Gedächtniskirche in Berlin
"Die Schwäche der Kirche hat auch mit einer Glaubenskrise zu tun"
Präses Irmgard Schwaetzer sieht Lage der evangelische Kirche sehr ernst
Rund 270.000 Menschen sind im Jahr 2019 aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Zudem sterben mehr Mitglieder als neue dazukommen. Die Kirche schrumpft und muss sich für die Zukunft neu ausrichten. Im November soll die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) dazu wegweisende Beschlüsse fällen. Präses Irmgard Schwaetzer erläutert im Gespräch, welche Ideen auf dem Tisch liegen und wie die Corona-Krise die finanzielle Lage noch verschärft.
epd: Frau Schwaetzer, die evangelische Kirche berät seit zwei Jahren, wie sie sich für die Zukunft aufstellt. Wegen der sinkenden Mitgliederzahl will sie bis 2030 ein Drittel der Kosten einsparen. Dazu kommt nun ein mit der Corona-Krise erwarteter Einbruch der Steuermittel. Wie ernst ist die Lage?
Irmgard Schwaetzer: Schon sehr ernst, aber wir werden uns auch nicht entmutigen lassen. Die Corona-Krise hat offengelegt, dass die Schwäche der christlichen Kirche auch mit einer Glaubenskrise zu tun hat. Wir wollen zuallererst also mit einer geistlichen Orientierung dagegenwirken, uns selbst neu ausrichten. Natürlich gibt es daneben die Finanzdiskussion. Wir gehen davon aus, dass wir allein für dieses Jahr mit einem Rückgang der Kirchensteuer um 10 bis 25 Prozent rechnen müssen.
epd: Der Rat der Evangelischen Kirche und Deutschland (EKD) und die Kirchenkonferenz - der Zusammenschluss der Landeskirchen - haben Pläne für die zukünftige Ausrichtung beschlossen, über die im November die Synode entscheiden muss. Ganz konkret: In welchen Bereichen wird gespart werden müssen?
Schwaetzer: Für alle Bereiche, in denen die evangelische Kirche überregional aktiv ist, wird eine Neukonzeptionierung vorgelegt. Das geht an einigen Stellen mit einem Rückfahren von Ressourcen einher, an anderen Stellen mit einer Weiterführung, an wenigen auch mit einem Aufwuchs. Entschieden wird nach Priorität. Dafür haben wir Kriterien entwickelt: Es muss der Gemeinschaftsbildung in der evangelischen Kirche nutzen, die Mitgliederbindung stärken und die öffentliche Präsenz der evangelischen Kirche fördern.
epd: Können Sie es an konkreten Beispielen deutlich machen: Was muss weg, was bleibt, was wird ausgebaut?
Schwaetzer: Das kann man heute noch nicht sagen. Zunächst muss mit denen gesprochen werden, die von der neuen Zuordnung von Ressourcen betroffen sind.
epd: Es gibt den Vorschlag, Mehrfachstrukturen in Landeskirchen abzubauen. Sie sprachen von "Gemeinschafts-bildung". Bekommt die föderal geprägte evangelische Kirche eine zentralere Struktur?
Schwaetzer: Wir wollen die evangelische Vielfalt, aber mit einem stärkeren Gemeinschaftsgeist. Kirchenleitungen müssen bei Entscheidungen benachbarte Kirchen und die Gesamtkirche künftig stärker im Blick haben.
epd: Ist da nicht Widerstand aus den Landeskirchen zu erwarten?
Schwaetzer: Alle Pläne sind in einem Zusammenspiel zwischen Landeskirchen, Rat der EKD und Synode erarbeitet worden. Daher habe ich die Befürchtung nicht.
epd: Gibt es auch Einsparpotenzial bei einer Art ökumenischen Doppelstruktur, also mehr Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche?
Schwaetzer: Es gibt bereits Absprachen, bestimmte Bereiche der Seelsorge in sogenannter gegenseitiger Repräsentanz vorzunehmen, etwa in Gefängnissen oder im Krankenhaus. In einigen Landeskirchen gibt es auch Absprachen beim Religionsunterricht. Da wird es sicher künftig noch mehr geben.
epd: Die Finanzdebatte wird begleitet von einer Diskussion um die grundsätzliche Ausrichtung der Kirche. Im Papier wird ein Verlust von Relevanz und Plausibilität der kirchlichen Botschaft beklagt. Was kann man da machen?
Schwaetzer: Beim Reformationsjubiläum 2017 konnte man sehen, was gut funktioniert, wo wir mit unserer Botschaft durchdringen - und was eben nicht. Wir sind gezwungen darüber nachzudenken, wenn wir sehen, dass traditionelle Formate nicht mehr in der Gemeinschaft ankommen, auch Gottesdienstformen. Die Corona-Krise hat dabei jetzt deutlich gemacht, welche Kreativität es daneben für neue Formen gibt. Das darf jetzt nicht wieder versickern.
epd: Bedeutet das eventuell das Ende des klassischen Gottesdienstes am Sonntagvormittag?
Schwaetzer: Nein, auf gar keinen Fall. Wir gehen aber davon aus, dass künftig nicht mehr so viele Gottesdienste am Sonntag um 10 Uhr gefeiert werden. Gemeinden werden sich vielmehr überlegen, wann der richtige Platz und was die richtige Feier ist. "In vielen Gemeinden gibt es inzwischen Engagierte, die gar nicht Mitglied der Kirche sind. Mit diesen Menschen wollen wir ins Gespräch kommen und auch versuchen, sie an uns zu binden"
epd: Ein Stichwort von Ihnen war Mitgliederbindung: Wird sich die evangelische Kirche darauf konzentrieren? Welche Rolle spielt Mitgliederwerbung?
Schwaetzer: In vielen Gemeinden gibt es inzwischen Engagierte, die gar nicht Mitglied der Kirche sind. Mit diesen Menschen wollen wir ins Gespräch kommen und auch versuchen, sie an uns zu binden. Darauf müssen wir den Blick lenken und dabei auf gar keinen Fall die Erwartungen der Kirchenmitglieder vernachlässigen, die treu zu uns stehen.
Auch Parteien und Sportvereine merken, dass viele junge Menschen heute vor einer festen Mitgliedschaft zurück schrecken. Diskutiert wurde in der evangelischen Kirche über eine "Mitgliedschaft light" oder "Kirchensteuer light".
epd: Wird das kommen?
Schwaetzer: Es gibt die Überlegung, Berufseinsteigern eine größere Aufmerksamkeit zu widmen. Das kann geschehen durch Mitsprache und Beteiligung auch für diejenigen, die noch nicht Mitglied der Kirche sind.
epd: Und die dann auch weniger Kirchensteuer zahlen?
Schwaetzer: Das wird mit Sicherheit heiß diskutiert werden.
epd: Als eine andere Strategie schlägt Ihr Zukunftspapier Kooperationen mit anderen Akteuren der Gesellschaft vor. Wird die evangelische Kirche künftig eher eine Nichtregierungsorganisation (NGO)?
Schwaetzer: So sehen wir uns nicht. Wir sind Teil der säkularen Gesellschaft, aber zugleich ihr Gegenüber. Wir haben einen besonderen Auftrag, nämlich die Verkündigung des Evangeliums, den wir auch nicht kleinreden wollen. Genau deshalb bieten sich aber Kooperationen an.
epd: Gleichzeitig wird angekündigt, dass sich die Kirche künftig "sparsamer" zu gesellschaftlichen Prozessen äußern wird. Ist das nicht ein Widerspruch - und ein angekündigter Rückzug aus der Öffentlichkeit?
Schwaetzer: Ganz sicher nicht, denn der Anspruch des Evangeliums, den wir vertreten, ist öffentlich. Es geht auch nicht um "sparsamer", sondern um klarer in der Fokussierung auf die Botschaft des Glaubens. In der Konzentration liegt am Ende eine größere Chance, sich Gehör zu verschaffen.
epd: In der Corona-Krise wurde der Kirche von Einzelnen vorgeworfen, sich nicht genug gegen Beschränkungen der Religionsfreiheit ausgesprochen zu haben. Sehen Sie Fehler?
