Friedrich D. E. Schleiermacher (1768-1834)

 

 

Genialer Denker der Unendlichkeit

 

Vor 250 Jahren wurde der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Schleiermacher geboren

 

Reichskanzler Otto von Bismarck ging bei ihm in den Konfirmandenunterricht, für seine Zeitgenossen war er der „erste christliche Redner Deutschlands“, die US-Wochenzeitung „Time“ nannte ihn einst den bedeutendsten Theologen seit Luther und Calvin. Der Theologe und Philosoph Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834), geboren vor 250 Jahren am 21. November in Breslau, gilt als „protestantischer Kirchenvater“ des 19. Jahrhunderts.

 

Schleiermacher deutete das Christentum neu. Er suchte den Anschluss an die Moderne und an die Kultur. Dafür baute

er Brücken zwischen Vernunft und Glaube, zwischen rationalem Denken und Mystik. Er wollte die Eliten seiner Zeit erreichen, die wenig von Religion hielten. Seiner eigenen Kirche stand er eher skeptisch gegenüber. „Daß unser Kirchenwesen in einem tiefen Verfall ist, kann niemand leugnen“, klagte er.

 

Und er galt als Mann von großer politischer Klarheit. Schleiermacher sah die sozialen Nöte seiner Zeit und forderte Verbesserungen vor allem für die Armen, zum Beispiel eine Verkürzung der Arbeitszeit oder eine bessere Absicherung durch Versicherungen.

 

Seine Jugend war geprägt durch die vielen Ortswechsel seines Vaters, eines evangelisch-reformierten preußischen Feldpredigers. Seine ältere Schwester ließ ihn Biografen zufolge einmal versehentlich fallen, in der Folge behielt er eine verwachsene Schulter zurück. Der kleine, zarte Mann mit der üppigen weißen Haarpracht war Pfarrer in Berlin, Hof-prediger im heute polnischen Stolp, Professor und Universitätsprediger in Halle. Er war maßgeblich an der Neu-gründung der Berliner Universität beteiligt, wo er ab 1810 Theologie und Philosophie lehrte. Seine Plato-Übersetzung prägte lange Zeit das Verständnis des antiken Philosophen.

 

Stets stand er morgens um fünf Uhr auf, machte sich um sieben Uhr auf zur Vorlesung. Bei Tisch hatte er gerne Gäste um sich. Vor Mitternacht ging er selten zu Bett, da er offenbar mit einem Minimum an Schlaf auskam.

 

„Sinn und Geschmack für das Unendliche“

 

Der führende theologische Denker des frühen 19. Jahrhunderts habe die Vorstellung von Religion in der christlichen Theologie revolutioniert, „indem er sagte, echte Spiritualität gehe auf unmittelbare Erfahrung, nicht auf Überzeugungen zurück“, erklärte der amerikanische Kult-Philosoph Ken Wilber, Vordenker einer neuen globalen spirituellen Bewegung.

 

Der Münchner Theologieprofessor Jörg Lauster urteilt im Magazin „Zeitzeichen“, Schleiermachers berühmte Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ von 1799 sei „das schönste und intellektuell mutigste Buch, das von einem Protestanten in deutscher Sprache geschrieben wurde“. Schleiermacher befreie darin die Religion aus der Vorstellungswelt eines erstarrten dogmatischen Christentums. Auf den Punkt gebracht habe der Theologe dies mit seinem bekanntesten Satz, Religion sei „Sinn und Geschmack für das Unendliche“.

 

Gott wird bei Schleiermacher zum „Weltgeist“, zum „Unendlichen“, zum „Universum“ oder „Ganzen“. Schleiermacher: „Alles Einzelne als einen Teil des Ganzen, alles Beschränkte als eine Darstellung des Unendlichen hinnehmen, das ist Religion.“ Schleiermachers heute fast esoterisch klingenden Ideen für eine Entgrenzung des menschlichen Bewusstseins riefen schnell Gegner hervor. Vielen Amtstheologen war Schleiermacher nicht fromm genug, seine Reformgedanken galten

als unbiblisch.

