1632 |
24. November: Baruch Spinoza wird in Amsterdam geboren. Er stammt aus einer von Portugal nach Holland eingewanderten Judenfamilie. Sein Vater ist Kaufmann. Baruch erhält in Amsterdam die biblisch-talmudistische Ausbildung der jüdischen Gemeinde unter der Leitung von Saul Levi Morteira. Schon früh widmet er sich dem Studium scholastischer Philosophie, der alten Sprachen, der zeitgenössischen Naturwissenschaft und Mathematik und der Schriften des Descartes. |
1657 |
Wegen religiöser Dogmenkritik wird Spinoza mit dem Bannfluch der jüdischen Gemeinde belegt. Er lebt bis 1660 in der Nähe von Amsterdam. |
1660 |
Spinoza wird des Atheismus verdächtigt und aus der Stadt ausgewiesen. Er lebt nun in Rijnsburg bei Leiden und korrespondiert mit seinen Freunden Simon de Vries und Ludwig Meyer in Amsterdam. |
1662 |
Er beginnt die Arbeit an der Ethik, in der nach geometrischer Methode, d.h. in Form von Axiomen, Definitionen, Lehrsätzen usw., vor allem der Begriff Gottes als der »Einen Substanz« abgeleitet wird. Nach Spinoza ist Gott mit der Natur identisch, was in der Formel »Deus sive natura« (Gott oder die Natur) bündig zum Ausdruck kommt. Dieser sog. Pantheismus stieß bei Vertretern des jüdischen und christlichen Glaubens auf heftige Kritik. |
1663 |
Spinoza siedelt nach Voorburg bei Den Haag über. Das Buch »Renati Descartes principiorum philosophiae pars I et II« (Die Prinzipien der cartesischen Philosophie) ist das einzige, das zu Spinozas Lebzeiten unter seinem Namen erscheint.) |
1670 |
Spinoza lebt in Den Haag bei dem Maler van der Spyck. Dem Kreis des leitenden Staatsmannes Jan de Witt steht er nahe. Darüber hinaus gibt es Kontakte zu Boyle, Huygens und Leibniz. Der »Tractatus theologico-politicus« entsteht aus dem Umgang mit De Witt und erscheint anonym. Auf Grund der heftigen Angriffe, die die Schrift erfährt, be-schließt Spinoza, nichts mehr zu veröffentlichen. |
1673 |
Der Philosoph lehnt das Angebot einer Professur für Philosophie an der Universität Heidelberg ab. Er lebt ehelos und zurückgezogen, unterstützt durch die Renten zweier Freunde. Seinen Lebensunterhalt sichert er sich außer-dem durch das Schleifen optischer Gläser. |
1675 |
Die »Ethik« ist endlich vollendet, wird jedoch auf Grund des religiösen Fanatismus der Gesellschaft von Spinoza nicht publiziert. |
1677 |
21. Februar: Baruch Spinoza stirbt an Lungentuberkulose.
Posthum erscheinen die Werke:
»Ethica, ordine geometrico demonstrata« (Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt), »Tractatus politicus« (Politischer Traktat). »Tractatus de intellectus emendatione« (Traktat über die Verbesserung des Verstandes). »Epistolae«. »Compendium grammaticae linguae Hebraeae«. »Tractatus de Deo et homine eiusque felicitate« (Das lat. Original ist verloren; die holländische Übersetzung ist erst 1852 gefunden worden).
|
Gesamtdarstellungen zu Spinozas Person und Werken:
T. de Vries, Baruch de Spinoza in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1970.
H. G. Hubbeling, Spinoza, Freiburg, München 1978.
F. Wiedmann, Baruch de Spinoza. Eine Hinführung, Würzburg 1982.
Spinoza: Opera. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Carl Gebhardt. [Ursprüng-lich] Vier Bände, Heidelberg, Carl Winter-Verlag, 1925. (unveränderter Nachdruck: Carl Winter-Verlag, Heidelberg 1973) (maßgebende textkritische Gesamtausgabe).
Band 1: Korte Verhandeling van God, De Mensch en des zelfs Welstand, Renati Des Cartes Principiorum philosophiae pars I [en] II, Cogitata metaphysica, Compendium grammatices linguae Hebraeae, Winter, Heidelberg 1925.
Band 2: Tractatus de intellectus emendatione, Ethica, Winter, Heidelberg 1925.
Band 3: Tractatus theologico-politicus, Adnotationes ad Tractatum theologico-politicum, Tractatus politicus, Winter, Heidelberg 1925.
Band 4: Epistolae, Stelkonstige Reeckening van den Regenboog, Reeckening van Kanssen – (Nachbericht), Winter, Heidelberg 1925.
Band 5: Supplementa. Kommentar zum Tractatus theologico-politicus. Kommentar zu den Adnotationes ad tractatum theologico-politicum. Kommentar zum Tractatus politicus. Einleitung zu den beiden Traktaten, Winter, Heidelberg 1987.
TRACTATUS THEOLOGICO-POLITICUS (1670)
Es wird gezeigt, dass in einem Freistaate jedem erlaubt ist, zu denken, was er will,
und zu sagen, was er denkt.
[266] Könnte man den Gedanken ebenso leicht gebieten wie der Zunge, so würde jeder Herrscher sicher regieren, und es gäbe keine gewaltsame Herrschaft; jeder Untertan würde nach dem Willen der Gebieter leben und nur nach ihren Geboten bestimmen, was wahr oder falsch, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht sei. Allein es ist, wie ich schon im Beginn von Kap. 17 gesagt, unmöglich, dass die Seele sich ganz in der Herrschaft eines Anderen befinde, da nie-mand sein natürliches Recht oder sein Vermögen, frei zu denken und über Alles zu urteilen, auf einen Anderen übertragen kann, noch dazu gezwungen werden kann. Deshalb gilt die Herrschaft für gewalttätig, welche sich gegen die Gedanken richtet, und die Staatsgewalt scheint den Untertanen unrecht zu tun [266] und in ihr Recht einzugreifen, wenn sie Jedem vorschreiben will, was er als wahr annehmen, als falsch verwerfen, und durch welche Ansichten Jeder sich zur Gottesfurcht bestimmen lassen soll. Dies sind Rechte des Einzelnen, die Niemand, auch wenn er will, abtreten kann. Allerdings kann das Urteil auf mannigfache und beinahe unglaubliche Weise eingenommen werden, so dass es, obgleich es nicht geradezu unter dem Befehl eines Anderen steht, doch von seinem Munde so abhängt, dass er der Herr desselben heissen könnte. Allein so viel auch die Kunst hier geleistet hat, so hat sie es doch niemals erreicht, dass nicht die Menschen immer Überfluss an eigenen Meinungen gehabt hätten, und dass nicht die Sinne ebenso verschieden wären wie die Geschmäcke. Selbst Moses, welcher nicht durch Lust, sondern durch göttliche Tugend den Sinn seines Volkes in hohem Maße lenkte, da er für göttlich galt, der Alles nur nach Gottes Mitteilung sage und tue, konnte doch dem Gerede und den falschen Auslegungen des Volkes nicht entgehen. Noch viel weniger können es die anderen Monarchen, ob-gleich, wenn es wo möglich wäre, es in dem monarchischen Staat noch am ehesten und in dem demokratischen am wenigsten möglich sein würde, wo Alle oder ein grosser Teil des Volkes gemeinsam regiert, wie Jeder leicht einsehen wird.
