürworter der Enzyklopädischen Aufklärung von d'Alembert und Diderot. Daher begrüßte er auch grundsätzlich das Ende des Ancien Regime, der Absoluten Monarchie und der
Feudalherrschaft des Adels über die Stände der Bürger, Handwerker und Bauern, das Ende der Leibeigenschaft,
die Französische Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte, die Gründung der Ersten Republik mit ihren Bürger-
rechten zuerst in Frankreich und von da aus auch in einigen anderen Ländern Europas.
Zwar haderte Hegel ähnlich wie Kant und Goethe mit dem gewaltsamen Umsturz der Monarchie und des Adels
durch den blutigen Aufstand der Massen, den Sturm auf die Bastille und den revolutionären Terror eines Danton, Robbespierre und anderer fanatischer Jakobiner. Aber Hegel verstand diese umwälzenden Ereignisse im Nachhinein
als unvermeidliche Folgen des geschichtlichen Ganges des Weltgeistes und als eine geschichtliche Notwendigkeit in einer dialektisch nachvollziehbaren Abfolge der Geschichte der politischen Ideen des objektiven Geistes in den Institutionen. Diesen faktischen Geschichtsverlauf konnten historisch Gebildete, die sich darauf verstehen, zwar im Nachhinein in seiner inneren Entwicklungslogik dialektisch als "vernünftig" nachvollziehen. Aber sie hätten ihn wegen des unvorhersehbaren Einflusses von Individuen, Bewegungen und neuen Ideen trotzdem nicht prognostisch oder
gar prophetisch vorhersagen können.
Weder die universale Geschichte der Menschheit noch die regionale Geschichte des europäischen Abendlandes kann man im Sinne von Karl Marx oder der späteren szientistischen Marxisten nur als quasi automatisch oder mecha-nisch ablaufende, materialistisch vorangetriebene, aber dennoch geschichtlich notwendige Entwicklungen erklären
und verstehen. Denn geschichtliche Ereignisse und Prozesse lassen sich nicht unabhängig von kontingenten, historisch wirksamen Subjekten oder Personen und ihren Intentionen und Entscheidungen alleine aus den ökonomisch-politi-schen Kräften und Konflikten zwischen den gesellschaftlichen Ständen oder ökonomisch-politischen Klassen erklären und verstehen. Die mechanistischen Dampfmaschinenbegriffe des 19. Jahrhunderts taugen nicht zum Verständnis der geschichtlichen Entwicklungen.
Seinem Naturell nach hätte es Hegel sicher mehr entsprochen, wenn sich die Ideale der Französischen Revolution durch gewaltlose und verständige Reformen durchgesetzt hätten. Aber das waren nur die frommen Hoffnungen des intellektuell tätigen Schulphilosophen Hegel, der die Natur des Menschen in der Welt und die Formen des menschlichen Geistes erforschte. Der Weltphilosoph Hegel wusste nur zu gut, dass die privilegierten Mächtigen ihre Privilegien und die ökonomisch-politischen Stützen ihrer Macht nicht freiwillig aufgeben würden. Die Triebkräfte der Weltgeschichte befinden sich nämlich primär in den Emotionen und Motivationen der Menschen, die unter der Einschränkung und Fremdbestimmung ihrer natürlichen Bedürfnisse und Entscheidungen leiden, und die daher zuerst leiblich und seelisch betroffen sein müssen, bevor sie von den sittlichen und politischen Idealen, Prinzipien, Normen und Werten der menschlichen Vernunft ergriffen werden können, die die Weltgeschichte nicht von selbst bewegen können.
Aus eben demselben Grund billigte Hegel als bekennender Lutheraner dem christlichen Glauben auch in seinen aufgeklärten Formen immer noch eine wesentliche und wirksame Rolle in der abendländischen Geistesgeschichte
seit dem Humanismus und der Reformation zu. Daher begnügte sich Hegel aber auch nicht mit dem nur subjektiven Glauben seiner neuzeitlichen Vorläufer und Zeitgenossen Locke, Kant und Jacobi. Denn sowohl John Locke als asso-ziativer Empirist, Immanuel Kant als kritischer Transzendentalphilosoph als auch Friedrich Heinrich Jacobi als intuitiver Glaubensphilosoph verstanden den christlichen Glauben nur noch als einen subjektiven Glauben ohne objektiv nach-weisbaren Wahrheitsanspruch. Damit stellten sie den nur noch subjektiven Glauben dem objektiven Wissen entgegen. Damit schwächten sie jedoch den Protestantismus trotz seiner vormals offensichtlichen weltgeschichtlichen Macht
und stuften ihn zu einer weitgehend ohnmächtigen und nur noch individuell wirkenden Kraft herab.