 

Schleiermacher als Vordenker

 

Man dürfe Schleiermacher allerdings nicht allein auf Begriffe wie reine Innerlichkeit oder Subjektivität einschränken, sagte der Berliner Philosophieprofessor Andreas Arndt dem Evangelischen Pressedienst (epd). Religion übersteige Schleiermacher zufolge alle Begriffe und ebne der Kultur den Weg: „Er hat das Ideal einer universellen Menschheit im Blick, Religion ist für ihn etwas, was nationale, sprachliche oder rassische Schranken nicht anerkennt und darüber hinausgeht.“ In diesem Punkt sei Schleiermacher heute „ungeheuer aktuell“, sagte Arndt.

 

Wenn es um die Deutung des Christentums für moderne Menschen geht, gilt Schleiermacher heute zunehmend als Vordenker. Vielen nachdenklichen Menschen verleihe er mit seiner Besonnenheit „eine gewichtige Stimme für das,

was sie selbst bewegt“, erklärte der Münchner Theologe Lauster.

 

Tod seines Sohnes erschütterte Schleiermachers Leben

 

Schleiermachers Leben wurde in seinen Wurzeln erschüttert, als 1829 sein geliebter Sohn Nathanael mit neun Jahren

an Scharlach starb. Nur mit fast übermenschlicher Anstrengung und einer „vom tiefsten Herzensweh“ fast erstickten Stimme, so sein Stiefsohn, habe er die Grabrede für das eigene Kind halten können. Danach habe „Wehmut zur Grundstimmung seines weiteren Daseins“ gehört, schrieb sein Biograf Friedrich Wilhelm Kantzenbach.

 

Am 12. Februar 1834 starb Schleiermacher im Alter von 65 Jahren in Berlin. 20.000 bis 30.000 Menschen sollen seinem Sarg gefolgt sein. „Vielleicht sah Berlin nie ein solches Trauerbegräbnis“, so beschrieb es ein Teilnehmer.

 

Stephan Cezanne (epd)

 

https://www.ekd.de/theologe-friedrich-schleiermacher-250-Jahre-40102.htm

 


 

Romantische Gefühlsreligion als Fortsetzung der Aufklärung?

 

Vor etwas über 250 Jahren wurde der evangelische Theologe und Philosoph geboren. Er ist bei den Gebildeten dafür bekannt, dass er als junger Mann von 30 Jahren eine sentimentalische Schrift über das Wesen der Religion verfasst hatte: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. (1799) Diese Schrift gehört zu den Nachwehen

der literarischen Bewegung des "Sturm und Drang", jener Bewegung die Goethes Jugendroman Die Leiden des jungen Werther (1774) exemplifiziert und dafür bekannt geworden ist, dass der junge Werther sich ungücklich verliebt hat,

aber so in seinen Gefühlen schwelgt, dass es für ihn ein bloßer Selbstgenuss zu sein scheint.

 

Wenn Schleiermacher in dieser Jugendschrift Religion psychologisch als eine „eigene Provinz im Gemüte“ bestimmt hat,

dann hat er trotz seiner Abgrenzung von Kant immer noch ähnlich wie Kant über ein besonderes Vermögen (faculty) im Menschen gesprochen, das weder mit dem Verstand noch mit der Vernunft noch mit der Urteilskraft identisch ist. Dieses Vermögen soll eine besondere Form der ästhetischen Anschauung sein, bezieht sich jedoch nicht auf sinnliche Präsen-tationen von etwas Schönem oder Erhabenen oder von etwas Komischen oder Tragischen, sondern auf das ganze Universum im Sinne der absoluten Substanz Spinozas. Es handelt sich eher um ein persönliches Lebensgefühl und kommt dem nahe, was man einen inneren "Sinn für den Sinn des ganzen Daseins" nennen könnte.

 

Daher meinte Schleiermacher keine Religion im religionswissenschaftlichen Sinne als einer historisch gewachsenen

und über Generationen hinweg überlieferten Form der Vergesellschaftung von Menschen mit einer weitgehend gemeinsamen Weltanschauung, einem gemeinsamen Menschenbild, einem gemeinsamen Ethos und einer gemeinsamen Vorstellung von etwas Numinosen wie Gott oder einem ähnlichen transzendenten Wesen. In diesem abstrakten Sinne gibt es Religion (im Singular) jedoch gar nicht, sondern nur eine Vielzahl von Religionen und Konfessionen. So etwas wie "die Religion" werden wir hingegen in unserer Lebenswelt niemals und nirgendwo finden.