So sehr daher auch die höchste Staatsgewalt als die gilt, welche das Recht zu Allem hat und das Recht und die Frömmigkeit auslegt, so konnten die Menschen doch nie verhindert werden, über Alles nach ihrem eigenen Sinn zu urteilen und bald von dieser, bald von jener Leidenschaft erfasst zu werden. Allerdings kann die Staatsgewalt alle mit ihr nicht Übereinstimmenden mit Recht für Feinde erklären; aber ich spreche hier nicht von ihrem Recht, sondern von dem Nützlichen; denn ich räume ein, dass sie nach dem Rechte höchst gewaltsam regieren und die Bürger wegen unbedeutender Dinge hinrichten lassen könne; allein Niemand wird behaupten, dass dies verständig sei; ja, da dies nicht ohne große Gefahr für den Staat möglich ist, so kann man selbst die Macht und folglich auch das Recht zu solchen und ähnlichen Dingen ihnen absprechen, da dies Recht der höchsten Staatsgewalt sich nach ihrer Macht bestimmt. [267]
Wenn also Niemand sich seiner Freiheit des Denkens und Urteilens begeben kann, sondern nach dem Natur-recht der Herr seiner Gedanken ist, so folgt, dass in dem Staate es nur ein unglücklicher Versuch bleibt, wenn er die Menschen zwingen will, dass sie nur nach der Vorschrift der Staatsgewalt sprechen sollen, obgleich sie, ver-schiedener Ansicht sind, denn selbst die Klügsten, ganz abgesehen von der Menge, können nicht schweigen. Es ist dies ein gemeinsamer Fehler der Menschen, dass sie Anderen ihre Gedanken selbst da mitteilen, wo Schweigen nötig wäre; deshalb wird diejenige Herrschaft die gewalttätigste sein, wo dem Einzelnen die Freiheit, seine Gedanken auszu-sprechen und zu lehren, versagt ist, und jene ist eine gemässigte, wo Jeder diese Freiheit besitzt. Allein unzweifelhaft kann die Majestät ebenso durch Worte wie durch die Tat verletzt werden, und wenn es auch unmöglich ist, diese Freiheit den Unterthanen ganz zu nehmen, so würde es doch höchst schädlich sein, sie ihnen unbeschränkt einzuräumen; ich habe deshalb hier zu unter-suchen, wie weit diese Freiheit unbeschadet des Friedens des Staates und des Rechtes der höchsten Staatsgewalt dem Einzelnen eingeräumt werden kann und soll, eine Untersuchung, die wesentlich meine Aufgabe bildet, wie ich im Beginn des 16. Kapitels bemerkt habe.
Aus den oben dargelegten Grundlagen des Staates folgt deutlich, dass sein Zweck nicht ist, zu herrschen, die Menschen in der Furcht zu erhalten und fremder Gewalt zu unterwerfen, sondern vielmehr den Einzelnen von der Furcht zu befreien, damit er so sicher als möglich lebe, d.h. so, dass er sein natürliches Recht zum Dasein ohne seinen und Anderer Schaden am besten sich erhalte. Ich sage, es ist nicht der Zweck des Staates, die Menschen aus vernünftigen Wesen zu wilden Thieren oder Automaten zu machen; sondern ihre Seele und ihr Körper soll in Sicherheit seine Verrichtungen vollziehen, sie sollen frei ihre Vernunft gebrauchen und weder mit Hass, Zorn oder List einander bekämpfen, noch in Unbilligkeit gegen einander verfahren. Der Zweck des Staates ist also die Freiheit.
Ferner ergab sich, dass die Bildung des Staates erforderte, dass die Macht, über Alles zu beschließen, bei Allen oder Einigen oder bei Einem sei. Denn das Urtheil [268] der Menschen ist verschieden; ein Jeder meint Alles zu verstehen, und es ist unmöglich, dass Alle desselben Sinnes sind und übereinstimmend sprechen; deshalb war ein friedliches Leben nur möglich, wenn Jeder sich des Rechtes, nach seinem eigenen Gutfinden zu handeln, begab. Aber wenn dies geschah, so begab er sich doch nicht des Rechtes, zu denken und zu urteilen; deshalb kann Niemand ohne Verletzung des Rechtes der Staatsgewalt gegen ihren Beschluss handeln, wohl aber denken, urteilen und folglich auch sprechen, sobald es nur einfach gesagt oder gelehrt wird, und nur mit Vernunftgründen, aber nicht mit List, Zorn, Hass oder der Absicht, etwas in dem Staat durch das Ansehn seines eigenen Willens einzuführen, geschieht. Wenn z.B. Jemand von einem Gesetze zeigt, dass es der gesunden Vernunft widerspreche, und deshalb dessen Abschaffung fordert, so macht er sich als guter Bürger um den Staat verdient, sofern er nur seine Ansicht dem Urteil der Staatsgewalt unterwirft, die allein die Gesetze zu geben und aufzuheben hat, und wenn er einstweilen nichts gegen das Gebot dieses Gesetzes tut. Geschieht es aber, um die Obrigkeit der Ungerechtigkeit zu beschuldigen und bei dem Volke verhasst zu machen, oder will er das Gesetz gegen den Willen der Obrigkeit mit Gewalt beseitigen, so ist er ein Unruhestifter und Aufrührer.