Dieser subjektivistischen Schwächung des christlichen Glaubens wollte sich der reife Hegel jedoch entgegenstellen. In der langen Geschichte der Christentümer bis zum christlichen Humanismus und zur Reformation gelang das jedoch nur in der Form eines überlieferten Offenbarungsglaubens, der mit den ebenso überlieferten Offenbarungsansprüchen des Judentums und des Islam kollidierte. Aufgrund seiner Begeisterung für die politischen Ideale der Französischen Revolution, die von ihm als säkularisiertes Christentum verstanden wurden, konnte und wollte schon der junge Hegel ebenso wenig wie Hölderlin und Schelling, seine beiden Mitstreiter vom Tübinger Stift, den alten Offenbarungsglauben seiner theologischen Lehrer akzeptieren, da dieser das freie philosophische Denken im Sinne von Spinozas neuer "libertas philosophandi" und Kants "Aude sapere!" allzu sehr einschränken und bestimmen wollte.
Hegels Überwindung von naturalistischer Aufklärung und atheistischer Religionskritik
Dass die Religionen der Menschheit von den Vorstellungen der religiösen Einbildungskraft, der poetischen Imagi-nation oder der schöpferischen Phantasie der Menschen leben, war für Hegel ein anthropologisches Faktum und eine psychologische Selbstverständlichkeit. Denn das ist ganz einfach die beste Erklärung für die große Vielfalt und für die weit verzweigte Geschichte der Religionen von den frühen magischen Naturreligionen über die polytheistischen Reli-gionen der Inder und Ägypter, der Griechen und Römer bis zu den monotheistischen Religionen der Juden, Parsen
und Muslime. Der Begriff objektiver Erkenntnis stammt jedoch aus den neuzeitlichen Wissenschaften und gehört zu ihnen, den meisten Religionen und Konfessionen ist er von Hause aus fremd.
Selbst die verschiedenen Theismen mit ihrer religionsphilosophischen Abkehr von den polytheistischen und mono-theistischen prophetischen Offenbarungsreligionen der Juden, Parsen und Muslime mit ihren alten mythischen Vor-stellungen von Gott als einem allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, der Tiere und der Menschen, leben
von bestimmten Vorstellungen. Denn sogar die klassischen Prädikate Gottes, die ihm entweder etwas abstrakter zuschreiben, dass er ewig und allgegenwärtig sei oder etwas anthropomorpher, dass er allmächtig und allwissend, gerecht und gütig, geduldig und barmherzig, etc. sei, entspringen doch gewissen Vorstellungen von Gott, die sich Menschen aufgrund ihrer Selbsterfahrung und den Erfahrungen anderer Menschen gemacht haben. Entscheidend
ist dabei jedoch immer die Wahrheitsfrage, ob diese Vorstellungen wahr sind, und die philosophische Vernunftfrage,
ob sie sich rational begründen lassen.
Selbst die verschiedenen Pantheismen mit ihrer philosophischen Abkehr von den historischen Polytheismen sowie
von den Monotheismen der prophetischen Offenbarungsreligionen der Juden, Parsen und Muslime mit ihren alten mythologischen Vorstellungen von Gott als einem allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erde, der Tiere und
der Menschen, leben von abstrakten Vorstellungen und Abstraktionen von Vorstellungen. Sogar das eine, ewige und immer gleiche Sein des Parmenides, das ungeschiedene Eine Plotins, das immerwährend prozesshafte Pantha Rhei Heraklits und die schöpferische Natura naturans Spinozas leben von den Vorstellungen der Menschen. Denn selbst
wenn diese Philosophen damit gerungen haben, über ihre bildlichen Vorstellungen, unterscheidenden Begriffe und über alles überhaupt Vorstellbare hinauszugehen, um zu einem unvorstellbaren Einen zu gelangen, bleibt das eine interne geistige Auseinandersetzung mit dem eigenen produktiven Vorstellungsvermögen des Menschen.