 

In den modernen Religionswissenschaften gibt es keine einhellige Definition dessen, was Europäer, Nord- und Süd-amerikaner und Menschen in den von ihnen geprägten Kulturen und Regionen wie Australien und Neuseeland "Religion" nennen. Denn das Wort "religio", bedeutet entweder "Rückbindung" oder "Gewissenhaftigkeit" bzw. "Sorgfalt", stammt aus dem Lateinischen und lässt sich nicht einfach und genau in andere Sprachen übersetzen,

wie z.B. ins Arabische, Hebräische, Chinesische, Indische, Indonesische, Koreanische oder Japanische, die weder

vom Lateinischen geprägt wurden noch zu den indoeuropäischen Sprachen gehören.

 

 

Der junge Schleiermacher hat das, was er Religion nannte, im Stile von Aufklärungphilosophen wie Locke oder Kant

(1.) nur psychologisch verstanden, indem er sie als eine „eigene Provinz im Gemüte“ für ein besonderes Vermögen (faculty) des Menschen schlechthin gehalten hat;

(2.) nur individualistisch verstanden, indem er sie nicht für eine soziale Form der Vergesellschaftung gehalten hat;

(3.) nur subjektivistisch verstanden, indem er sie ins "Innere des Menschen" verlegt, in das, was man in seiner Zeit "das Gemüt" oder auch "das Bewusstsein" nannte, sodass sie von außen im menschlichen Verhalten nicht wahrgenommen, beschrieben und verstanden werden kann;

(4. nur als etwas Emotionales verstanden, indem er sie nur für eine Sache der Gefühle an Gefühlen und nicht an ethischen und metaphysischen Überzeugungen gehalten hat.

 

Vermutlich wollte der junge Schleiermacher die Religion vor der Skepsis und Kritik der Aufklärer bewahren, indem er

sie in eine „eigene Provinz im Gemüte“verlegt hat. Heute würde man sagen, dass das ein Immunisierungsversuch gewesen ist. Als er von einem besonderen "inneren Sinn des Menschen" gesprochen hat, der in kantischen Begriffen weder dem theoretischen Nachdenken über Gott und die Welt dient noch dem praktischen Handeln in zweckrationaler, d.h. entweder strategischer oder pragmatischer Hinsicht oder in sittlich-rationaler, d.h. moralischer oder rechtlicher Hinsicht. Kant kannte einen solchen besonderen "inneren Sinn" für das Ganze des Seins nicht und hätte ihn in seinem System in der Nähe der ästhetischen Urteilkraft verorten müssen, da er auch nichts mit der teleologischen Urteilskraft zu tun hat, die sich auf die natürlichen Ziele und Zwecke organischer Lebewesen in der irdischen Natur bezieht.

 

Religion ist nur das unmittelbare Gefühl der Abhängigkeit des Menschen von Gott; es ist noch nicht durch den Begriff hindurch gegangen, sondern nur im Gefühl erwachsen. (…) Daher muss alles Handeln und Tun ein religiöses werden. Die Offenbarung

ist keine von obenher gekommene, ausserordentliche Mittheilung, sondern das Bewusstwerden des eigenen innersten Lebens und einer neuen Anschauung des Unendlichen.

 

Der junge Schleiermacher wird sich wohl dessen bewusst gewesen sein, dass positive, d.h. geschichtlich gewachsene Religionen im Sinne der konkreten Formen von Vergesellschaftung nicht nur etwas Psychisches sind, geschweige denn bloß etwas Emotionales, da Menschen zwar religiös sind oder zumindest religiös sein können, aber nicht bloß aus ihren wechselnden Emotionen bestehen. Menschen können nicht einmal bloß auf ihre Psyche, geschweige denn nur auf ihre Emotionen reduziert werden, da sie wesentlich auch körperliche Lebewesen aus Fleisch und Blut mit Haut und Knochen, inneren Organen und einem Blutkreislauf, etc. sind. Positive Religionen sind immer auch menschliche Praktiken und Praxisformen, an denen der ganze Mensch mit allen seinen interagierenden psychischen Fähigkeiten und Phänomenen beteiligt ist, nicht nur mit seinen Emotionen, sondern auch mit seinen Kognitionen und Motivationen.