Damit ergibt sich, wie ein Jeder, unbeschadet des Rechts und der Macht der Staatsgewalt, d.h. unbeschadet des Frie-dens des Staates, seine Gedanken äussern und lehren kann; nämlich wenn er den Beschluss über die Ausführung ihr überlässt und nichts dagegen tut, sollte er auch dabei oft gegen das, was er klar für gut erkannt und hält, handeln müssen. Dies kann unbeschadet der Gerechtigkeit und Frömmigkeit geschehen und soll geschehen, wenn er sich als
ein gerechter und frommer Mann erweisen will. Denn die Gerechtigkeit hängt, wie ich früher dargelegt, nur von dem Beschluss der Staatsgewalt ab; deshalb kann nur der, wer nach ihren Geboten lebt, gerecht sein. Die Frömmigkeit ist aber, wie ich in dem vorgehenden Kapitel gezeigt, die Summe Alles dessen, was für den Frieden und die Ruhe des Staates getan wird, und diese kann nicht erhalten bleiben, wenn Jeder nach seinem Belieben leben kann; deshalb ist es auch [269] gottlos, nach seiner Ansicht etwas gegen die Beschlüsse der Staatsgewalt, welcher er untergeben ist, zu thun; denn wäre dies Jedem erlaubt, so folgte daraus nothwendig der Untergang des Staates. Vielmehr kann er nicht gegen den Willen und das Gebot der eignen Vernunft handeln, so lange er nach den Geboten der Staatsgewalt handelt; denn er hat in Anlass seiner eignen Vernunft beschlossen, sein Recht, nach seinem eigenen Willen zu leben, auf sie zu übertragen.
Dies kann ich auch nun durch die Praxis bestätigen. So geschieht selten in den Versammlungen der höchsten und der niederen Staatsgewalten etwas in Folge der einstimmigen Meinung aller Mitglieder und doch nach dem gemeinsamen Beschlusse Aller, sowohl Derer, die dafür, wie Derer, die dagegen gestimmt haben.
Ich kehre jedoch zu meiner Aufgabe zurück; wir haben aus der Grundlage des Staates entnommen, wie jeder sich seiner Freiheit des Urteils unbeschadet des Rechts der Staatsgewalt bedienen kann. Daraus kann man ebenso leicht bestimmen, welche Meinungen in einem Staate als aufrührerisch gelten können; nämlich nur die, welche mit ihrer Aufstellung den Vertrag beseitigen, wodurch Jeder sich des Rechts, nach eigenem Belieben zu handeln, begeben hat. Behauptet z.B. Jemand, die Staatsgewalt sei nicht selbstständig, oder Niemand brauche seine Verträge zu halten, oder Jeder müsse nach seinem Belieben leben können, und Ähnliches der Art, welches dem erwähnten Vertrag geradezu widerspricht, so ist er ein Aufrührer nicht sowohl wegen dieses Urteils und Meinung, sondern wegen der Tat, welche solche Urteile enthalten, nämlich weil er schon dadurch, dass er solche Gedanken hat, die der Staatsgewalt stillschweigend oder ausdrücklich versprochene Treue bricht. Dagegen sind andere Meinungen, welche keine Tat, d.h. keinen Vertragsbruch, keine Rache und keinen Zorn einschliessen, nicht aufrührerisch; höchstens nur in einem Staate, der irgendwo verdorben ist, wo nämlich die Abergläubischen und Ehrgeizigen, welche die Freien nicht ertragen können, einen solchen Ruf erlangt haben, dass ihr Ansehn bei der Menge mehr als das der Staatsgewalt gilt. Ich bestreite jedoch nicht, dass es noch einzelne Ansichten gibt, die, obgleich sie sich anscheinend nur auf das Wahre oder Unwahre [270] beziehen, doch mit Unrecht aufgestellt oder verbreitet werden. Im Kap. 15 habe ich auch dies angegeben, aber so, dass die Vernunft dabei doch frei blieb.
Bedenkt man endlich, dass die Treue gegen den Staat und gegen Gott nur aus den Werken erkannt werden kann, nämlich aus der Liebe zu dem Nächsten, so kann unzweifelhaft ein guter Staat jedem dieselbe Freiheit
des Philosophierens wie des Glaubens bewilligen. Allerdings können daraus einzelne Unannehmlichkeiten entstehen; allein wo gab es je eine so weise Einrichtung, dass kein Nachteil daraus entstehen konnte? Wer Alles durch Gesetze regeln will, wird die Fehler eher hervorrufen als verbessern. Was man nicht hindern kann, muss man zuge-stehen, selbst wenn daraus oft Schaden entsteht. Denn wie viel Übel entspringen nicht aus der Schwelgerei, dem Neid, dem Geiz, der Trunkenheit und Ähnlichem? Allein man erträgt sie, weil man sie durch die Macht der Gesetze nicht hindern kann, ob-gleich es wirklich Fehler sind; deshalb kann um so viel mehr die Freiheit des Urtheils zugestanden werden, die in Wahrheit eine Tugend ist und nicht unterdrückt werden kann.
Dazu kommt, dass alle aus ihr entstehenden Nachteile durch das Ansehen der Obrigkeit, wie ich gleich zeigen werde, vermieden werden können; wobei ich nicht erwähnen mag, dass diese Freiheit zur Beförderung der Wissenschaften und Künste unentbehrlich ist; sie können nur von denen mit glücklichem Erfolge gepflegt werden, welche ein freies und nicht voreingenommenes Urteil haben.
Aber man setze, dass diese Freiheit unterdrückt und die Menschen so geknebelt werden können, dass sie nur nach Vorschrift der höchsten Staatsgewalt einen Laut von sich geben, so wird es doch nie geschehen, dass sie auch nur das denken, was diese will, und folglich würden die Menschen täglich anders reden, wie sie denken, die Treue, welche dem Staate so nötig ist, würde untergraben; eine abscheuliche Schmeichelei und Untreue würde dann gehegt, und damit der Betrug und der Verderb aller guten Künste. Allein daran ist nicht zu denken, dass Alle so sprechen, wie es vorgeschrie-ben ist; vielmehr werden die Menschen, je mehr ihnen die Freiheit zu sprechen entzogen wird, desto hartnäckiger darauf bestehen, und zwar nicht die [271] Geizigen, die Schmeichler und andere geistigen Schwächlinge, deren höchstes Glück bloß darin besteht, dass sie das Geld im Kasten zählen und den Bauch voll haben, sondern die, welche eine gute Erziehung, ein rechtlicher Charakter und die Tugend der Freiheit zugewendet hat. Die Menschen können ihrer Natur nach nichts weniger ertragen, als dass Meinungen, die sie für wahr halten, als Verbrechen gelten sollen, und dass ihnen als Unrecht das angerechnet werden solle, was sie zur Frömmigkeit gegen Gott und die Menschen bewegt. Dann kommt es, dass sie die Gesetze verwünschen und gegen die Obrigkeit sich vergehen und es nicht für schlecht, sondern für recht halten, wenn sie deshalb in Aufruhr sich erheben und jede böse Tat versuchen.