Auch ein mehr wissenschaftlich denkender Aristoteles muss sich jenseits der schier endlosen Kette der Ursachen und Wirkungen in der Welt etwas produktiv vorstellen, wenn er postuliert, dass es einen absoluten ersten Beweger gegeben haben muss, der die ganze Kette der weltlichen Verursachungszusammenhänge in Gang gebracht hat. Dieser psycho-logischen Notwendigkeit, in der Kosmologie und Metaphysik mit seiner produktiven Einbildungskraft über die empirisch beobachtbaren Zusammenhänge hinausgehen zu müssen, entgehen auch John Locke und die neuzeitlichen Deisten nicht. Nach Kant liegt es zwar in der menschlichen Natur und ihrer eigentümlichen Vernunft, solche Fragen zu stellen,
die sie selbst nicht sicher beantworten kann. Aber ohne die produktive Einbildungskraft der Menschen können nicht
nur keine vernünftigen Antworten gegeben werden. Sie können ohne sie noch nicht einmal vernünftig gestellt werden.
Daher war es nicht besonders originell, als Ludwig Feuerbach als Linkshegelianer nach Hegel seine religionskritischen Projektions-Thesen aufgestellt hatte. Es versteht sich nämlich von selbst, dass die Gottesgedanken und Gottesbilder der Menschen Geschöpfe ihrer produktiven Einbildungskraft sind. Das gilt sogar für alle wissenschaftlichen Hypothesen, die über die unmittelbare Erfahrung von den Situationen und Gegenständen, Ereignissen und Prozessen in der Lebenswelt hinausgehen. Die Frage ist doch in beiden Fällen nur, ob damit etwas Widerspruchsfreies und Sinnvolles gemeint, etwas Wirkliches begriffen und etwas Nützliches und Gutes bewirkt wird. Daher ist die Theologie insgesamt ebenso wenig einfach nur eine sich selbst missverstehende Anthropologie wie die Logik oder Mathematik, wie die Physik oder die Kosmologie.
Außerdem besagt die bloße Tatsache, dass ein Projektor einen Film auf eine leere, weiße Leinwand projiziert, noch gar nichts über die Art und Qualität dieses Films aus. Handelt es sich um eine fiktives Drama, um einen spannenden Krimi, um eine effekthascherischen Horror-Thriller, um eine unterhaltsame Komödie oder um eine Dokumentation, die eine Geschichte möglichst wahrheitsgemäß wiederzugeben versucht? Was die Religionen und Konfessionen der Menschheit lehren, mögen metaphysische Projektionen der menschlichen Einbildungskraft auf die leere Leinwand des Seins oder des Nichts sein. Aber es kommt zumindest darauf, ob und wieviel Wahres und Gutes sie lehren und auf welchem ästhetischen Niveau. In diesen beiden Hinsichten unterscheiden sich jedoch die Religionen und Konfessionen der Menschheit und sie können unmöglich alle gleichwertig sein. Wer sich nur zu dieser bloßen Vielfalt bekennt, negiert völlig ihre jeweiligen Ansprüche auf Wahres und Gutes sowie ihre unterschiedlichen ästhetischen Niveaus. Diese scheinbar tolerante Haltung kannn jedoch leicht in einem gleichgültigen Subjektivismus und Relativismus umkippen.
Hegels Interesse an der Religionsgeschichte mit ihrer ganzen Vielfalt religiöser Vorstellungen in den verschiedenen Religionen und Konfessionen akzeptiert ganz einfach, dass die Religionen wie die Künste der gemeinsamen schöpfe-rischen Natur des Menschen entspringen. Sobald eine Religionskritik nicht nur die Religionen vergleicht, bewertet und beurteilt so wie Kunstkritiker die Kunst, Musikkritiker die Musik und Literaturkritiker die Literatur vergleichen, bewerten und beurteilen, sondern sich stattdessen der Hoffnung einiger Atheisten und Naturalisten hingeben, dass Religionen ganz verschwinden würden und sich durch die Wissenschaften ersetzen ließen, geben sie sich einer Illusion hin und verfehlen ein tieferes Verständnis der menschlichen Natur. Hegel ist der eigentliche Aufgeklärte, der die condition humaine versteht und nicht die nur vermeintlich aufgeklärten Atheisten und Naturalisten .