Schwaetzer: Ich habe es von Anfang an für selbstverständlich gehalten, dass wir uns im Interesse der Eindämmung der Pandemie und aus unserem christlichen Selbstverständnis heraus selbst auch an die Vorgaben halten. Ich habe wahrgenommen, dass es unzählige digitale Gottesdienste gab, auch Seelsorge von engagierten Pfarrerinnen und Pfarrern - über Telefon oder Vor-Ort-Besuch auf Distanz. Die evangelische Kirche hat in der Zeit vielleicht keine spektakulären Schlagzeilen gemacht. Ihrem Auftrag ist sie gut nachgekommen, das lässt sich allein schon an den Besucherzahlen der digitalen Gottesdienste und Andachten belegen.
epd: Über den Plan für die Zukunft muss die Synode entscheiden. Geplant ist die Tagung für November in Berlin. Bleibt es dabei trotz Pandemie?
Schwaetzer: Wir planen derzeit eine sehr konzentrierte Präsenzsynode mit Hygienekonzept, also ohne die sonst vielen Gäste und Empfänge, mit digitalen Ausschusssitzungen und zeitlich reduziert. Voraussichtlich werden wir nur für zweieinhalb Tage zusammenkommen. Schon vorher wird es aber digitale Ausschusssitzungen geben.
„Glaube ist nicht Wissen und Beweis“
EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus im Interview mit „Cicero“
Annette Kurschus ist die neue Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Im Interview spricht sie über Glaubenskrisen, den Vorwurf, ihre Kirche sei eine Art Glaubensarm der Grünen, und die Rolle der Evangelischen Kirche in der Moderne. Kurschus glaubt, Gott könnte die Corona-Pandemie mit einem Finger-schnipsen beenden – und erklärt, warum er es ihrer Meinung nach dennoch nicht tut.
Annette Kurschus ist evangelische Theologin und Pfarrerin, Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und seit November 2021 Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD); also die oberste Protestantin des Landes. Aufge-wachsen ist sie im hessischen Obersuhl und im Siegerland. Ihr Vater war Pfarrer und zeit seines Lebens politisch engagiert. Weil er sich dereinst unter anderem für die Ostverträge einsetzte, wurde ihm der Spitzname „roter Pfarrer“ verpasst. Auch für Kurschus gehören Glaube und Politik zusammen.
Frau Kurschus, Sie sind die Tochter eines Pfarrers, der sein Leben lang politisch engagiert war und den Spitz-namen „roter Pfarrer“ hatte. Wie war es für Sie, in einem solchen Pfarrhaushalt aufzuwachsen? War es streng zuhause, oder ging es eher liberal zu?
Meine beiden Brüder und ich wurden in unserem Elternhaus nie zu etwas gezwungen oder gedrängt. Der christliche Glaube wurde bei uns selbstverständlich gelebt. Aber das hatte nichts mit strengen Regeln zu tun, sondern mit einem Grundvertrauen, das wir unseren Eltern abgespürt haben. Wir haben gemeinsam gebetet vor jeder Mahlzeit und abends vor dem Zubettgehen. Natürlich haben wir das als Kinder manchmal auch einfach nur mitgemacht, aus Ge-wohnheit. Es hat mir aber nicht geschadet – ganz im Gegenteil.
Welches Gottesbild haben Ihre Eltern Ihnen mitgegeben?
Das des liebenden Vaters, der liebenden Mutter, deren Hand ausgestreckt bleibt. Ja, das ist eine personenhafte Vor-stellung von Gott – manche mögen das kindlich nennen. Aber bis heute denke ich mir Gott mit liebenden Augen, die mich freundlich anblicken. Uns wurde nie mit Gott gedroht.
Dabei war das eine Generation, die noch viel gedroht hat mit Gott, oder? In dem Sinne: Tu dies nicht, tu das nicht, der Herrgott sieht alles.
Mag sein, ich habe das bei uns zuhause nie gehört. Es gab allerdings sehr wohl das Bewusstsein: Ich trage als Christin Verantwortung mit meiner Art, wie ich an Gott glaube und an Christus, in dem Gott sich zeigte. Das habe ich früh als Kind mitbekommen: dass es eben nicht beliebig ist, wie ich mich verhalte und wie ich mit anderen Menschen umgehe. Insofern ist da auch eine Leitlinie für mein Leben, die in gewisser Weise etwas Strenges hat. Aber nicht, weil es mir aufgezwungen wurde, sondern weil ich spürte, es hat Konsequenzen, wenn ich die biblischen Geschichten, mit denen ich großgeworden bin, ernstnehme.
Wie kann man sich dieses Großwerden mit den biblischen Geschichten vorstellen?
Ein Beispiel: Als ich irgendwann lesen und schreiben konnte, habe ich meinen Vater mit großer Vorliebe bei der Vor-bereitung des Gottesdienstes unterstützt. Damals wurden etwa die Programmblätter für besondere Gottesdienste ja noch auf der Schreibmaschine geschrieben. Das war einige Jahre lang unser Ritual: Mein Vater saß an der Schreib-maschine, und ich diktierte ihm – Bibeltexte, Glaubensbekenntnisse, Gebete, Lieder aus dem Gesangbuch. „Tochter Zion – Komma – freue dich – Ausrufezeichen“ (lacht). Man kann sich heute kaum vorstellen, welchen Schatz ich dabei ange-sammelt habe. Ich weiß bis heute sehr viele Lieder auswendig, weil ich sie meinem Vater als kleines Kind diktierte. Wir haben überhaupt viel Musik gemacht zuhause. Wir waren, wenn man so will, ein typisches protestantisches Pfarrhaus: mit vielen Büchern, mit viel Kunst und Kultur. Das stand uns als Kindern offen – ohne jeden Zwang und ohne Druck.
Sie sind als Kind von Obersuhl ins Siegerland gezogen, das – wie Sie mir im Vorgespräch zu diesem Interview erzählten – geprägt war von der Erweckungsbewegung und von pietistischen Strömungen (Frömmigkeits-bewegungen im deut-schen Protestantismus – Anm. d. Red.); wo Glaube anders gelebt wurde, als Sie es gewohnt waren. Waren dort die Zwänge stärker und der Druck größer?
Die Frömmigkeit im Siegerland hatte zunächst etwas Bedrückendes für mich. Erst sehr viel später habe ich auch die Schätze entdeckt, die darin liegen. Durch die reformierte Tradition ist dort alles sehr stark auf das Wort konzentriert. Die Kirchenräume und die Gottesdienste empfand ich als kahl und karg und streng. Außerdem habe ich im Siegerland eine Art von Glauben kennengelernt, die den Menschen nicht immer guttut, weil sie mehr einengt und belastet als befreit und aufrichtet.
Auch in der Schule? Durch die Lehrer?
In der Schule weniger, aber vor allem in den christlichen Jugendgruppen, weshalb ich dort auch nicht gerne hinge-gangen bin. Schon früh bekam ich manche Auseinandersetzung mit, die mein Vater als Pfarrer mit Gemeindegliedern hatte. Ich habe manche Gespräche mitgehört, in denen sich meine Eltern austauschten über die Enge des pietistischen Bibelverständnisses. Mein Vater wurde geradezu angefeindet, weil er sich – etwa in der Frage der in den 1970er-Jahren aktuellen Ostverträge - politisch engagierte. Das waren steinige Anfangsjahre. Als Kind habe ich deutlich gespürt, dass Glaube eine durchaus anspruchsvolle Sache ist; Glaube muss sich mitten im Alltag der Welt immer wieder neu be-währen.
Können Sie mir ein Beispiel nennen für diese Enge des pietistischen Bibelverständnisses?