 

Der junge Friedrich Schleiermacher glaubte wie Hume und Kant, dass sich die Existenz Gottes weder mit den Mitteln

der Wissenschaft noch mit den Mitteln der Philosophie im strengen Sinne beweisen lässt. In der Epoche der Aufklärung hatte man noch versucht, der Religion noch einen besonderen Platz in mystischen Erlebnissen wie einige Esoteriker oder in angeblichen übernatürlichen und übersinnlichen Erfahrungen wie Swedenborg oder wie Locke im empirischen Verstand oder wie der vorkritische Kant in der apriorischen Vernunft zuzubilligen. Schleiermacher hatte jedoch etwas Anderes gemeint, wenn er von einem "Sinn und Geschmack fürs Unendliche" gesprochen hat. Was der junge Schleier-macher jedoch mit dem Unendlichen meinte, war die absolute Alleinheit im Sinne Spinozas. Insofern war sein neues Verständnis von Religion jedoch gar nicht allgemein und frei von ethischen und metaphysischen Überzeugungen, wie

er meinte, sondern gerade durch Spinozas neostoischen Determinismus und Pantheismus geprägt.

 

Der kritische Kant hatte vor ihm versucht, die religiösen Überzeugungen der Menschen auf moralische zurückzuführen, da er die Metaphysik als ein philosophischen Naschdenken über Gott, die Unstarblichkeit Seele und die Willensfreiheit diskreditiert hatte. Schleiermacher stimmte zwar mit Kants Kritik der Gottesbeweise überein, fand aber, dass Kants Versuch einer Reduktion der Religion auf sittliche Einstellungen und metaphysische Überzeugungen kaum überzeugen konnte, da sie auf Kosten des lebendigen Glaubens und der Vielfalt der religiösen Erfahrungen ging, wie z.B. von der religiösen Erfahrungen der Bekehrung, Erweckung, Erlösung und Gnade, und damit eine lebendige Spiritualität ersticken würde.

 

Der junge Schleiermacher war zwar zurecht mit Kants Reduktion der Religion auf Metaphysik und Moral unzufrieden, und machte mit seiner Postulierung eines besonderen religiösen Gefühls der "schlechthinnigen Ab-hängigkeit von Gott" und eines besonderen religiösen Sinnes und Geschmacks fürs Unendliche die wichtige Entdeckung dessen, was uns heute in der Rede vom "Sinn des Lebens" oder vom "Sinn des Daseins" vertraut geworden ist. Es ist schwer zu verstehen, dass diese uns heute so vertraute Rede damals noch völlig unbekannt war und kaum auf Verständnis gestoßen wäre. Aber der junge Schleiermacher fand, dass der religiöse Glaube weder nur eine besondere Art des metaphysischen Denkens ist noch eine besondere Art, sich praktisch zu verhalten und sich moralisch korrekt zu benehmen; er ist weder nur ein metaphysisches Wissen, noch nur ein moralisch korrektes Tun und Lassen.

 

Dieses Religionsverständnis Schleiermachers mag zwar mehr auf die Vielzahl der mystischen Kulte und polytheistischen Religionen Indiens und des Fernen Ostens zutreffen, geht aber an den prophetischen Religionen der Juden, Christen, Parsen und Muslime vorbei, die aus dem Nahen Osten stammen. Denn für diese Religionen sind gewisse metaphysische Überzeugungen über Gott und bestimmte ethische Verhaltenkodizes charakteristisch. Das bedeutet freilich nicht, dass ihre gewöhnlichen Gläubigen anders als einige Gelehrte philosophische Ethik und Metaphysik als rationale Disziplinen kennen, studieren und diskutieren würden, aber sehr wohl, dass sie metaphysische und ethische Überzeugungen haben, die für ihre jeweilige Religion oder Konfession charakteristisch sind.