Hegels Überwindung der pietistischen und romantischen Gefühlsreligion
Friedrich Daniel Schleiermacher suchte gegen die atheistischen, materialistischen und szientistischen Tendenzen der radikalen und szientistischen Aufklärung eine neue Synthese zwischen dem bibeltreuen Herrnhuter Pietismus seiner Herkunft und Jugend, dem neostoischen Pantheismus Spinozas, der epistemologischen Metaphysikkritik Kants und der vielschichtigen spekulativen Weltanschauung der platonischen Dialoge. Dazu erklärte Schleiermacher den christlichen Glauben zu einer Sache des Gefühls der "schlechthinnigen Abhängigkeit" oder des allgemeinen, kosmisch-religiösen "Sinns und Geschmacks für das Unendliche". Zwar hatte Schleiermacher gegen Kants Religionsphilosophie darin Recht, dass der christliche Glaube wie im Übrigen auch keine andere Religion nicht ganz in der Metaphysik und Moral auf-gehen kann. Sie ist zwar auch ein innerer Kampf zwischen Gut und Böse im menschlichen Gemüt, aber sie kann nicht wie bei Kant nur von einer apriorischen "Metaphysik der Sitten" der obersten und rationalen Prinzipien der Moral (und des Rechtes) handeln.
Obwohl Schleiermacher erkannt hatte, dass weder der christliche Glaube noch die menschliche Religion ganz in spekulativer Metaphysik und rationaler Moral aufgehen können, sondern einer intuitiven Ahnung und spezifisch menschlichen Ehrfurcht vor einer höheren Macht im menschlichen Gemüt entspringen, konnte sich Hegel nicht mit
dessen Gedanken anfreunden, dass der religiöse Glaube im Allgemeinen und der christliche Glaube im Besonderen
nur eine Sache subjektiver Emotionen (also der Empfindungen, Affekte, Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen)
und damit der vereinzelnden romantischen Subjektivität wären. Dagegen sprachen nicht nur Hegels intellektuelle Vorliebe für eine spekulative Überwindung der kantischen Metaphysikkritik, sondern auch seine minutiösen Betrach-tungen und geistesgeschichtlichen Deutungen der Geschichte der Religionen mit ihren kulturbildenden Kräften.
Friedrich Daniel Schleiermacher hatte jedoch auch schon verstanden, dass es angesichts von Spinozas Bibelkritik
und der aufgeklärten historisch-kritischen Lektüre und Interpretation der biblischen Schriften keinen Weg mehr zurück zum Offenbarungspositivismus der Reformatoren geben konnte, denen zufolge die Bibel als Ganze -- ähnlich wie der Koran -- einfach nur als eine von Gott geoffenbarte und daher fehlerlose, geschichtslose und unantastbare Heilige Schrift genommen, gelesen und gedeutet werden konnte. Obwohl es durchaus eine Inspiration durch den Heiligen
Geist gibt, insofern jemand durch das Gnadengeschenk einer geistlichen Wiedergeburt den Heiligen Geist erfahren hat, ist die textuell angemessene Interpretation des historisch-kritisch verstandenen Textbestandes der biblischen Schriften eine Sache der Auseinandersetzung zwischen (inspirierten) Interpreten, anderen (inspirierten) Interpreten und den historisch-kritisch gesichteten und bewahrten Textbeständen.
Hegel war sich jedoch über Kant und Schleiermacher hinausgehend darüber klar geworden, dass die philosophische Einsicht ins Absolute weder auf dem philosophischen Wege des Verstandes der kantischen Metaphysikkritik möglich war, zumal das gegen Kants Intentionen zum Atheismus, Empirismus, Materialismus und Szientismus führen konnte, noch auf den theologischen Wegen des reformatorischen Offenbarungspositivismus noch auf dem religionsphilo-sophischen Wege einer subjektivistischen, pietistischen oder mystizistischen Verabsolutierung religiöser Emotionen, seien es nun leibliche Empfindungen, seelische Gefühle, geistige Intuitionen, persönliche Leidenschaften oder auch existenzielle Stimmungen wie bei vielen Frommen und Mystikern aller Weltreligionen einschließlich des Christentums.