Während der Karnevalszeit wurden in der großen Siegerlandhalle in Siegen die sogenannten „offenen Abende“ gefeiert. Da trafen sich dann „die Frommen“, während draußen „die böse Welt“ feierte. So zu denken, das fand ich immer ganz schrecklich. Unvergesslich bleibt auch eine andere Erfahrung: Ich habe im Februar Geburtstag, also auch in der Karne-valszeit. Bei uns zuhause haben wir Kinder uns leidenschaftlich gern verkleidet. Und wenn wir Kindergeburtstag feierten – und ich hatte viele große Kindergeburtstage –, dann machten wir das auch. Anschließend haben sich einige Eltern entsetzt beschwert, mit solchem „Hexenwerk“ hatten sie in einem Pfarrhaus nicht gerechnet.
Woher kommt der Glaube mancher Menschen, dass man Gott von der eigenen Frömmigkeit überzeugt, indem man spaßbefreit durchs Leben geht?
Naja, das hat es schon immer gegeben, dass Christen Abstand hielten von den Freuden der Welt, um dadurch Gott besonders nah zu sein. Es gibt eine Glaubenstradition, da ist die Hauptsache: Ich bin mit meinem Gott im Reinen. Für mich waren die Christen aber nie ein „exklusiver Verein“, in dem sich gleich und gleich gern gesellen und der sich absondert von den anderen. Im Gegenteil: Christen sind gerufen, mitten in der Welt zu leben und Gutes in die Gesell-schaft einzutragen.
Sie haben zuerst kurz Medizin studiert, dann Theologie und sind schließlich Pfarrerin geworden. Warum?
Ich hatte nach dem Abitur überhaupt nicht vor, Theologie zu studieren und Pfarrerin zu werden. Zwar haben mich Glaubensthemen sehr interessiert, aber ich hatte immer auch den Gedanken im Kopf, was eigentlich passiert, wenn ich meinen Glauben verlieren sollte. Durch das ganze Theologiestudium hindurch hat mich eine Frage aus den biblischen Psalmen nicht losgelassen: „Wo ist denn nun dein Gott?“ Mir war bange vor der Situation, dass andere mich das fragen – und ich habe keine plausible Antwort darauf. Diese Furcht ließ mich lange zögern, den Pfarrberuf anzustreben. Denn Glaube ist eben nicht Wissen und Beweis.
Wie ging es dann weiter?
Mir wurde im Laufe des Studiums klar, dass Theologie für mich unmittelbar mit Menschen zu tun hat. Ich wollte das Gelernte mit anderen teilen und ins alltägliche Leben übersetzen. Als ich im Vikariat dann in der Gemeinde auf Men-schen traf, die ich auf ihrem Weg des Glaubens begleiten konnte – auch dann und manchmal gerade dann, wenn ich meine eigenen Zweifel formulierte, habe ich mehr und mehr diese Furcht verloren, mir könnte der Glaube abhanden-kommen. Denn es ist einfach so: Es gibt immer wieder Dürrezeiten, in denen mein Glaube wackelt und mein Reden von Gott kleinlauter wird. Das gehört dazu, und das darf so sein.
Weil der Glaube nicht abhandenkommt, wenn man ihn an andere Menschen weitergibt?
Fragen und Zweifel sind keine Feinde des Glaubens, sondern seine Geschwister. Weil das so ist, kann niemand für sich allein glauben. Wir brauchen Kirche und Gemeinde. Wenn mein eigener Glaube schwächelt, sind andere da, die glauben für mich mit. Oder wenn ich mich gerade schwertue mit dem Beten, tun es andere für mich. Diese Gewissheit bedeutet mir viel.
Nun sind Sie ja in einer ganz besonderen Zeit EKD-Ratsvorsitzende geworden, nämlich in Pandemie- Zeiten. Wo sehen Sie denn die zentrale Aufgabe der Evangelischen Kirche in Zeiten wie diesen?
Wir stehen mit einer anderen Haltung in der Welt als Menschen, die ohne Gottvertrauen leben. Von dem, was gerade in unserer Gesellschaft passiert, sind wir in der Kirche ganz genauso betroffen. Von den Ängsten, Befürchtungen, Ein-schränkungen und von allem, was so elend dünnhäutig macht. Doch es macht einen Unterschied, ob ich getrieben von Sorge und Furcht entscheide und handle – oder beflügelt und gezogen von der Verheißung Gottes. Gott hat ver-sprochen: „Ich habe Gutes mit euch vor, ihr werdet nicht untergehen, ich führe die Welt zu einem guten Ziel.“ Diese Verheißung ist es, die uns Kraft und Mut gibt und der ich zutiefst vertraue. Angesichts dieser Verheißung wird manche verzweifelte Frage umso dringlicher – und manches Leid umso unbegreiflicher. Aber sie gibt zugleich einen anderen „Drive“ im Leben, sich aktiv einzusetzen.
Was meinen Sie?
Gottes Verheißung zaubert nicht die Sorgen und die Angst weg. Aber sie hilft dazu, dass Angst und Sorgen nicht der Hauptantrieb unseres Handelns sind. Da leuchtet von Gott her ein Ziel, und in seinem Licht setze ich mich hier und jetzt handfest ein. Das ist eine starke Motivation, sie geht über Menschenmögliches hinaus. Dafür braucht es Kirche in unserer Welt – und ich hoffe, dass wir in dieser Ratsperiode, die gerade erst beginnt, davon etwas deutlich machen können. Kirche ist dazu da, diese Grundhaltung erkennbar in die Gesellschaft zu tragen.
Finden Sie denn, dass die Kirche der Gemeinschaft ihrer Gläubigen genug Trost gespendet hat zuletzt und die Gläubigen auch ausreichend, sagen wir, spirituell aufgefangen hat in dieser schwierigen Zeit?
Was tröstet, empfinden Menschen sehr unterschiedlich. Wir haben – jedenfalls nach dem, was ich mitbekomme und wo ich mich selbst eingesetzt habe – nach bestem Wissen und Gewissen unseren Auftrag und unsere Verantwortung wahr-genommen. Und zwar aus der Mitte des christlichen Glaubens heraus. Wir waren hörbar da mit der Botschaft, die nicht von uns kommt, sondern von der wir zuallererst selber leben. Wir haben die Nähe gesucht zu den besonders Verletz-lichen, zu Kranken und Sterbenden. Bei der Gestaltung unserer Gottesdienste haben wir uns an den Schwächsten in unserer Gesellschaft orientiert und entsprechend Rücksicht genommen. Das stand zeitweise im Widerspruch zu dem starken Bedürfnis vieler Menschen, zusammenzukommen und gerade in dieser verstörenden Zeit gemeinsam an einem Ort zu singen und zu beten. Diese Art von Trost mussten wir vernünftigerweise schuldig bleiben. Schweren Herzens. Doch in der ersten Zeit der Pandemie hätte ich es fahrlässig gefunden, wenn wir die Türen weit geöffnet hätten und alle hätten kommen können, egal, welche Virusvariante da tobt: Das wäre nicht Gottvertrauen gewesen, sondern eine Art, Gott zu versuchen.
Ich habe mich dennoch gefragt: Was wiegt eigentlich schwerer, wenn wir von der Kirche und ihrem Umgang mit dieser Pandemie sprechen? Das spirituelle Wohl der Gläubigen oder ihr weltliches Wohl? Ich hatte das Gefühl, dass sich die christlichen Kirchen ganz stark auf das weltliche Wohl konzentrierten, und nicht so sehr auf das spirituelle.
Naja, aber was ist ein „spirituelles Wohl“, das Gesundheit und Leben anderer wissentlich gefährdet?! Wir hätten in Kauf genommen, dass Menschen in unseren Gottesdiensten beim gemeinsamen Singen und Beten sich selbst oder andere infizieren.
Aber hat Jesus nicht gesagt, man solle ihm die Kranken, die Lahmen und überhaupt alle bringen? Stattdessen hat die Kirche in der Corona-Pandemie Menschen vom Gottesdienst ausgeschlossen, weil sie ungeimpft waren. Das leuchtet mir nicht ein, also sozusagen die religiöse Logik dahinter.