Ist die menschliche Natur so beschaffen, so treffen die Gesetze gegen Meinungen nicht die Schlechten, sondern die Freisinnigen; sie halten nicht die Böswilligen im Zaum, sondern erbittern nur die Ehrlichen, und sie können nur mit grosser Gefahr für den Staat aufrecht erhalten werden. Auch sind solche Gesetze überhaupt ohne Nutzen; denn wer die von den Gesetzen verbotenen Ansichten für wahr hält, kann dem Gesetz nicht gehorchen, und wer sie für falsch hält, nimmt die sie verbietenden Gesetze wie ein Vorrecht und pocht so darauf, dass die Obrigkeit sie später, selbst wenn sie will, nicht wieder aufheben kann. Dazu kommt das oben in Kap. 18 aus der jüdischen Geschichte unter No. 2 Abgeleitete. Wie viel Spaltungen sind endlich daraus in der Kirche entstanden? Welche Streitigkeiten der Gelehrten hat nicht die Obrigkeit durch Gesetze beenden wollen? Hofften die Menschen nicht, Gesetz und Obrigkeit auf ihre Seite zu ziehen, über ihre Gegner unter dem Beifall der Menge zu triumphieren und Ehre zu gewinnen, so würden sie nie mit so ungerechtem Eifer streiten, und keine solche Wut würde ihr Gemüt ergreifen.
Dies lehrt nicht bloß die Vernunft, sondern auch die Erfahrung in täglichen Beispielen. Solche Gesetze, welche Jedem vorschreiben, was er glauben soll, und umgekehrt, gegen diese oder jene Ansicht etwas zu sagen oder zu schreiben verbieten, sind oft gemacht worden, um dem Zorn derer zu fröhnen oder vielmehr nachzugeben, die keinen freien Sinn ertragen können und durch Missbrauch [272] ihrer Amtsgewalt die Ansicht der aufrühreri-schen Menge leicht in Wut verwandeln und gegen beliebige Personen aufhetzen können. Aber wäre es nicht heilsamer, dem Zorn und der Wut der Menge Einhalt zu tun, als unnütze Gesetze zu geben? Gesetze, die nur von denen verletzt werden können, welche die Tugend und die Künste lieben und den Staat so in Verlegenheit bringen, dass er freie Männer nicht mehr ertragen kann? Welches grössere Übel gibt es für einen Staat, als dass rechtliche Männer, welche anders denken und sich nicht verstellen können, wie Verbrecher in die Verbannung geschickt werden? Was ist verderblicher, als Menschen nicht wegen eines Verbrechens oder einer Untat, sondern wegen ihres freien Sinnes für Feinde zu halten und zum Tode zu führen, so dass die Richtstätte, der Schrecken der Schlechten, sich in das schönste Theater verwandelt, wo ein Beispiel höchster Duldung und Tugend zur Schande der Majestät des Staates dargeboten wird. Denn die sich als ehrliche Leute kennen, fürchten den Tod nicht, wie Verbrecher, und bitten nicht um Gnade. Ihr Gemüt ist nicht durch die Reue über eine schlechte Tat beängstigt, und sie halten es für recht und ruhmvoll und nicht für ein Verbrechen, wenn sie für die gute Sache und die Freiheit sterben. Welches Beispiel soll also mit dem Tode solcher gegeben werden, deren Sache die Trägen und Schwachen nicht verstehen, die Aufrührerischen hassen und die Ehrlichen lieben? Es kann nur ein Beispiel zur Nachahmung oder mindestens zur Bewunderung daraus entnommen werden.
Damit also nicht die bloße Zustimmung, sondern die Treue geschützt bleibe, und die Staatsgewalt den Staat in gutem Stand erhalte und nicht genötigt sei, den Aufrührern nachzugeben, muss die Freiheit des Urteils zuge-standen, und die Menschen müssen so regiert werden, dass sie trotzdem, dass sie unverhohlen verschiedener und entgegengesetzter Ansicht sind, doch friedlich mit einander leben. Unzweifelhaft ist dies die beste und mit den wenigsten Nachteilen verknüpfte Art der Regierung, denn sie stimmt am besten mit der Natur des Men-schen überein. Denn in dem demokratischen Staat, welcher sich dem natürlichen Zustand am meisten nähert, sind Alle übereingekommen, nach gemeinsamem Beschluss zu [273] handeln, aber nicht zu urteilen und zu denken; d.h. weil alle Menschen nicht gleichen Sinnes sein können, ist man übereingekommen, dass das, was die Mehrheit der Stimmen für sich habe, die Kraft des Beschlusses haben solle, mit Vorbehalt, es wieder aufzuheben, wenn Besseres sich zeigt. Je weniger daher dem Menschen die Freiheit des Urteils gestattet ist, desto mehr entfernt er sich von dem natürlichen Zustand, und desto mehr wird er durch Gewalt regiert.
Auch sind Beispiele genug vorhanden, und ich brauche nicht weit danach zu suchen, dass aus dieser Freiheit keine solchen Nachteile erwachsen, welche die Staatsgewalt nicht beseitigen konnte, und dass sie genügt, damit die Men-schen, wenn sie auch offen zu entgegengesetzten Meinungen sich bekennen, doch von gegenseitiger Verletzung ab-gehalten werden können. Die Stadt Amsterdam gibt ein solches Beispiel, welche zu ihrem grossen Wachstum und zur Bewunderung aller Völker die Früchte dieser Freiheit genießt. Denn in diesem blühenden Staat und vortreff-lichen Stadt leben alle Völker und Sekten in höchster Eintracht, und will man da sein Vermögen Jemand anver-trauen, so fragt man nur, ob er reich oder arm sei, und ob er redlich oder hinterlistig zu handeln pflege; im Übrigen kümmert sie die Religion und Sekte nicht, weil vor dem Richter damit nichts gerechtfertigt oder ver-urteilt werden kann, und selbst die Anhänger der verhasstesten Sekten werden, wenn sie nur Niemand ver-letzen, Jedem das Seinige geben und ehrlich leben, durch das Ansehn und die Hilfe der Obrigkeit geschützt.