Welcher Art und Qualität, Extensität und Intensität auch immer religiöse Emotionen sein mögen, sie begründen an
und für sich keine (inter)subjektiven oder objektiven Wahrheitsansprüche, sondern immer nur subjektive oder inter-subjektive Neigungen, einen propositionalen oder satzförmigen Denkinhalt für wahr oder falsch, real oder irreal, wahrscheinlich oder unwahrscheinlich, möglich oder unmöglich zu halten. Es gibt jedoch keinen intellektuell redlichen Weg alleine von einem emotional angeregten Fürwahrhalten irgendwelcher religiöser Glaubensinhalte zu einem begründeten Wissen von ihnen. Wie könnte dann aber noch von einem absoluten Wahrheitsanspruch des christ-lichen Glaubens in einer biblisch und hermeneutisch angemessenen Auslegung des Evangeliums die Rede sein?
Hegels Verteidigung der Freiheit eines Christenmenschen
Hegels Auffassung vom Wesentlichen des christlichen Glaubens steht im bewussten Gegensatz zu der Auffassung Schleiermachers, dass der christliche Glaube ein bloßes Gefühl der "schlechthinnigen Abhängigkeit" von "einer höheren Macht" sei. Hegel knüpfte vielmehr an Luthers Gedanken in seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" an und hielt das Wesentliche des christlichen Glaubens für ein spezifisch christliches Bewusstsein der Freiheit.
Da es jedoch verschiedene Begriffe von Freiheit gibt, ist zu fragen, welchen Begriff und welche Art von Freiheit er
dabei wohl gemeint hat: Klar ist nur, dass er eine spezifische christliche Freiheit gemeint haben muss, d.h. eine Freiheit, die nicht einfach allen Menschen als Menschen zugänglich ist, sondern eine Freiheit, die den Menschen erst durch das Evangelium und durch einen lebendigen und verständigen Glauben an Jesus Christus zuteil werden kann.
Zu unterscheiden sind: (1.) Die Wahlfreiheit der Fähigkeit zwischen Objekten, Verhaltens- und Handlungsoptionen zu wählen (positive freedom or freedom of choice). (2.) Die emotionale Willensfreiheit, frei von affektiven Störungen (Ängsten, Depressionen, Manien, Süchten, Zwängen, etc.), aber nicht frei von natürlichen Dispositionen und persön-lichen Motiven zu wählen (inner freedom or emotional freedom of the will). (3.) Die inhibitorische Willensfreiheit als die Fähigkeit, spontan innezuhalten und sich nicht von seinen natürlichen Dispositionen und persönlichen Motiven be-stimmen zu lassen (inhibitory freedom). (4.) Die Willkürfreiheit als die Fähigkeit, sich spontan von seinen natürlichen Dispositionen, aktuellen Impulsen und persönlichen Motiven bestimmen zu lassen (spontaneous freedom of self-determination). (5.) Die vernünftige Freiheit als die Fähigkeit des seelisch gesunden Menschen, seine eigene Über-zeugung und Willensentscheidung nach Abwägungen und Überlegungen aufgrund von zweckrationalen oder moralischen Gründen zu bestimmen. (rational freedom of the will). (6.) Die geistige Freiheit als die Fähigkeit der erörternden und bewertenden Reflexion über Probleme oder Themen in verschiedenen Hinsichten (freedom
of the mind). (7.) Die Handlungsfreiheit, unter äußeren Umständen, frei von äußeren Einschränkungen und Hinder-nissen wählen und handeln zu können (negative freedom or freedom of action). (8.) Die politische Freiheit als die persönliche Fähigkeit, als die grundrechtliche Erlaubnis oder als das verfassungsmäßige Recht, ganz bestimmte bürgerliche Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen (liberty), wie z.B. die Bewegungs-, Meinungs-, Rede-, Publikations-, Wissenschafts-, Religions-, Kunst- und Versammlungsfreiheit, Freiheit der Demonstration, aktives und passives Wahlrecht, Recht auf friedlichen Widerstand, etc.