Wir haben nicht ausgeschlossen. Wir haben Regeln vereinbart und Empfehlungen gegeben, um für alle einen Gottesdienstbesuch so „sicher“ wie möglich zu machen. Eine Regel, die Jesus selber gegeben hat, lautet: Nehmt Rücksicht auf die Schwächsten.
Das heißt in der Praxis?
Wir bieten in allen Regionen eine Vielzahl von Gottesdienstformen an, so dass jeder Mensch – ob geimpft oder unge-impft, ob getestet oder nicht – in räumlicher Nähe die Möglichkeit hat, einen Gottesdienst zu besuchen. Open-Air-Gottesdienste zum Beispiel, Gottesdienste in großen Hallen oder Stadien oder gut durchlüfteten Scheunen – oder Gottesdienste in digitaler Form. Nicht zu vergessen die vielen Gottesdienste in Rundfunk und Fernsehen. Die aller-meisten Gemeinden waren hoch fantasievoll unterwegs, um eben gerade nicht auszuschließen.
Fakt ist aber auch, dass Menschen in den vergangenen zwei Jahren alleine sterben mussten oder sich nur im kleinen Kreis Trost bei einer Beerdigung spenden konnten. Wie bewerten Sie das denn?
Da sage ich zuallererst sehr selbstkritisch: Ich selbst wäre im Rückblick gern von Anfang an deutlicher und stärker dafür eingetreten, dass Menschen in diesen Grenzsituationen des Lebens nicht allein bleiben. Und zwar hätte ich gern darauf gedrungen, nicht nur Seelsorgerinnen und Seelsorgern Zutritt zu gewähren, sondern auch den nächsten Angehörigen. Wer stirbt, wünscht sich den Sohn oder die Tochter, die Eltern, die Ehefrau oder den Partner an seinem Bett. Hier waren wir – so schätze ich es im Rückblick ein – womöglich zu vorsichtig. Im Nachhinein bereue ich, nicht lauter gesagt zu haben: „Wir müssen sofort alles tun, um verantwortliche Ausnahmeregelungen zu schaffen.“ Inzwischen ist das ja Gott sei Dank längst viel besser geregelt. Wir haben gelernt.
Ein Kernauftrag der Kirche ist, den Menschen die Angst zu nehmen. Durch Gottvertrauen oder das Wissen, da steckt vielleicht ein größerer Plan dahinter.
Nein, das ist nicht unser Auftrag. „In der Welt habt ihr Angst“, sagt Jesus sehr nüchtern und realistisch. Es wäre ein Vorgaukeln falscher Sicherheit, wenn wir behaupteten, unsere Kirchen seien gefahrenfreie Räume – weil da, wo Gott ist, kein Virus droht. Immer wieder wird die Erwartung geäußert, die Kirche müsse doch eine „Erklärung“ für die Pandemie haben. Aber unsere Aufgabe ist es nicht, Gottes Absichten zu „erklären“. Ebenso wenig können wir behaupten, Gott habe mit der Pandemie nichts zu tun. Gott, dem wir vertrauen, bleibt immer auch Geheimnis. Das Virus ist Teil seiner Schöpfung. Glaube heißt, sich solchen schwer begreiflichen Widersprüchen zu stellen und Kirche als eine Gemeinschaft zu leben, in der sie benannt und ernstgenommen werden. Wir glauben an Gott, der das Ganze in seinen Händen hält, und zurzeit wird uns deutlicher denn je, wie wenig wir ihn verstehen und „begreifen“. Aber wir haben die Möglichkeit, uns an ihn zu wenden, ihn zu fragen, ihn zu bitten, ihn zu bestürmen mit unseren Nöten und Klagen, ihn bei seinem eigenen Versprechen zu behaften, ihn zu löchern mit unseren Zweifeln. Das alles ist nicht nichts. Es verändert uns und hilft, Hoffnung zu behalten.
Ist es Ihnen in den vergangen zwei Jahren denn ausreichend gelungen, all diese Widersprüche, all das, was Sie gerade gesagt haben, gut genug nach außen zu kommunizieren? Haben Sie ausreichend Gesprächsangebote gemacht?
In unseren Gemeinden und Kirchenkreisen haben sich Menschen intensiv und unermüdlich eingesetzt, und sie tun es weiterhin mit außergewöhnlichen Ideen. Jede Menge neuer Angebote sind entstanden für Gemeindemitglieder und für Menschen, die in besonderer Weise auf der Suche sind. Ich frage mich gleichwohl, woher der Eindruck kommt, Kirche sei nicht sichtbar und nicht hörbar genug gewesen. Vielleicht haben wir nicht das „geliefert“, was erwartet wurde?
Was ist denn Ihre Theorie, warum Gott nicht mit dem Finger schnipst und diese Pandemie beendet? Irgendeinen Erklärungsansatz werden Sie ja haben. Wenn nicht Sie, wer dann?
Ich glaube, dass Gott die Erde ins Leben gerufen und den ungeheuren Prozess der Evolution in Gang gesetzt hat. Gott wollte nicht Gott sein ohne den Menschen. Er wollte den Menschen als verantwortliches Gegenüber. Er hat ihn mit Freiheit ausgestattet und ihm die Erde anvertraut – mit dem ausdrücklichen Auftrag, die Erde zu bebauen und zu be-wahren. Diesem Auftrag stellen wir uns bis heute – in aller Freiheit, mit den gottgegebenen Möglichkeiten der Vernunft und des Verstandes. Auch mit allen Abgründen, die in uns sind, und mit den vielen Möglichkeiten, schuldig zu werden und unser menschliches Maß zu verlieren. Gott wird uns nicht im Stich lassen, das hat er verheißen. Und: Er greift nicht jedes Mal sichtbar ein, wenn wir keinen guten Weg wissen oder uns verrennen.
Wir haben uns gerade gefragt, warum die Kirche mit ihrer Botschaft vielleicht nicht durchgedrungen ist in der Corona-Pandemie. These: Sie dringt deshalb nicht durch, weil sich viele Menschen mittlerweile weltlichen Pro-blemen verschrieben haben, denen sie sich allerdings mit religiösem Eifer widmen.
Sie meinen, so eine Art von Ersatzreligionen?
Ja. Fridays for Future und der Kampf gegen den Klimawandel, sozusagen als Substitut für die evangelische Kirche und den Glauben.
Menschen brauchen etwas, woran sie sich festmachen und wofür sie leidenschaftlich einstehen. Viele suchen nach Orientierung, nach einer Art Koordinatensystem in ihrem Leben. Manche finden das in der Klimapolitik, andere im Sport oder in der Ernährung, wieder andere in allerlei Selbstoptimierungsmethoden. In all solchen „Ersatzreligionen“ bin in der Regel ich selbst das Subjekt.
Ich habe die Sache in der Hand, auf meine Anstrengung kommt es an. Der Clou des christlichen Glaubens liegt aber gerade darin, dass sich der Dreh- und Angelpunkt außerhalb meiner selbst befindet: in Christus. Von ihm her gewinnt mein Leben Grund und Ziel – nicht aus meinem eigenen Können oder Nichtkönnen. Das Entscheidende – nämlich mein Wert und meine Würde – liegt nicht in meiner Hand, und das ist mein Glück. Mich selbst aus der Hand geben: Ich vermute, das ist es, was den Glauben so schwierig macht – erst recht in diesen Zeiten.
Hat die evangelische Kirche denn das Problem, dass sie sich zu sehr auf die weltlichen Themen eingelassen hat? Auf so etwas wie den Klimawandel, auf die Flüchtlingspolitik, also zu politisch geworden ist?