Als dagegen vordem der Streit der Demonstranten und Contra-Demonstranten über die Religion von den Staats-männern und den Provinzialständen aufgenommen wurde, wurde zuletzt eine Religionsspaltung daraus, und viele
Fälle bewiesen damals, dass Religionsgesetze, welche den Streit beilegen wollen, die Menschen mehr erbittern als bessern. Andere entnehmen daraus eine schrankenlose Freiheit, und es zeigt sich, dass die Spaltungen nicht aus dem Streben nach Wahrheit, als der Quelle der Milde und Sanftmut, sondern aus der Herrschsucht entspringen. Deshalb
sind offenbar nur diejenigen abtrünnig, welche die Schriften Anderer verdammen und den ausgelassenen Pöbel gegen die Schriftsteller zur Gewalt [274] aufhetzen, aber nicht diese Schriftsteller, welche meist nur für die Gelehrten schreiben
und nur die Vernunft zur Hilfe haben. Deshalb sind in einem Staate diejenigen die wahren Unruhestifter, welche das freie Urteil, was sich nicht unterdrücken lässt, doch beseitigen wollen.
Damit habe ich gezeigt,
1) dass den Menschen die Freiheit, das, was sie denken, zu sagen, nicht genommen werden kann;
2) dass diese Freiheit ohne Schaden für das Recht und Ansehen der Staatsgewalt Jedem zugestanden und von ihm geübt werden kann, sobald er sich nur hütet, damit etwas als Recht in den Staat einzuführen oder etwas gegen die geltenden Gesetze zu tun;
3) dass jedweder diese Freiheit haben kann ohne Schaden für den Frieden des Staates, und ohne dass ein Nachteil entstände, dem man nicht leicht entgegentreten könnte;
4) dass Jeder diese Freiheit auch unbeschadet der Frömmigkeit haben kann;
5) dass Gesetze, welche über spekulative Dinge erlassen werden, unnütz sind;
6) endlich habe ich gezeigt, dass diese Freiheit nicht bloß ohne Schaden für den Frieden des Staates, die Frömmigkeit. und das Recht der Staatsgewalt bewilligt werden kann, sondern dass dies auch zur Erhaltung derselben geschehen muss.
Denn wo man dem entgegen dies den Menschen entziehen will, und wo der Streitenden Meinung, aber nicht die Absicht, die allein strafbar ist, vor Gericht gestellt wird, da wird an rechtlichen Leuten ein Beispiel aufgestellt, was vielmehr für ein Märtyrertum gilt und die Anderen mehr erbittert und mehr zum Mitleiden stimmt, als von der Rache abschreckt. Ferner gehen dabei die guten Kräfte und der gute Glaube zu Grunde; die Schmeichler und Treulosen werden gepflegt, und die Gegner triumphieren, weil man ihrem Zorne nachgibt, und weil sie die Inhaber der Staats-gewalt zu Anhängern ihrer Meinung gemacht haben, als deren Ausleger sie gelten. Deshalb wagen sie deren Ansehen und Recht sich anzumaßen und scheuen sich nicht, zu behaup-ten, dass Gott sie unmittelbar auserwählt habe, und dass ihre Beschlüsse göttliche, aber die der Staatsgewalt nur menschliche seien und deshalb den göttlichen, d.h. ihren eigenen, weichen müssen. Jedermann sieht ein, dass dies dem Wohl des Staates geradezu widerspricht, und deshalb schließe ich, wie oben in [275] Kap. 18, damit, dass für den Staat nichts heilsamer ist, als wenn die Frömmigkeit und Religion nur in die Ausübung der Liebe und Billigkeit gesetzt wird und das Recht der Staatsgewalt in geistlichen wie in weltlichen Dingen nur für die Handlungen gilt, und im Übrigen jedem gestattet ist, zu denken, was er will, und zu sagen, was er denkt.
Damit habe ich den in dieser Abhandlung mir gesetzten Zweck erfüllt. Ich habe nur noch ausdrücklich zu er-klären, dass ich Alles darin mit Freuden der Prüfung und dem Urteil der höchsten Staatsgewalt meines Vater-landes unterwerfe. Sollte etwas darin den Gesetzen des Landes oder dem allgemeinen Wohl nach ihrem Urteil schaden, so will ich es nicht gesagt haben. Ich weiß, dass ich ein Mensch bin und irren kann; aber ich habe mich emsig bemüht, nicht in den Irrtum zu geraten und nur das zu schreiben, was den Gesetzen meines Vaterlandes, der Frömmigkeit und den guten Sitten entspricht.
Ende
Schreibweise leicht modernisiert (z.B. th > t); Hervorhebungen in Fettdruck, UWD Oktober 2023
Baruch de Spinozas Philosophie
Baruch de Spinoza Philosophie gilt bis heute als Anfang und Paradigma einer naturalistischen und damit monistischen Philosophie, die die beiden überlieferten Paradigmen der platonischen und aristotelischen Philosophien ablösen sollte. Während die Philosophie von Thomas Hobbes wegen ihrer materialistischen und physikalistischen Positionen zurecht als unhaltbar und nur noch als historisch interessant gilt, genießt der Naturalismus von Baruch de Spinoza prima facie den Vorzug, dass er ihn mit einem metaphysischen Pantheismus und mit einer naturalistischen Anthropologie verbun-den hatte, die anders als Descartes eine nicht-dualistische Lösung des Leib-Seele-Problems verspricht. Daher sehen auch Freunde des modernen Naturalismus in Spinoza einen Wegbereiter ihrer eigenen naturalistischen Philosophie.
Baruch de Spinoza gilt jedoch auch als der erste politische Philosoph, der den aristokratischen Republikanismus seiner Zeit dafür kritisiert hatte, dass er sich selbst in den Niederlanden immer noch auf die Herrschaft einer Oligarchie von wohlhabenden Aristokraten und religiösen Autoritäten gestützt hatte. Zwar waren die Niederlande damals in Europa vor allem im Vergleich zu den absoluten Monarchien in England, Frankreich, Spanien und Portugal die freieste und toleranteste Nation, da sie nicht mehr wie die absoluten Monarchien ihre staatliche Herrschaft über die Körper der Menschen durch eine religiöse Herrschaft über ihre Seelen (d.h. ihre Gedanken und Gefühle) ergänzten.
Baruch de Spinoza hat zu Lebzeiten nur seine Abhandlung über die Philosophie von Rene Descartes unter seinem Namen publiziert. Dessen weitgehend scholastisch geprägte Philosophie hatte er jedoch in seiner sog. Ethik (Ethica, ordine geometrico demonstrata; Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt) in einer neostoischen Manier bis zur völligen Unkenntlichkeit umgestaltet. Der Mathematiker, Naturforscher und scholastisch gebildete Philosoph Rene Descartes hatte sich zu Lebzeiten immer noch zur katholischen Kirche bekannt und eine sog. "provisorische Ethik" gelehrt, die eine "vorläufige" praktische Orientierung an der Ethik der katholischen Religion empfahl.