Die christliche Idee der Freiheit hat ursprünglich mit der Befreiung von Sünde, d.h. von der natürlichen Gottlosigkeit oder subjektiven Gottesferne zu tun. Das unbestimmte "Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit" von irgendeiner "höheren Macht" ist noch kein Glaube im jüdischen, christlichen oder islamischen Sinne. Juden, Christen und Muslime verstehen ihren Glauben als eine persönliche Einstellung und Überzeugung, die durch einen aktiven Bekenntnisakt
und nicht nur durch ein passives Gefühl bestimmt und ausgedrückt wird. Juden bekennen sich in ihrem Glaubens-bekenntnis des Sch'ma Israel zu Jehova, dem einen Gott Israels. Muslime bekennen sich in ihrem islamischen Glaubensbekenntnis zu Allah, dem einen Gott und zu seinem Propheten Mohammed. Christen bekennen sich in ihrem trinitarischen Glaubensbekenntnis zu Gott dem Schöpfer des Himmels und der Erde, zu Jesus Christus, seinen einzigen Sohn und zum Heiligen Geist, den sie durch Vater und Sohn empfangen.
Aber weder Juden noch Muslime kennen die christliche Freiheit von den rituellen und moralischen Geboten im Gehorsam gegen Gott. Juden und Christen stehen insofern in der heteronomen Pflicht zum Gehorsam gegenüber den
offenbarten Geboten Gottes, der für sie eine absolute Autorität ist. Zwar glauben auch sie nicht nur an die strafende Gerechtigkeit Gottes, sondern auch an seine gütige Barmherzigkeit. Aber, wenn sie sich im Laufe ihres Leben schwer versündigt und gegen wichtige Gebote Gottes verstoßen haben, dann haben sie keinen Anwalt und Fürsprecher, der
sie vor den gerechten Zorn Gottes bewahrt. Daher bleibt ihnen nichts Anderes übrig, als Buße zu tun, um sich durch rituelle Opfer und gute Werke wieder Gottes Gnade zu verdienen.
Christen hingegen, die durch den Glauben an das Evangelium und durch eine lebendige Beziehung zu Jesus
Christus Gottes Gnade erfahren haben, treten aus der strengen Unterordnung unter die rituellen und moralischen Gebote heraus und beginnen ein neues Leben in der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Der strenge Richtergott dankt ab und Gott wird zu einem Gott der Liebe. Von da an verstehen sie sich als Christenmenschen, die Gott nicht mehr meiden und fürchten müssen, sondern seine Nähe suchen und finden können, sodass sie ihn lieben können, weil sie sich von ihm zuerst geliebt wissen. Das neue Leben in der Liebe Gottes, das die Liebe zum Anderen mit der Liebe zu sich selbst ermöglicht, muss zwar immer noch gelernt werden und fällt einem nicht von ganz alleine zu. Aber es wurde möglich, da sie aus dem Worte Gottes wissen, dass Gott in seinem Sohn Jesus Christus Mensch geworden ist und sich ihnen hingegeben hat bis zu seinem Tod am Kreuz von Golgatha, wo er für ihre seelisch-geistige Befreiung gestorben ist.
Lutheraner wie Hegel teilen zwar mit allen anderen Christen das trinitarische Glaubensbekenntnis, aber sie leugnen anders als die orthodoxen Christen der Ostkirche und anders als die römisch-katholischen Christen der noch nicht reformierten Westkirche die Heilsnotwendigkeit der Vermittlung der Gnade Jesu Christi entweder durch orthodoxe Popen, den orthodoxen Ritus und die Ikonen oder durch katholische Priester, die Heilige Messe und die Eucharistie. Lutheraner, Reformierte und Unierte teilen die reformatorische Überzeugung, dass es keiner kirchlich-rituellen Vermittlung des Glaubens und der Gnade mehr bedarf, sondern nur noch einer Verkündigung des befreienden
Wortes Gottes im Evangelium und einer angemessenen Ausübung der erinnernden und verinnerlichenden Sakra-
mente von Taufe und Abendmahl. Christen können sich direkt an Gott und Jesus Christus wenden. Dazu bedarf es
keiner kirchlich-rituellen Vermittlung mehr. Jesus Christus alleine ist der Mittler zu Gott.
