Theologisches Leitbild

 

 

 

Zwanzig Punkte für eine Erneuerung des christlichen Glaubens

 

Prof. Dr. Siegfried Zimmer

 

In den folgenden 20 Punkten fasse ich das zusammen, was mir im Blick auf eine Erneuerung des christlichen Glaubens besonders wichtig erscheint.

 

Mit „Erneuerung“ meine ich eine Belebung und Erfrischung des Glaubens, die mich aus alten Gewohnheiten und Verkrustungen löst und in der ich das ABC des Glaubens noch einmal neu durchbuchstabieren kann. Als Christ auf eine solche Erneuerung zu hoffen und sich für sie einzusetzen, halte ich in der gegenwärtigen Situation für angemessen und lohnenswert.

 

Zu einer Erneuerung gehört es auch, das Alte neu zu entdecken. Ich möchte einerseits ein klares Profil zeichnen, andererseits einen möglichst breiten Konsens unter uns Christen erreichen. Ich habe nicht den Anspruch, etwas Neues zu sagen, das bisher übersehen wurde. Es geht mir viel mehr um eine produktive, qualifizierte Verbindung von Bewährtem bzw. Unverzichtbarem mit Zeitgenössischem und mit Entwicklungen, die auf uns zukommen.

 

Dieses Leitbild will nicht belehren, sondern motivieren und zur Diskussion einladen.

 

Die Erneuerung …

1. … ist konzentriert und gegründet auf Jesus Christus, dem Erfreulichsten und Glaubwürdigsten was Christen in religiöser Hinsicht kennen, weil er den Menschen Gott nahebringt und sie auf einzigartige Weise für Gott gewinnen kann. Mit Jesus Christus steht und fällt der christliche Glaube. Ohne ihn gäbe es keinen christlichen Glauben. Entscheidend für das Christsein sind nicht Moral, bestimmte Programme, Fragen des Lebensstils oder der Welt-anschauung – so wichtig diese Aspekte auch sind – sondern entscheidend ist dieser Mann. Was er gesagt und getan hat, wie er starb und wie Gott an ihm gehandelt, ihn von den Toten auferweckt hat, ist für Christen maßgebend. Es geht darum, dass dieser Mann uns auf tiefere Weise beeindruckt und berührt, wir ihm vertrauen lernen und durch ihn zu Gott finden. Das wird sich auf alle Lebensbereiche auswirken.

2. … ist ausgerichtet auf Gott, den Grund aller Wirklichkeit. Alles was ist, verdankt sich ihm. Er ist das faszinierende Geheimnis des Lebens, das große Abenteuer des Daseins, das unerwartete Versprechen. Er ist der Menschenfreund, weil er die Liebe ist. Es kann uns nichts Besseres passieren als Gott. Das Leben ist etwas Gutes — auch wenn es leider oft nicht danach aussieht —, weil es von einem Guten kommt. Gott als Grund der Wirklichkeit bürgt dafür — auch wenn leider Vieles schroff dagegen spricht —, dass alles einen Sinn und ein Ziel hat. Der Mensch kann und soll sich kein Bild von Gott machen, weil Gott sich dem Vorstellungsvermögen und dem Zugriff des Menschen entzieht. Der Mensch ist anfällig dafür, die Berufung auf Gott für eigene Interessen auszunutzen und auch politisch zu instrumentalisieren. Der Mensch kann mit dem Wort „Gott“ Schindluder treiben und hat es schon häufig getan. Darum müssen alle religiösen, auch christlichen Glaubensvorstellungen und deren Auswirkungen immer wieder neu, kritisch geprüft werden.

3. … geschieht im Vertrauen auf das Wirken des Heiligen Geistes und im Vertrauen auf unsere Beziehung zu Gott im Gebet; der Heilige Geist schafft Gemeinschaft (Gemeinde) und bewirkt eine schöpferische Vielfalt in den Ausdrucks-formen des Glaubens. Er ermutigt, weckt Sehnsucht und Neugier. Er fördert ein achtsames, rücksichtsvolles Miteinander ohne Herrschaft von Menschen über Menschen.