In den Themen, die Sie ansprechen, ist unser Einsatz vom Evangelium her gefordert. Da dürfen wir nicht nachlassen. Wir können allerdings noch stärker darin werden, unseren spezifisch christlichen Zugang zu diesen Themen deutlich zu machen. Dass uns der Klimawandel aufs Höchste alarmiert, verbindet uns mit Greta Thunberg und Fridays for Future. Als Christen gehören wir meines Erachtens an die Spitze dieser Bewegung – in der tiefen Überzeugung, dass nicht wir die Welt retten müssen, weil Gott selbst sie gerettet hat. Die Erde ist uns anvertraut, und sie hat Zukunft: Deshalb lohnt sich jede Mühe, kein noch so kleiner Schritt wird vergeblich sein. Es ist unsere Pflicht, uns für die Menschen in anderen Regionen der Erde einzusetzen, die jetzt schon unter den Folgen des Klimawandels leiden – obwohl sie am wenigsten dazu beigetragen haben. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit. Und dass wir eine besondere Verantwortung für die Fremden und Flüchtlinge bei uns haben, das lernen wir ebenfalls unmittelbar aus der Bibel.
Finden Sie es eigentlich ungerecht, wenn böse Zungen behaupten, so ein evangelischer Kirchentag sei wie ein Parteitag der Grünen?
Dieses Vorurteil wird nicht wahrer, je öfter man es äußert. Christlicher Glaube ist parteiisch für die Armen und Schwa-chen in der Gesellschaft, christlicher Glaube ergreift klar und unverhandelbar Partei für den Schutz des Lebens. Aber er ist dabei überhaupt nicht parteipolitisch gebunden. Dass gewisse Themen, zu denen wir uns klar positionieren, eher in den Programmen grüner oder linker Parteien auftauchen, mag sein. Bei anderen Themen ist es wieder anders. Das hat inhaltliche Gründe, keine parteipolitischen.
Glauben Sie denn, dass es der Kirche nochmal gelingen wird, den großen Turnaround zu schaffen? Dass irgend-wann wieder mehr Leute zur Kirche hin- als von ihr weggehen?
Ich bin da ganz zuversichtlich. Ja, es stimmt, zurzeit treten auffällig viele Menschen aus der Kirche aus. Das hat manchmal sehr pragmatische und oberflächliche Gründe. Dann heißt es zum Beispiel: „Ich habe auf meinem ersten Gehaltszettel festgestellt, die Kirchensteuer ist ein Betrag, den ich in meiner gegenwärtigen Lebenssituation gut für etwas anderes gebrauchen kann.“ Ein junger Mensch, der so entscheidet, ist nicht zwangsläufig gegen Kirche. Allerdings – soviel Redlichkeit muss sein – findet er Kirche offenbar auch gerade nicht so wichtig, dass er sie mit seinem Steuerbeitrag unterstützen will.
Das muss uns zu denken geben. Umgekehrt: Auch Menschen, die selber nicht zur Kirche gehören, finden wichtig, dass es Kirche gibt. Insofern ist da durchaus „Potential“. Dass wir zahlenmäßig drastisch weniger werden, hängt zu einem großen Teil allerdings auch mit allgemeinen demografischen Entwicklungen zusammen, auf die wir keinen Einfluss haben.
Wenn das Potential da ist, geht es letztendlich wohl um Angebot und Nachfrage. Welches Angebot wollen Sie den Menschen machen?
Wir wollen einen erkennbar eigenen Ton in die Gesellschaft eintragen und eine deutlich eigene Perspektive. Einen Ton und eine Perspektive, die über unsere begrenzten menschlichen Möglichkeiten hinausweisen. Damit halten wir eine Hoffnung wach, deren Grund unabhängig ist von dem, was uns gelingt oder missglückt. Solche Hoffnung braucht unsere Gesellschaft. Wir versuchen und bieten an, das Leben im Licht dieser Hoffnung zu gestalten. Mutig und stark und bereit, etwas zu wagen.
Muss sich die Evangelische Kirche dafür verändern?
Reformen und Transformation gehören zum Wesen der evangelischen Kirche. Unsere Kirche muss stets beweglich und im Wandel sein, wenn sie ihrem Auftrag treu bleiben will. Manchmal löst Neues das Alte ab, öfter bleibt Traditionelles und Bewährtes neben dem Fremden und Ungewohnten bestehen. Einiges hat seine Zeit und vergeht auch wieder, anderes bleibt ein kostbares Gut und wird nie vergangen sein. Auf diese Weise ist Transformation ein anstrengendes und hoch anspruchsvolles Geschehen. Unser Anliegen ist, den Wandel aktiv und bewusst zu gestalten. Richtig Wumms ist zum Beispiel bei allen Themen rund um die Digitalisierung drin. Da haben wir neue Formen der Kommunikation hinzugewonnen, die – wie alle Formen – mächtigen Einfluss auf die Inhalte haben. Diese Formen werden bleiben, wir lernen immer besser, sie konstruktiv zu nutzen. Das wird nicht einfach, aber es liegen große Chancen und ungeahnte Möglichkeiten darin.
Da sind Sie natürlich gezwungen, die Gläubigen dort abzuholen, wo sie sich gerade befinden.
Ja, und das können wir ganz furchtfrei angehen. Säße Jesus hier, würde er wohl nicht sagen, das sei alles schädlicher Humbug. Ich stelle mir vor, er wäre da sehr offen und würde uns raten, sämtliche Wege der Kommunikation zu nutzen, um die Liebe Gottes unter die Menschen zu bringen. Die analoge Begegnung wird durch digitale Angebote ergänzt, aber nicht abgelöst. Wir brauchen beides, und das wird immer so sein. Es ist eine hochinteressante und lebendige Zeit, in der wir gerade leben.
Würde sich Jesus heute bei Twitter, Instagram und bei Facebook anmelden, um die Menschen zu erreichen?
Ob er es selber tun würde, weiß ich nicht. Aber er würde sicherlich sagen: „Die Leute, die das können und Lust dazu haben und fit darin sind, sollten das unbedingt machen.“
Das Gespräch führte Ben Krischke.
Hinweis der Redaktion: Cicero traf Kurschus im Januar in Hannover, bevor neue Erkenntnisse über die Missbrauchsvorwürfe in der Katholischen Kirche publik wurden. Auch die Evangelische Kirche arbeitet derzeit solche Vorwürfe in den eigenen Reihen auf, beziehungsweise lässt sie von unabhängiger Stelle aufarbeiten. Aufgrund der Komplexität des Themas und weil ein entspre-chender Abschlussbericht voraussichtlich erst 2023 kommen wird, hat der Autor entschieden, das Thema an dieser Stelle auszuklammern. Über die Missbrauchsvorwürfe in der Evangelischen Kirche werden wir gesondert berichten. Am Rande des Interviews sagte Annette Kurschus hierzu unter anderem: „Wir werden alles tun, um das Unrecht, das bei uns verübt wurde, schonungslos und lückenlos aufzuarbeiten.“
Das Interview mit der EKD-Ratsvorsitzenden, Annette Kurschus, mit „Cicero“ am 14. Februar 2022
https://www.ekd.de/kurschus-interview-cicero-71569.htm
Gott neu denken
Von der Beantwortung der Frage nach Gott im Wandel von Zeit und Erkenntnis hängt die Zukunft des Christentums ab.
Norbert Scholl in Christ in der Gegenwart vom 12.1.2014
Die von der katholischen Kirche beauftragte Sinus-Milieustudie hat offengelegt: Viele Menschen - gerade auch Getaufte - verstehen sich nicht (mehr) als gläubig im traditionellen Sinn. Sie suchen auch nicht aktiv nach einer Beziehung zu Gott. Insbesondere in den jungen unterschichtlichen Milieus spielen Glaube und Religion häufig gar keine Rolle mehr. Bei vielen ist der Glaube individualisiert - und nicht an Religion und Kirche gebunden. Viele bezeichnen sich zwar als religiös. Wenn sie allerdings über den Inhalt ihres Glaubens oder ihre Vorstellungen von Gott Auskunft geben sollen, sind die Antworten eher verschwommen.