Ist ein so verstandener Absolutheitsanspruch gefährlich?
Die Gnade Gottes ist nach reformatorischem Verständnis ein unverfügbares Geschenk Gottes und kein für Priester und ihre Kirchen verfügbares sakramentales Mittel, um Andere von der Sünde zu befreien. Gott und Jesus Christus alleine befreien die Menschen, die sich in Glaube und Gebet an sie wenden. Es bedarf keiner sakramentalen Riten, keiner Opfer und keines Ablasshandels, um von Gott angenommen und geliebt zu werden. Nach Luther sind und bleiben zwar auch Christenmenschen, die durch das Evangelium zum Glauben gefunden haben, vor Gott Sünder,
aber dennoch werden sie durch den Glauben zurecht gebracht und gerecht gesprochen.
Luthers reformatorische Lehre von der Rechtfertigung der Sünder war jedoch mit einigen Aussagen Jesu in den Evangelien und im Jakobusbrief über die guten Werke, die aus einem lebendigen Glauben hervorgehen (sollen) nicht vereinbar. Der Glaube darf nicht zu einem Freibrief für Anarchie und menschliche Willkür, Selbstgerechtigkeit und
Selbstherrlichkeit, Hochmut und Bosheit werden, wie das bereits in den Bauernkriegen bei den Schwärmern geschehen war und wie das auch in den reformatorischen Kirchenkämpfen und schrecklichen Glaubenskriegen geschehen ist.
Dass Hegel mit den Gewaltakten in der Französischen Revolution haderte und dass er wie Kant die vernünftige Freiheit der gewissenhaften und verantwortlichen Menschen über die bloße Willkürfreiheit gewissen- und verantwortungsloser Menschen gestellt hatte, zeigt, dass er sich dem protestantischen Reformator Martin Luther und nicht dem freigeistigen Schwärmer Thomas Müntzer verbunden gefühlt hatte. Daher ist und bleibt auch für den reifen Hegel der Kern des Evangeliums die lebenslange Hingabe Jesu Christ an Gott und die Menschen bis zu seinem Tod am Kreuz und seine wunderbare leibliche Auferstehung als Überwindung der verängstigenden Schrecken des Todes, aus der eine neue Freiheit der Liebe erwächst.
Anders als Kant und Hölderlin bekannte sich Hegel daher nicht nur zur "unsichtbaren Kirche" aller "Menschen guten Willens", sondern auch zur sichtbaren Kirche Jesu Christi in ihrer lutherisch-reformierten Form. "Absolute Religion"
kann aber dabei für Hegel nicht die amtskirchliche Institution selbst sein, sondern nur das Leben einzelner Christen
und die Teilhabe an einer lebendigen Gemeinde der gläubigen Hörer und der verständigen Verkünder des Evangeliums. Das Evangelium ist nämlich eine geistliche Kraft, die auf die Gemüter der Menschen wirken und die sie wirksam und spürbar von Gottlosigkeit und Gottesferne befreien und zu einer Versöhnung mit Gott verhelfen kann.
Ist ein so verstandener Absolutheitsanspruch gefährlich? Nein, denn weder die erlebte Versöhnung selbst noch eine Zusammenkunft versöhnter Christenmenschen ist für irgendjemand gefährlich. Solange die Gläubigen dem Evangelium
treu bleiben, werden sie nicht nur Dialoge mit Juden, Muslimen und Anderen führen, sondern vielleicht auch für ihren Glauben werben. Aber sie werden sich nicht über Andere überheben, sondern sich nur dafür dankbar erweisen, dass sie selbst zu einem solchen lebendigen, befreienden und versöhnenden Glauben gefunden haben. Da aus einem solchen lebendigen Glaube, einer solchen Liebe und Hoffnung keine Anfeindung Anderer und keine Gewalt gegen Andere ent-stehen können, ist der so verstandene Absolutheitsanspruch keine Gefahr für einen selbst oder für Andere.