4. … ist orientiert an der Botschaft der Bibel als unerschöpfliche Quelle der Inspiration; ist gekennzeichnet durch neue und vertiefte Zugänge zu den Texten der Bibel, ihrer sorgfältigen Interpretation unter angemessener Beachtung der damaligen (kultur)geschichtlichen Zusammenhänge und des inzwischen eingetretenen geschichtlichen Wandels. Es gibt keine Erneuerung des christlichen Glaubens ohne neue Zuwendung zur Heiligen Schrift. Martin Luthers „sola scriptura“ (allein die Schrift) ist gerade auch in modernen, pluralistischen Gesellschaften unverzichtbar. Jesus Christus ist die Mitte der Heiligen Schrift und der Maßstab für ihre Auslegung. Man kann allerdings auch die Bibel missbrauchen. Nicht wenige Menschen wurden im Namen der Bibel in eine religiöse Enge und Angst geführt.

5. … geschieht in Bewunderung der Schöpfung und in der Freude an ihr; im Verbundenheitsgefühl mit allen Geschöpfen Gottes und in Verantwortung für die Schöpfung. Das Geschaffen-sein verleiht allen Geschöpfen Gottes, auch der Schöpfung insgesamt, eine unverlierbare Würde.

6. … geschieht im Ernstnehmen des Bösen: keine Verharmlosung oder Unterschätzung der zerstörerischen Kraft des Bösen, dennoch keine Angst vor dem Bösen, sondern Zuversicht in Gottes Handeln; geschieht auch im Ernstnehmen des unschuldigen Leids, das uns sprachlos machen kann und angesichts dessen wir keine Antwort haben.

7. … geschieht mit realistischem Blick für die Verstrickung des Menschen in Schuld (Sünde), im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott, auch nach dem Tod; ist getragen von der Barmherzigkeit Gottes als Basis aller unserer Zuversicht. Die Erfahrung des Schuldigwerdens gehört in allem geschichtlichen Wandel zu den bleibenden Kennzeichen des Menschseins.

8. … geschieht im Betonen des Geschenkcharakters des Glaubens und seiner befreienden Kraft: Befreiung des Gewissens aus gesetzlichen Zwängen, Befreiung zur Dankbarkeit und zum Tun des Guten sowohl im privaten als auch im gesellschaftlichen Bereich. Der Mensch kann den Glauben nicht machen. Der Glaube ist ein unverdientes Geschenk. Deshalb hat ein Christ keinen Grund, über Nichtchristen abwertend zu sprechen.

9. … geschieht in der Bereitschaft zu gesellschaftspolitischer Mitverantwortung: Der Barmherzigkeit verpflichtet und dem Bemühen um Recht, Gerechtigkeit und Frieden. Ein Christ darf sich an Unrecht nicht gewöhnen und darf Unrecht nicht verharmlosen. Die weite Verbreitung von Armut, Hunger und Elend ist für Christen eine fundamentale Heraus-forderung und Bewährungsprobe.

10. … geschieht im Wissen um die spezifische Rolle der Kinder. In der Botschaft Jesu haben Kinder eine einzigartige Bedeutung. Gott steht zu Kindern in einer besonderen Beziehung. Die Zuwendung zu Kindern, deren Förderung und Pflege ist von herausragender Bedeutung. Es gibt für die Christenheit und die Gesellschaft keinen größeren Schaden als die Vernachlässigung und den Missbrauch von Kindern. Zu einer Erneuerung des christlichen Glaubens gehört eine psychisch gesunde christliche Erziehung, die Kinder nicht in die Enge führt, sondern ihnen einen weiten Horizont und ein stabiles Selbstwertgefühl ermöglicht.
11. …  geschieht in allgemeinverständlicher Sprache, anschaulich und kurzweilig, informativ, aber vor allem auch die Herzen berührend, ohne akademische Fachsprache, ohne kirchliche Insidersprache.

12. … geschieht in besonderer Verbundenheit mit dem jüdischen Glauben als unserer Wurzel. Jesus aus Nazareth war ein Jude. Juden und Christen gemeinsam sind nach biblischer Sicht das Volk Gottes. Die jüdische Bibel – die wir Christen „Altes Testament“ nennen – ist nicht etwa nur die Vorstufe zum Neuen Testament, sondern dessen Basis. Die Erneuerung geschieht im fairen und freundlichen Kontakt und Dialog mit anderen Religionen, insbesondere auch mit dem Islam; ist engagiert im interreligiösen Lernen.