Beim Blick in die verschiedenen Milieus wird zudem deutlich, wie groß die Sprachlosigkeit über die eigene Religiosität jenseits kirchlicher Formeln ist und wie wenig Sachverstand und Kompetenz der Institution Kirche für die eigene Aus-einandersetzung mit Gott zugesprochen werden. Die Sinus-Forscher schrieben: „Diejenigen haben recht, die von der Verdunstung des Glaubens sprechen. Der Glaube hat in der Spätmoderne seinen Aggregatzustand verändert. Er ist
von einem festen, in kirchlichen Formeln und Formen fassbaren Zustand in einen fluiden oder gar gasförmigen über-gegangen. Der verdunstete Glaube liegt buchstäblich in der Luft.“
Gefordert sind jetzt ein intensives Neu-denken der Gottesfrage und ein verändertes, behutsameres Sprechen von Gott. Aber wo soll man da ansetzen?
Gegenwart im Werden
Eine Besinnung auf den Gottes-„Namen“ des Alten Testaments könnte hilfreich sein: JHWH. Bis heute ist die Über-setzungsfrage nicht befriedigend gelöst. In älteren Bibelausgaben wurde er mit „Ich bin, der ich bin“ wiedergegeben. Doch das ist sprachlich unzutreffend und theologisch irreführend. Auch die in der Einheitsübersetzung verwendete Umschreibung mit „Ich-bin-da“ wirkt wenig aussagekräftig, erscheint zu unlebendig, zu unbeweglich.
Eine Besonderheit des Hebräischen erschwert die Übersetzung zusätzlich. Die Sprache des Judentums kennt eine Handlung entweder als vollendet, abgeschlossen, als „perfekt“, oder als unvollendet, noch andauernd, im Werden begriffen, als „im-perfekt“. Das hebräische „Imperfekt“ umschließt Gegenwart und Zukunft. Philosophisch betrachtet,
ist dies eine überzeugende Sicht. Denn wann beginnt genau Gegenwart, und wann hört sie genau auf? Betrachtet man das deutsche Wort „Gegenwart“ genauer, schwingt ebenfalls ein zukünftiger Aspekt mit: Gegenwart ist jene Zeit, die
mir gegen-wartet. Das Warten aber geschieht immer mit Blick auf etwas Ausständiges, noch nicht Eingetroffenes.
Die Erfahrung der Gegenwart wird also ganz wesentlich bestimmt durch die noch bevorstehende Zukunft.
Der Alttestamentler Erich Zenger (1939-2010) verwendete, dem hebräischen Original entsprechend, sogar die dritte Person und umschrieb den Namen JHWH ausführlich: „Er ist da, und er will da sein, so, wie er von seinem tiefsten Wesen her da sein will: nämlich als der, der befreit und vom Tod zum Leben hinüberführen kann und will.“ Durch solche Ver-suche gewinnt der Gottesname - besser: die Gottes-Aussage oder Gottes-Ansage - eine bemerkenswerte Dynamik,
die der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide (1922-1997) einmal so erklärt hat: „Ein Wirksam-Sein, ein Quicklebendig-Sein, ein Mit-Sein und ein Sich-Erweisen …, die allesamt als ein pausenloser Werdegang erfahren werden … Es gehört zu Gottes dynamischem Wesen, dass es im Werden ist und sich im innerweltlichen Wirken äußert.“ Diese Offenheit und Umrisslosigkeit der JHWH-Erfahrung kommen dem gegenwärtigen Ruf nach eigener konkreter Erfah-rung und der Distanz gegenüber der überkommenen kirchlichen, eher statisch-abstrakten „Gotteslehre“ entgegen.
Interessant ist auch, dass der alttestamentliche Gottes-„Name“ keinen bestimmten Artikel enthält. Er ist damit weder männlich noch weiblich. Die deutsche Sprache kennt zwar den bestimmten - maskulinen - Artikel: „der Gott“. Aber er wird im üblichen Sprachgebrauch nicht verwendet. So heißt es etwa: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde…“ Lediglich Kinder hört man bisweilen von „dem Gott“ sprechen.
Anders ist es im Altgriechischen, der Sprache des Neuen Testaments. Dort steht Gott immer mit dem bestimmten Artikel: ho theós. Fehlt der Artikel bei theós (einen unbestimmten Artikel gibt es im Altgriechischen nicht), ist das Wort
mit „ein Gott“ zu übersetzen oder mit „wie Gott“, „göttlichen Wesens“, von „Gottes Art“. Darüber hinaus ist theós in beiden Fällen durch die Endung eindeutig männlich. Es gibt auch die weibliche Endung „-a“, also hä theá. Ähnlich ist
es im Lateinischen.
Was sich schon in der hebräischen Sprache und im deutschen Sprachgebrauch - vielleicht eher unbewusst - andeutet, kommt in den vielfältigen Versuchen der Kulturgeschichte, Gott „neutral“ zu umschreiben, noch deutlicher zum Aus-druck. So kennt die Bibel viele Metaphern, die für Gott stehen, zum Beispiel: Burg, Fels und Feste (Ps 18,3; 73,26), Gerechtigkeit (Jer 23,6), Hilfe (Ps 140,8), Kraft, Licht und Schild (Ps 27,1; 28,7), Schönheit (Ps 89,18), Stärke (Ps 18,2;
22,20; 59,10), Weisheit (Weish 1,6), Zuflucht (Ps 18,3; 46). Die Spitzenaussage findet sich im Neuen Testament, im
ersten Johannesbrief: „Gott ist die Liebe“ (4,8.16).
In den Paulusbriefen und in den Evangelien findet sich das sogenannte Passivum divinum. Statt eines Gottesnamens wird die passivische Form verwendet. So antwortet Jesus auf die Frage Johannes’ des Täufers, ob er der erwartete Messias sei: „Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet“ (Lk 7,22; Mt 11,5). Jesus sagt nicht: „Gott (oder: der Vater) macht Aussätzige rein“ oder „Ich mache Aussätzige rein“, sondern er verwendet das Passiv: „Aussätzige werden rein“.
Christliche Theologen von der Frühzeit bis in die Gegenwart haben die „neutrale“ Umschreibung des Gottesnamens häufig übernommen. Einige bemerkenswerte Beispiele sollen genannt werden.
Stark philosophisch abstrakt ist der sogenannte ontologische Gottesbeweis des Anselm von Canterbury (um 1033-1109). Der Benediktinermönch spricht von Gott als Neutrum (id). „Es ist ein Sein denkbar, das als Nichtsein undenkbar ist; und das ist größer als das, was man als Nichtsein denken kann. Wenn darum das Größte, das denkbar ist, als nichtseiend gedacht werden könnte, dann wäre wiederum das größte Denkbare nicht das Größte, das man denken kann; und das kann nicht sein. So gibt es also wirklich etwas so Großes, dass nichts Größeres gedacht werden kann (id, quo majus cogitari non potest), ja dass es überhaupt nicht als Nichtsein gedacht werden kann: Und das bist du, Herr unser Gott!“
Bemerkenswert ist, dass Anselm seine abstrakten Gedankengänge in ein Gebet einkleidet. Er beginnt: „Herr, der du
dem Glauben Einsicht verleihst, gib mir also die Einsicht, so weit du sie mir schenken kannst …“ Er endet mit den
Worten „und das bist du, Herr unser Gott!“
Der Tempel muss leer sein
Etwas behutsamer geht der Dominikanermönch Thomas von Aquin (1225-1274) vor. Er beschreibt im Anschluss an die griechischen Philosophen Platon und Aristoteles Gott als das unum, verum, bonum, pulchrum, als das schlechthin Eine, Wahre, Gute und Schöne. Alles innerweltlich existierende Wahre, Gute und Schöne kann nur bestehen, insofern es von einem ersten und eigentlichen, alles gründenden Ne-utrum (wörtlich: nichts von beiden), von „dem“ Wahren, „dem“ Guten und „dem“ Schönen verursacht ist.