Spinozas sog. "Ethik" hingegen war keine Ethik im Sinne der platonischen Tugenddialoge, der aristotelischen Schriften zur Ethik (Nikomachische und Eudemische Ethik) oder der stoischen Schriften zur Ethik oder Moralphilosophie (wie z.B.
von Cicero, Epiktet, Seneca, u.a.), sondern vielmehr ein innovatives und einheitliches Werk. Seine Ethik war also eher
ein philosophisches "System" aus einem Guss, denn sie enthielt im Wesentlichen:
1. eine pantheistische Metaphysik der Allnatur, die er mit Gott identifiziert hatte (Deus sive Natura),
2. eine deterministische Anthropologie der kausalen Bestimmungsgründe des menschlichen Verhaltens, und
3. eine psychologische Affektenlehre oder eine deskriptive Ethik dieser kausalen Bestimmungsgründe.
Franz Brentano hat in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie der Neuzeit die scheinbare methodische Strenge der axiomatischen Darstellung nach dem Vorbild der euklidischen Geometrie (more geometrico) mit Definitionen und Axiomen als irreführend bezeichnet, da sie sehr viele Fehlschlüsse (Petitio principii und Paralogismen) enthält. Er kritisierte sie als grobe "Verstöße gegen alle Regeln wissenschaftlicher Beweisführung" (GPhN, S. 22). Diese angeblich strenge Beweisführung nach Art der euklidischen Geometrie (more geometrico) muss man heute nicht mehr allzu ernst nehmen. Wichtiger sind die Definitionen der Schlüsselbegriffe und seine Hauptthesen.
Alexander Pfänder hat in seiner Phänomenologie des Wollens (1900) Spinozas Affektenlehre für seine fragwürdigen
Definitionen der Liebe und des Hasses kritisiert. Diese tiefsinnige Kritik hat dann Ortega Y Gasset in seinen berühmten essayistischen Betrachtungen über die Liebe (1941) wieder aufgenommen und bekräftigt. Nach Ortega haben nicht nur Augustinus und Thomas von Aquin das Wesen der Liebe und des Hasses noch nicht angemessen verstanden, sondern auch Spinoza noch nicht. Denn Spinoza definierte die Liebe und den Haß als bloße "Gefühle der Lust und der Unlust", insofern sie mit einer "Idee ihrer äußeren Ursachen" verknüpft sind. Aber Lust und Unlust sind basale Instinkte bzw. vitale Affekte und keine (komplexeren) Gefühle. "Etwas oder jemanden lieben hieße einfach, glücklich sein und sich zugleich Rechenschaft geben, daß das Glück von diesem Etwas oder Jemand herrührt. Wir sehen hier wiederum die Liebe mit ihren möglichen Folgen verwechselt." (Ortega, S. 10) Erst Pfänder habe dann, so Ortega, aufgrund seiner phänomenologischen Untersuchungen des Wollens, der Motivationen und der Emotionen mit dem grundlegenden Irrtum Spinozas aufgeräumt, dass Liebe immer eine Lust mit dem Wissens um ihre Verursachung sei, da sie doch gerade sehr schmerzvoll sein kann, da Liebende nicht selten auch um ihrer Liebe zu willen leiden bereit sind. Das Maß des Leidens, das Liebende für den oder das Geliebte auf sich nehmen, gilt sogar oft als ein Gradmesser ihrer Liebe.
Vermutlich haben Spinozas radikale Zweifel am anthropomorphen Gottesbild seines ursprünglich jüdischen Glaubens ihn dazu bewogen, in seiner Ethik so streng wissenschaftlich vorzugehen. "Wissenschaftlich", das hieß für ihn und seine naturwissenschaftlich denkenden Zeitgenossen einerseits axiomatisch und andererseits kausalanalytisch. Außer den Naturwissenschaften kannte er Einiges an jüdischer und islamischer Philosophie, kabbalistische Mystik sowie Einiges von Giordano Bruno. Die Physik hatte jedenfalls neben der Logik und Ethik seit den Stoikern die höchste epistemische Autorität und diese Autorität wurde in der frühen Neuzeit durch die nova scientia von Kopernikus, Gailei und Newton zunehmend verstärkt. Da der tiefe Konflikt zwischen dem mechanistischen Weltbild der neuzeitlichen Naturwissen-schaften und dem teils mythischen, teils historischen Selbstverständnis der Israeliten im antiken Israel, das im Tanach der Juden sowie im alten bzw. hebräischen Testament der Christen enthalten ist, teilweise immer noch virulent ist, ist auch die Auseinandersetzung mit Spinozas neuzeitlichem Paradigma des Naturalismus trotz erheblicher Unterschiede zu den modernen Naturwissenschaften und zum modernen Naturalismus immer noch aufschlussreich.
Sowohl die Glaubwürdigkeit des Glaubens der Juden als auch die Glaubwürdigkeit des Glaubens der Christen hängt auch heute noch davon ab, ob die atheistische Weltanschauung des modernen Naturalismus in ihre Schranken ver-wiesen werden kann. Denn die modernen Naturwissenschaften mit ihrer impliziten Voraussetzung der Logik und Mathematik verpflichten niemanden, auch keine kompetenten und erfolgreichen modernen Naturwissenschaftler,
auf die atheistische Weltanschauung des Naturalismus, wie die meisten zeitgenössischen Naturalisten und wie vor
allem missionierende Atheisten wie Daniel Dennett oder Richard Dawkins nur all zu gerne unterstellen.
Moderne Naturwissenschaftler können zugleich überzeugte Juden oder Christen sein, insofern sie nur keine bornierten Ideologen sind und daher verstehen, wie ihr Glaube mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu vereinbaren ist. Genau genommen setzt ihr Grundvertrauen in die empirische Erforschbarkeit der Natur und in die rationale Intelligibilität der natürlichen Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten sogar voraus, dass sie als Menschen dazu befähigt und bestimmt sind, Wahrheiten über sich selbst und die Welt zu entdecken, zu erklären und zu verstehen. Diese Befähigung und Bestimmung erklären sich Juden, Christen und Muslime bis heute immer noch durch die ihnen von Gott verliehene Gottebenbildlichkeit, die freilich durch die Sünde stark eingeschränkt und beschädigt, aber nie ganz verloren sein kann. Naturwissenschaftler zu sein bedeutet daher mehr als nur irgendeinen Job zu haben, um damit Geld zu verdienen, um sich selbst und seine Familie zu ernähren, oder um Karriere zu machen, die einem soziales Ansehen und akademischen Einfluss verschaffen.