 

Trotz seiner Bewunderung für den neostoischen Determinismus und naturalistischen Pantheismus Spinozas und trotz seiner Liebe zu den dialektischen Dialogen Platons ist Schleiermacher jedoch nicht nur bei einer idealistischen und pantheistischen Religion des Einen oder der Alleinheit stehen geblieben. Der reifere Schleiermacher hatte sich vielmehr als einen "Herrnhuter höherer Ordnung" verstanden, also als einen christlichen, zuerst reformierten, dann unierten Pietisten, dem weder die philosophische Reflexion auf die hermeneutischen Voraussetzungen eines angemessenen Verstehens der biblischen Schriften noch eine kritische Auseinandersetzung mit den neueren Entwicklungen der Naturwissenschaften fremd gewesen sind.

 

Sein frühes sentimentalisches Verständnis von Religion hat ihn nicht daran gehindert, sich trotz der beiden Antipoden von Aufklärung und Romantik weiter als einen unierten Christen zu verstehen, der mit seinem späteren Hauptwerk

"Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche" (1820/21) eine bahnbrechende Abhandlung über die christliche Glaubenslehre evangelischer Provenienz verfasst hat und ihn zum "Kirchenlehrer" des Protestantismus

im 19. Jahrhundert werden ließ. Das war freilich in einer Zeit, als es noch keine modernen, methodischen Religions-wissenschaften gegeben hat, die die großen unterschiedlichen Religionen und Konfessionen der Menschheit von ihren geschichtlichen Anfängen bis zu ihren gegenwärtigen Entwicklungen phänomenologisch, psychologisch, hermeneu-tisch und historisch untersuchen. Moderne Religionswissenschaftler würde das sentimentalische Religionsverständnis des jungen Schleiermacher für viel zu individualistisch, psychologistisch und subjektivistisch halten, um allgemeingültig zu sein. Schleiermachers früher sentimentalischer Religionsbegriff war in diesem Sinne noch vorwissenschaftlich und bloß spekulativ.

 

Für den jungen Schleiermacher war Religion nicht nur etwas Subjektives, sondern auch nur authentisch, wenn einzelne Menschen sie als einen absoluten Neuanfang begreifen. Auch diese hohe Erwartung hat mit den wirklichen Religionen nichts zu tun. Denn Religion kann nicht nur dann echt sein, wenn ein jeder Mensch wie ein religiöses Genie jeweils seine eigene private Religion von beliebigen Versatzstücken aus verschiedenen Religionen und Konfessionen erfindet. Das wäre eine sehr autoritäre und intolerante Auffassung von Religion. Denn Menschen können freilich auch dann in einem authentischen Sinne religiös sein und sich selbst als religiös verstehen, wenn sie sich mit historischem Bewußtsein und mit einem realistischen Sinn für Gemeinschaft in eine historische Überlieferung von unzähligen Generationen einreihen. Auch am Anfang des christlichen Glaubens steht der den Israeliten prophezeite Messias, der sich selbst als frommer Jude verstanden hat und sich von Johannes dem Täufer im Jordan taufen ließ.

 

Schleiermaschers jugendliche Forderung nach Originalität entsprach dem bürgerlichen Geniekult seiner Zeit, verlangte aber im Grunde etwas Übermenschliches. Wenn echte Religion nur die originelle und individuelle Erfahrung eines eigenen "religiösen Bewußtseins" und seine allmähliche Vervollkommung durch neue spirituelle Praktiken wäre, dann würde sie an die Stelle eines Glaubens an Gott als einen ganz Anderen, von dem ich absolut abhängig bin, treten. Dann müsste jedoch jeder Mensch zu seinem eigenen Religionsstifter und zu seinem eigenen Erlöser werden. Das aber hätte dann auch zur Konsequenz, dass jeder Mensch als Selbsterlöser zu seinem eigenen Gott werden und sich selbst anbeten müsste. Religion wäre dann jedoch nur ein subtiler Narzissmus.

 

Das würde nicht nur einem religionswissenschaftlichen Verständnis von Religion als konkreter Formen von Vergesell-schaftung widersprechen, sondern auch dem überlieferten Glauben der Juden, Christen und Muslime. Diese drei ursprünglich prophetischen Religionen kennen keine individualistische Privatreligion, sondern lehnen sie ab.