Einen anderen Weg zeigt der Dominikaner Meister Eckhart (um 1260-1328). Er betont, dass der Gottsucher sich „leer“ machen muss von aller theologischen Begrifflichkeit, ja dass er seines eigenen Gottes - als Denkvorstellung - „quitt“ werden muss. „Jedes Haften am äußeren Zeichen und genießende Schauen hindert dich am Erfassen des ganzen Gottes … Nein, der Tempel muss ledig und frei sein, wie das Auge frei und leer sein muss von aller Farbe, soll es Farbe sehen … Alle jene Bilder und Vorstellungen aber sind der Balken in deinem Auge. Drum wirf sie hinaus. Ja selbst deines gedach-ten Gottes sollst du quitt werden, aller deiner doch so unzulänglichen Gedanken und Vorstellungen über ihn wie:
Gott ist gut, ist weise, ist gerecht, ist unendlich. Gott ist nicht gut, ich bin besser als Gott; Gott ist nicht weise, ich bin besser als er, und Gott ein Sein zu nennen ist so unsinnig, wie wenn ich die Sonne bleich oder schwarz nennen wollte … Alles was du da über deinen Gott denkst und sagst, das bist du mehr selber als er.“ Das Leben Gottes entfaltet sich in den Dingen. Wer die Geschöpfe kennt, braucht keine Predigt. Denn jedes Geschöpf ist ein von Gott beschriebenes Buch. Die Dinge „schmecken“ nach Gott. „Alle Dinge“ sind für Meister Eckhart „reiner Gott“, die Kreatur ist „Gottes voll“.
Wichtige Impulse für ein neues Gott-Denken hat auch der evangelische Theologe Paul Tillich (1886-1965) gegeben.
Viele Menschen seien „von etwas ergriffen, was sie unbedingt angeht; aber sie fühlen sich jeder konkreten Religion
fern, gerade weil sie die Frage nach dem Sinn ihres Lebens ernst nehmen. Sie glauben, dass ihr tiefstes Anliegen in den vorhandenen Religionen nicht zum Ausdruck gebracht wird… Das, was uns unbedingt angeht, ist von allen zufälligen Bedingungen der menschlichen Existenz unabhängig. Es ist total, kein Teil von uns selbst und unserer Welt ist davon ausgeschlossen… Was uns unbedingt angeht, lässt keinen Augenblick der Gleichgültigkeit und des Vergessens zu.
Es ist ein Gegenstand unendlicher Leidenschaft.“
In der Materie, nicht weit von uns
Der Jesuit, Paläontologe und Theologe Pierre Teilhard de Chardin (1891-1955) war zutiefst davon überzeugt, dass „Gott von uns keineswegs wider das Geschaffene geliebt werden will, dass er vielmehr durch das Geschaffene hindurch und im Ausgang von ihm verherrlicht werden will“. Die Natur und das, was sie zu „offenbaren“ hat, besitzen sogar den Vorrang gegenüber der Offenbarung, wie sie etwa in den Büchern der Heiligen Schriften ihren Niederschlag gefunden hat. Denn „nicht abseits von der physischen Welt, sondern durch die Materie hindurch und irgendwie in Vereinigung
mit ihr“ kommt der Mensch mit dem „göttlichen Milieu“ in Berührung.
Teilhard de Chardin: „Der lebendige und fleischgewordene Gott ist nicht weit von uns. Er ist nicht außerhalb der greif-baren Sphäre. Er erwartet uns vielmehr jederzeit im Handeln, im Werk des Augenblicks. Er ist gewissermaßen an der Spitze meiner Feder, meiner Hacke, meines Pinsels, meiner Nadel - meines Herzens, meines Gedankens.“ Es gibt „für einen, der zu sehen versteht, auf der Welt kraft der Schöpfung, … nichts Profanes“. Darum vertritt Teilhard de Chardin die Ansicht, dass die profanen, weltlich-nüchternen Sprachen (etwa Naturwissenschaften) ebenso geeignet sind, religiöse Inhalte darzustellen wie sakrale Sprachen (etwa die der europäischen Standardtheologien). Und weil die sakralen Sprachen heute dem Bewusstsein der Zeitgenossen mehr und mehr fremd geworden sind, sieht er geradezu eine Notwendigkeit, religiöse Inhalte in profanen, weltlichen Sprachen vorzustellen, wenn der Gottesglaube nicht in der Sprachlosigkeit der tradierten religiösen Floskeln und theologischen Leerformeln verlorengehen soll.
Für den Jesuiten Karl Rahner (1904-1984) wiederum ist der Alltag ein geistliches Grundanliegen. Die „Alltäglichkeit“ und „Durchschnittlichkeit“ sind für ihn ein unverzichtbares Thema der Frage nach der Gotteserfahrung. Es gibt nur einen einzigen Weg zur Erkenntnis Gottes, und der führt „durch die Begegnung mit der Welt, zu der wir natürlich auch selber gehören… Weil Gott etwas ganz anderes ist als eine der in unserem Erfahrungsbereich vorkommenden oder aus ihm erschlossenen Wirklichkeiten und weil die Erkenntnis Gottes eine ganz bestimmte einmalige Eigenart hat und nicht nur ein Fall des Erkennens im Allgemeinen ist, darum ist es sehr leicht, Gott zu übersehen.“ Rahner nennt verschiedene nicht-personale Metaphern, mit denen sich die Gotteserkenntnis umschreiben lässt: „Man kann von Sein sprechen,
vom Grund, von letzter Ursache, vom lichtenden und entbergenden Logos, man kann das Gemeinte noch mit tausend anderen Namen anrufen… Wir wollen das Woraufhin und Wovonher unserer Transzendenz ‚das heilige Geheimnis‘ nennen“, heißt es im „Grundkurs des Glaubens“.
Aber auch Religionswissenschaftler und Philosophen haben sich um das Neudenken Gottes bemüht. Unter anderem
ist hier Rudolf Otto (1869-1937) zu nennen. In seinem noch heute vielzitierten Werk „Das Heilige“ beschreibt er Religion als „Selbererleben des Geheimnisses schlechthin; nicht eines Geheimnisses, das nur eins für die Nichteingeweihten wäre, für höhere Grade aber aufgelöst würde, sondern das fühlbare Geheimnis alles zeitlichen Daseins überhaupt und das Durchscheinen der ewigen Wirklichkeit durch den Schleier der Zeitlichkeit für das aufgeschlossene Gemüt“. Gott ist nach Otto das „Numinosum“, das zugleich als tremendum und fascinans erfahren wird, als beunruhigend-erschreckend und faszinierend-anziehend.
In seinem Buch „Psychoanalyse und Religion“ beschreibt Erich Fromm (1900-1980) Gott als „ein Symbol für alles, was im Menschen liegt und was dennoch der Mensch nicht ist; ein Symbol einer geistig-seelischen Realität, die in uns zu ver-wirklichen wir streben können und die wir dennoch niemals beschreiben oder definieren können. Gott gleicht dem Horizont, der unserem Blick Grenzen setzt. Dem naiven Gemüt erscheint dieser als etwas Greifbares, und doch erweist er sich als Fata Morgana, wenn wir ihn fassen wollen. Wenn wir uns fortbewegen, bewegt sich auch der Horizont.
Sobald wir auch nur einen kleinen Hügel erklimmen, weitet sich unser Horizont, aber er bleibt eine Begrenzung und wird niemals zu einem Ding, das man zu greifen vermag.“
Im Prozess der Welt
Für den „Vater“ der sogenannten Prozesstheologie, Alfred North Whitehead (1861-1947), ist „Gott“ ein nichtzeitliches, universales Ereignis, dessen Vorhandensein den Grund für alles geschöpfliche Werden und Entstehen, für Ordnungs-strukturen und den bleibenden Eigenwert des Gewordenen schafft. In seinem Werk „Wie entsteht Religion?“ legt er einige Umschreibungsversuche dessen vor, was sich für ihn mit dem Begriff „Gott“ verbindet.