Obwohl dieser bis heute anhaltende weltanschauliche und philosophische Konflikt zwischen den neuzeitlichen Natur-wissenschaften und dem biblischen Glauben maßgeblich erst in Kants kritischer Philosophie thematisiert wurde, lohnt es sich, sich damit zu befassen, wie vor ihm schon Spinoza versucht hat, Descartes' scholastisch geprägte theistische Metaphysik und dualistische Anthropologie naturalistisch und monistisch zu überwinden. Der weltanschauliche und philosophische Konflikt hat nicht nur existenziell relevante Folgen für das menschliche Selbstverständnis in ganz Europa und anderen Regionen westlicher Kulturen mit ihren tiefen kulturellen Prägungen durch Judentum und Christentum, sondern auch für das Menschenbild, das jeder philosophischen Ethik, Rechtsphilosophie und Politischen Philosophie zugrundeliegt und damit in die Prinzipien der rechtlichen und politischen Institutionen rechtsstaatlich verfasster Re-publiken und Demokratien eingeschrieben ist.
1. Spinozas Lehre von Gott in seiner "Ethik"
Gott hat dem klassischen Theismus zufolge mindestens folgende zehn Qualitäten. Er ist:
1. ein selbstständiges und aus sich selbst heraus bestehendes Wesen (Aseität),
2. einfach und kontinuierlich und daher ohne irgendwelche Elemente oder Teile (Simplizität),
3. unveränderbar und unbeweglich (Konstanz),
4. frei von (störenden) Emotionen (Impassibilität),
5. für uns Menschen nicht vollständig verstehbar (Inkomprehensibilität),
6. ewig, also jenseits der menschlichen Zeitperspektiven von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Atemporaliät),
7. überall, also jenseits einer Lokalisierung an bestimmten Orten im schier unendlich weiten Raum (Alokalität),
8. allmächtig in schöpferischer Hinsicht, nicht im Sinne einer angeblichen Steuerung des Weltgeschehens (Omnipotenz),
9. allwissend in verstehender Hinsicht, nicht im Sinne einer Prädetermination des Weltgeschehens (Omniintelligibilität),
10. allgütig im Sinne einer kontrapunktischen Harmonie von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit (Omnibenevolenz).
Spinoza bricht jedoch völlig mit dem klassischen Theismus, der auch noch Descartes' Meditationen geprägt hat, und identifiziert Gott pantheistisch mit der Natur, jedoch nicht nur mit der irdischen Natur, sondern mit der einen Allnatur des ganzen Universums. Um Gott nicht ganz auf die gewordene Natur als einen naturgesetzlichen Mechanismus zu reduzieren, unterscheidet er noch ad hoc zwischen der natura naturans, der schöpferisch bildenden Potenz der Natur, und der natura naturata, der schöpferisch hervorgebrachten naturgesetzlichen Natur.
Spinoza übernimmt zwar den auf Aristoteles zurückgehenden Begriff der Substanz, aber anstatt wie dieser und wie die ganze Scholastik bis hin zu Descartes von einer unbestimmbar großen Vielzahl von einzelnen Substanzen mit ihren verschiedenen Attributen und Relationen in der raumzeitlichen Welt auszugehen, reserviert er diesen Begriff für Gott alleine, der damit von ihm als das eine und einzige, absolute und ewige, Alles umfassende kosmische Wesen gedacht wird. Alles andere in der Welt sollen dann bloß lokal, kausal und zeitlich bedingte Modifikationen (Modi) dieser einen ewigen Substanz sein.
Dieser Gott wird von Spinoza wie das anonyme Schicksal der Stoiker (moira) völlig unpersönlich gedacht und vorgestellt. Daher kann es kaum verwundern, dass die Amsterdamer Juden ihn aus ihrer Synagogengemeinschaft ausgeschlossen, mit Bannflüchen belegt und verbannt haben. Denn seine neostoische Gottheit erinnerte sie mehr an Newtons Mechanik des Weltraums als an ihren persönlichen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der als Schöpfergott "Himmel und Erde" und alles, was sich darin befindet, selbst geschaffen hat, aber daher kaum mit seiner ganzen Schöpfung und den Menschen identisch sein kann. Dabei haben wir es exemplarisch mit dem alten und nicht erst neuzeitlichen Konflikt zwischen dem abstrakten und metaphysischen Gott der Philosophen und dem teils mythischen, teils historischen Gott der biblischen Theologen zu tun.
2. Spinozas Lehre von Menschen in seiner "Ethik"
Da es Spinoza zufolge nur die eine und einzige, absolute und ewige, allumfassende kosmische "Substanz" gibt, ist die ganze Vielfalt der Gegenstände, Ereignisse und Proesse in der Welt bloß eine Ansammlung wechselnder Modifikationen (Modi) dieser einen, absoluten und ewigen Substanz. Daher sind auch die Menschen bloße Modifikationen dieser All-natur bzw. dieser absoluten substanziellen Gottheit. Ihre vielfältigen Verhaltensweisen sind bis in ihre jeweiligen Ge-danken und Entscheidungen hinein vollständig determiniert. Das, was wir für unseren freien Willen halten, ist daher für Spinoza nur eine psychische Illusion aus Unkenntnis der verborgenen Faktoren, die uns vollständig bestimmen.
Menschen verfügen daher nach Spinoza über keinen freien Willen, sondern sind in ihren Überlegungen und Entschei-dungen, Verhaltensweisen und Handlungen vollständig determiniert. Es bleibt nur noch eine menschliche Fähigkeit zu einer sehr eingeschränkten Wahlfreiheit, aus Einsicht in die bestehenden Notwendigkeiten der inneren (psycho-somatischen) und der äußeren (physischen) Determinanten, eine momentane Wahl zu treffen.
Den cartesischen Dualismus einer physischen und ausgedehnten Substanz der Körpers (res extensa) und einer psychi-schen und unausgedehnten Substanz der Seele (res cogitans) übernimmt Spinoza nur prima facie, denn er unterschlägt die von Descartes postulierten psychophysischen Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Substanzen, da es ihm zufolge nur die eine göttliche Substanz der Allnatur gibt, und die physischen und psychischen Attribute der Menschen nur zwei verschiedene Modifikationen dieser einen Substanz sein können. Daher gibt es zwar die physischen Modi der ausgedehnten Körper und die psychischen Modi des unausgedehnten "Denkens" (im Sinne aller Bewußtseinsvorgänge), aber es gibt zwischen ihnen keine psycho-physischen oder physio-psychischen Wechselwirkungen, sodass beide Arten von Modifikationen strikt getrennt sind und nur parallel stattfinden können.