13. … geschieht in der Wertschätzung von Bildung und Wissenschaft. Bildung wird hier nicht verstanden im Sinn von Prestige und Status, sondern das Ziel ist Bildung für alle; geschieht in der Zusammenarbeit mit der Universitäts-theologie, mit kritischer Wahrnehmung derjenigen christlichen Gruppen, die – direkt oder indirekt – bildungsfeindliche Tendenzen haben und ein Schwarz-Weiß-Denken bzw. das Entstehen von Vorurteilen und Feindbildern begünstigen.

14. … geschieht in der Würdigung von Kunst, Kultur und Körper: z.B. von Fantasie, Kreativität, Rhythmus, Bewegung; geschieht in der Förderung der unterschiedlichen Talente. Keine Abwertung des Körperlichen gegenüber dem Seelischen.

15. …ist sowohl emotional und sinnlich geprägt als auch durch denkerische Qualität in der Freiheit des Denkens und Fragens. Die Vernunft ist genauso ein Geschenk Gottes wie der Glaube. Deshalb widersprechen und behindern sich für Christen Glauben und Denken nicht, sondern ergänzen, bereichern und korrigieren bzw. klären sich gegenseitig.

16. … ist ihrem Charakter nach nahe am heutigen Leben – auch am Leben junger Menschen –, einladend und verbind-lich, weltoffen statt altmodisch, mutig statt ängstlich.

17. …geschieht in der Freude am Lernen, am Entwickeln der eigenen Persönlichkeit, am Überwinden von Vorurteilen bzw. Feindbildern. Hunger nach Qualität ist besser als schnelle Zufriedenheit. Entdeckerlust ist besser als bloße Anpassung an das Gewohnte. Zur Erneuerung gehört aber auch die Bereitschaft zur Selbstkritik und Selbstrelativierung. Bescheidenheit ist das Siegel der Wahrheit.

18. … führt zu einer tiefgreifenden Reform der traditionellen volkskirchlichen und freikirchlichen Gottesdienste. Diese sind – Ausnahmen bestätigen die Regel – in Liturgie, Sprache, Musik bzw. Liedgut zu weit entfernt vom Lebensgefühl der heutigen Menschen. Die große Zeit der Orgel als das alles dominierende gottesdienstliche Musikinstrument geht ihrem Ende entgegen. Die Vielfalt der Instrumente und der heutigen Popularmusik sind im Gottesdienst wesentlich stärker zu berücksichtigen. Wichtig ist eine zunehmende Zahl von Alternativgottesdiensten, in denen man entschlossen neue Wege geht, auch was z.B. die Uhrzeit der Gottesdienste betrifft. Ein langweiliger Gottesdienst ist ein Widerspruch in sich selbst.

19. … geschieht in Predigten, die sich stärker an säkulare Menschen wenden und keine Vorkenntnisse voraussetzen. Sie sind vor allem glaubensweckend und vergewissernd. Die Fragen „Wie entsteht Interesse an Gott und am christlichen Glauben? Inwieweit ist ein Leben mit Gott angemessener, sinnvoller und beglückender als ein Leben ohne Gott?“ sind in Zukunft viel wichtiger als bisher. Sie verdienen auch eine intensivere wissenschaftliche Erforschung.

20. … geschieht weder im Rahmen konservativer bzw. evangelikaler, noch im Rahmen liberaler Theologie und Frömmig-keit. Die Erneuerung des christlichen Glaubens überwindet diese Polarisierung und lässt sie hinter sich. Sowohl die konservative als auch die liberale Theologie und Frömmigkeit beinhalten berechtigte und wertvolle Aspekte, die volle Anerkennung verdienen. Beide sind aber auch beeinträchtigt durch erhebliche Einseitigkeiten und Ausblendungen. Wichtig ist die Gesprächsbereitschaft nach beiden Seiten. Brücken bauen ist besser als Gräben aufreißen und Schub-ladendenken.
Wenn es auch bei der Erneuerung darum geht, religiöse Engstirnigkeiten zu überwinden – und dafür gegebenenfalls auch energisch zu kämpfen –, bleibt es dennoch von grundlegender Bedeutung, das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Einheit aller Christen zu stärken. Mit „Einheit“ der Christen ist keine lehrmäßige Einheit gemeint – die haben wir in 2000 Jahren nicht erreicht und werden sie auch in absebarer Zeit nicht erreichen –, sondern eine vom Heiligen Geist gewirkte Einheit der Herzen.