Zunächst ist alle Ordnung „von der Immanenz Gottes (dem In-der-Welt-sein; d. Red.) abgeleitet“. Dann hält Whitehead fest: „Ohne Gott gibt es keine wirkliche Welt; und ohne die wirkliche Welt mit ihrer Kreativität gäbe es keine rationale Erklärung der ideellen Vision, die Gott konstituiert … Gott ist in der Welt die unablässige Vision des Weges, der zu den tieferen Realitäten führt.“ So ist Gott „die unbegrenzte begriffliche Realisierung des absoluten Reichtums an Potenzia-litäten. Unter diesem Aspekt ist er nicht vor, sondern mit aller Schöpfung.“
Gott wird selbst in den Prozess einer werdenden Welt hineingezogen. Er „und die Welt stehen in ständiger Wechsel-wirkung miteinander. So wie die Welt nicht wirklich werden könnte ohne Gottes uranfängliche Bereitstellung der Möglichkeiten, so könnte Gott nicht wirklich werden, ohne dass sich die Welt in ihm objektivierte. Indem die Welt die verfügbaren Möglichkeiten verwirklicht, verwirklicht Gott sich letztlich selbst, da alles wirklich gewordene im Moment seines Wirklichwerdens von ihm erfasst und so zu einem Element in seinem Werden wird.“
Persönlich - und alles
In neuerer Zeit wird häufiger auf das Gott-Denken des jüdischen Philosophen Baruch Spinoza (1632-1677) aufmerksam gemacht. Dieser vertrat die Ansicht, dass es nur eine einzige, alles bedingende, absolute „Substanz“ gibt: Gott. Die geschaffenen Dinge seien keine selbstständigen Substanzen, sondern nur Bestimmungen - er spricht von modi - oder Erscheinungsformen des einen Absoluten. Von der sinnlichen Wahrnehmung her unterscheiden sich die Dinge zwar voneinander; in ihrem eigentlichen, meta-physischen Wesen sind sie aber unter sich und mit Gott eins. Gott ist die natura naturans, also in gewisser Weise eine „schaffende Natur“, etwas, was in sich ist und etwas Ewiges und Unend-liches wesenhaft meint. Die Dinge hingegen sind natura naturata, geschaffene Natur, etwas, was aus der Natur Gottes folgt, was in Gott ist beziehungsweise ohne Gott nicht sein kann. In der Philosophiegeschichte wird dieses Denken als Pantheismus bezeichnet (alles Seiende ist Gott).
Dieses „pantheistische“ Denken wird bei zahlreichen Theologen heute in einer nicht unwesentlich veränderten Form aufgenommen: als „Pan-en-theismus“ (alles Seiende ist in Gott einbegriffen). Gott geht über das materielle Universum hinaus. Alles im Universum ist (An-)Teil Gottes, aber Gott ist mehr als das Universum.
Gott und Welt sind nicht identisch, wie das im pantheistischen Denken angenommen wird. Es gibt vielmehr ein viel-gliedriges System von Lebenserscheinungen, die voneinander und von Gott relativ gesondert scheinen, dem Urgrund nach jedoch allesamt untrennbar mit diesem verbunden sind. Ein Dualismus zwischen Gott und Welt, eine gegensätz-liche Zweiheit dieser beiden ist ausgeschlossen. Die strenge Unterscheidung zwischen Schöpfer und Schöpfung ist lediglich ein unabdingbares Hilfsprinzip, das es den Menschen erst ermöglicht, die Welt konkret begreifen, einordnen und beurteilen zu können.
Zu dieser „Wiederentdeckung“ des Panentheismus haben die Forschungsergebnisse der Naturwissenschaft über die
aus menschlicher Sicht unvorstellbare Größe des Universums, die Wunder der Biologie oder die Vorgänge der Quanten-physik beigetragen. Sie untermauern und verstärken die Gefühle der Ehrfurcht und des Erstaunens gegenüber diesen Naturerscheinungen.
Der Münsteraner Religionsphilosoph Klaus Müller weist darauf hin, dass auch große Gottdenker wie Karl Rahner oder der Jesuit Alfred Delp immer wieder in den Bannkreis einer solchen panentheistischen Denkform gerieten. Und vor ihnen waren es schon Nikolaus von Kues und Meister Eckhart. Es könne heute nicht darum gehen, die alten Gottesbilder lediglich unverändert beizubehalten und auf ein baldiges Ende des Atheismus zu hoffen. Vielmehr, so Müller, sei eine Theologie gefordert, die es versteht, Gott so zu denken, dass er „zugleich persönlich und alles ist“. Es komme darauf an, „Gott als Einzelwesen zu denken, das zugleich alles ist. Das ist freilich leichter gesagt als getan.“ Die Religionen denken nach Klaus Müller auf das „Ganze“ hin. „Die sogenannten westlichen, also monotheistischen Religionen geben diesem Ganzen das Antlitz einer personalen Instanz, die sogenannten östlichen fassen es in den Gedanken einer All-Einheit, in die alles Einzelne und Endliche eingehen … Trotzdem müssen sich auch die Monotheismen … (Glaubensweisen an Einen Gott; d. Red.) an den Gedanken gewöhnen, dass Gott auch noch größer ist als der Monotheismus und darum … als zu-gleich persönlich und alles gedacht werden muss. Wie das genau gehen könnte, wissen wir trotz genialer Vorarbeiten mancher Denker aus der Epoche des Idealismus bis heute nur in Ansätzen.“
Unverfügbar - in der Nacht
Die nichtpersonalen Begrifflichkeiten und Bilder für „Gott“ besitzen den Vorteil, dass sie jene Gottesbilder vermeiden,
die heute als anstößig und unzeitgemäß empfunden werden. Einige sind mit Vorstellungen von Herrschertum ver-bunden (Herr, König, Richter). Manche sind zur bloßen Floskel entartet oder wirken kitschig, ja kindisch (lieber Gott, Himmelsvater). Auch die von Jesus bevorzugte Anrede „Vater“ ist für viele Menschen nicht nachvollziehbar geworden durch Väter, die sich in ihrer Familie wie Tyrannen aufspielen oder die auf der anderen Seite als klägliche Versager wahr-genommen werden. Angesichts des Leids und Elends in der Welt redet niemand mehr gern vom Allmächtigen oder vom Allgütigen. Bedenklich erscheint auch die Gottesbezeichnung „Schöpfer“ im Hinblick auf die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, der Evolution und der Astrophysik.
Nichtpersonale Metaphern können das „heilige Geheimnis“, das „ganz Andere“ in mancher Hinsicht besser umschreiben als personale Bilder, die unter dem Verdacht stehen, eine menschliche Projektion zu sein, Gott antropomorph, also menschengestaltig aufzufassen. Doch Gott ist „nicht zu fassen“. Er übersteigt jedes sprachliche Fassungsvermögen, ist unbegreiflich. Er kann mit keinem „Be-Griff“ adäquat umschrieben oder gar benannt werden. Gott ist unverfügbar. Er steht für die Regelung innerweltlicher Verhältnisse nicht zur Verfügung, ist nicht funktionalisierbar - weder zur Be-gründung eigener Machtansprüche („von Gottes Gnaden“) noch zur Beglaubigung von Gewaltanwendung, wie es etwa der Schlachtruf der Kreuzfahrer „Gott will es“ tat.
„Ein reifer Glaube ist ein geduldiges Ausharren in der Nacht des Geheimnisses“, schrieb der tschechische Religions-soziologe Tomáš Halík. Erst jenseits aller Nutzbarmachung kommt das Eigentliche, das Erste und Letzte, in den Blick,
das es wert ist, um seiner selbst willen zu ihm in ein Verhältnis zu treten. Und erst in einem solchen Verhältnis kann der Mensch zur Einsicht kommen, dass er nicht aufgehen muss in einer von funktionalen Notwendigkeiten beherrschten Welt.
https://www.herder.de/cig/geistesleben/2014/01-06-2014/glaubenslehre-gott-neu-denken/