 

UWD August 2024

 


 

Religiöse Emotionen und Einstellungen

 

Schleiermacher war geprägt durch den damaligen Zeitgeist der Empfindsamkeit, in dem es Mode war, sich seinen Emotionen hinzugeben und sie gegenseitig zum Ausdruck zu bringen. Allerdings scheint es mir, dass er nicht immer angemessen, zwischen wünschenswerten Einstellungen (Tugenden) und fünf verschiedenen Arten von Emotionen unterschieden hat: Empfindungen, Affekten, Gefühlen, Leidenschaften und Stimmungen.

 

Angst - eine das Bewusstsein einengende Stimmung, die die ganze Persönlichkeit leiblich, seelisch und geistig ergreift und prägt im Gegensatz zu einer bestimmten und konkreten Furcht vor etwas oder jemand, vor allem gegenüber Gott

 

Demut - die wünschenswerte Einstellung einer angemessenen Selbstwertschätzung und nicht nur das sich Kleinfühlen angesichts des Erhabenen und Unendlichen oder gar nach einer Demütigung durch Andere, vor allem gegenüber Gott

 

Dankbarkeit - nicht nur ein momentanes Gefühl, sondern ein  wünschenswerte Einstellung und das anhaltende Bewusstsein, davon etwas Wertvolles, Wahres, Schönes oder Gutes empfangen zu haben, das eine innere Bindung an den Geber erzeugt, vor allem gegenüber Gott, als demjenigen, der einem das Leben geschenkt hat

 

Ehrfurcht - ein Gefühl der Hochachtung angesichts einer numinosen Wirklichkeit oder absoluten Person, die größer ist als man selbst, vor allem gegenüber Gott

 

Erschütterung - eine Erfahrung der tiefen leiblichen, seelischen und geistigen Verunsicherung angesichts eines dramatischen, tragischen oder schrecklichen Ereignisses, das einen leiblich und seelisch ergreift

 

Faszination - ein Sich-Hingezogenfühlen zu etwas oder jemanden, das größer als man selbst ist, letztlich zu Gott

 

Heiterkeit - eine das ganze Gemüt öffnende anhaltende Stimmung der Freude angesichts einer innerweltlichen Wirklichkeit oder Situation, befreienden Person oder Wohltat, die Anlass zur fast grenzenlosen Freude gibt

 

Mitgefühl - die Fähigkeit nachzuempfinden und mitzufühlen, was jemand Anderes gerade leiblich und seelisch erlebt,

sei es etwas Lustvolles oder Schmerzliches, Freudiges oder Trauriges

 

Reue - eine schmerzliche Empfindung, etwas Dummes oder Falsches, Schlechtes oder gar Böses getan zu haben und das Bewusstsein, es nicht mehr ändern zu können, aus der jedoch die Einsicht entspringen kann, es vielleicht wieder gut machen zu können, vor allem gegenüber Gott

 

Schauder - ein Gefühl des Unheimlichen, das einen leiblich und seelisch ergreift, vor allem in Verbindung mit dem Gedanken an den Tod, die Vergänglichkeit des Lebens und eine "Abhängigkeit" von einer anonymen "höheren Macht", wie dem Schicksal (die für Gott gehalten wird)

 

Schrecken - ein Erlebnis von etwas Furchtbaren oder Ungeheuerlichen, das einen überkommt und das einen leiblich

und seelisch ergreift, vor allem gegenüber der "Allmacht Gottes" im Gegensatz zu "Allliebe Gottes"

 

Sehnsucht - ein tiefes Sich-Wünschen von etwas, das einem fehlt oder abhanden gekommen ist, vor allem aber von

dem ewigen Frieden und der unendlichen Güte und Barmherzigkeit Gottes

 

Trost - ein tiefes Erfülltwerden oder Erfülltsein von Geborgenheit, Harmonie, Sicherheit und Vertrautheit, vor allem durch die tief empfundene Nähe Gottes

 

Zuneigung - eine tiefe Neigung und der Wunsch, mit Anderen befreundet und verbunden zu sein,  oder ihnen etwas Gutes zu tun oder zu wünschen