Nur Körperliches kann dann kausal auf Körperliches wirken, wie in einem menschlichen Organismus oder zwischen zwei und mehreren menschlichen Organismen. Seelisches kann dynamisch durch Seelisches modifiziert werden, wie in einer menschlichen Psyche oder wie in den Interaktionen zwischen zwei und mehreren menschlichen Psychen. Geistiges wie die Ideen (ideae in mente) kann nur logisch von Geistigem begrenzt werden. Eine Einheit zwischen diesen zwei bzw. drei Modifikationen in einem oder mehreren Menschen kann nur durch die eine göttliche Substanz der Allnatur gestiftet werden.
Die psychophysische Einheit kann nur so gedacht werden, dass Körper und Seele (inklusive Geist) der Menschen als zwei Seiten eines unbekannten Dritten verstanden werden, wobei der Körper objektiv und mittelbar von außen erforscht werden kann und die Seele nur subjektiv und unmittelbar von innen erfasst werden kann. Die physischen Bewegungen der Körper und die psychischen Bewegungen der Seelen sind sozusagen nur "zwei Seiten ein und derselben Medaillie", d.h. der Modifikationen der einen göttlichen Substanz der Allnatur in den Menschen.
Gute und böse Gedanken und Absichten, Überlegungen und Entscheidungen, Taten und Unterlassungen, Einstellungen und Tugenden, Charaktere und Menschen kann es dann eigentlich nicht geben. Dass Menschen etwas als ethisch richtig oder falsch bewerten, hängt dann angeblich nur von ihrer faktischen Unwissenheit ab. Was sie gewöhnlich "gut" nen-nen, entspringt angeblich einer psychisch gesunden Person. Was sie gewöhnlich "böse" nennen, entspringt angeblich einer psychisch kranken Person. Menschen sind nur mehr oder weniger psychisch gesund oder psychisch krank, aber nichts an ihnen ist eigentlich gut oder böse.
Dieser Auffassung sind Naturalisten insbesondere nach Sigmund Freuds Psychoanalyse und nach Marx' historischem Materialismus bis in unsere Gegenwart hinein. Auch der zeitgenössische Postmodernismus, der vor allem durch Michel Foucault geprägt wurde, ist wegen seiner generalisierten Wahrheitsskepsis naturalistisch. Aber fraglich ist und bleibt,
ob diese restlose Psychologisierung bzw. Pathologisierung des Ethischen und Moralischen und damit der praktischen Vernunft wirklich gelingen und überzeugen kann. Denn dabei handelt es sich nur um eine Reduktion des Ethischen
und Moralischen auf etwas bloß Empirisches und Deskriptives.
Kant hatte klar und deutlich erkannt, dass bei dieser naturalistischen Reduktion die praktische Vernunft des Menschen mit ihren ethischen und moralischen, rechtlichen und politischen Idealen, Prinzipien, Werten und Normen vollständig verloren geht. Außerdem ist dann völlig unklar, wie unter solchen Umständen noch die persönliche Entwicklung von der Kindheit bis ins hohe Erwachsenenalter verstanden werden kann und wie dann noch Erziehung anders als eine bloße behavioristische Abrichtung oder als ein ökonomisch motiviertes Training gedacht werden kann. Dies lässt uns ahnen, dass der moderne Naturalismus auch der Merkantilisierung aller Lebensverhältnisse zugrundeliegt und sie begünstigt.
Würden wir die jeweilige psychosomatische Verfassung und die ganze Lebensgeschichte eines Menschen wie ein all-wissender Gott bis in die kleinsten Details hinein kennen, dann könnten wir ihre eigenen Gedanken und Absichten, Überlegungen und Entscheidungen, Taten und Unterlassungen, etc. zwar psychologisch verstehen, aber angeblich
nicht mehr ethisch bewerten. Aber auch dabei handelt es sich um einen naturalistischen Fehlschluss, denn selbst ein
für uns Menschen völlig unerreichbares, weil quasi-göttliches Alles-Verstehen heißt niemals etwas ganz Gutzuheißen oder gar zu Entschuldigen. Außerdem gibt es einen solchen Gott für Spinoza anders als für die klassischen Theisten
gar nicht, sodass das für Spinoza und für alle modernen Naturalisten nur eine müßige Spekulation der Menschen sein kann. Spinozas kosmische Allnatur ist nur ein blinder, kalter und herzloser kosmischer Mechanismus, der die Menschen
weder psychosomatisch verstehen kann noch ihr menschliches Verhalten angemessen beurteilen kann noch ihre
Fehler und Schwächen barmherzig verzeihen kann.
Außerdem kann diese Spekulation in der sozialen Praxis staatlicher Institutionen weder in althergebrachten Monarchien wie in Hobbes' England noch in neuzeitlich verfassten Republiken wie in Spinozas Niederlanden eine Rolle spielen. Die Menschen, Ärzte und Patienten, Anwälte und Richter, Staatsbeamten und Staatslenker kommen nämlich nicht umhin, die aktuellen oder potenziellen Verhaltensweisen der Menschen von ihrer natürlich begrenzten menschlichen Warte aus als nützlich oder gut bzw. als schädlich oder schlecht zu bewerten und zu beurteilen. Höchstens im Hinblick auf die fallible Entscheidung für eine irreversible Todesstrafe könnte diese für Spinoza eigentlich irreführende spekulative Überlegung eine Rolle spielen. Ansonsten kann menschliches Verhalten für konsequente Naturalisten eigentlich nur deskriptiv verstanden und kausalanalytisch erklärt werden. Beurteilungen und Bewertungen menschliches Verhalten können nur noch konsequentialistisch oder utilitaristisch vorgenommen und begründet werden.
Nicht nur der qualitative Unterschied zwischen mechanistisch bewegten Menschen und Tieren verschwindet bis auf
jene dann nur seltsamen Laute und Zeichenfolgen, die wir "Sprache" nennen. Auch die qualitativen Differenzen zwi-schen mechanistisch bewegten Menschen und bloßen Automaten (digital gesteuerten Computern, Robotern, etc.) verschwinden bis auf jene seltsamen inneren Antriebe und Bewegungen, die wir "Motivationen" und "Emotionen" nennen. Es kann in Spinozas naturalistischer Psychosomatik und deterministischer Anthropologie keine mentale Verursachung geben, d.h. keine echten und freien Willensentscheidungen aus Gründen praktischer Vernunft.
Da der auf diese Weise naturalistisch verstandene Mensch weder über eine echte Freiheit der Selbstbestimmung ver-fügen kann, können auch sämtliche Kognitionen, bei denen Kant sorgfältig zwischen Verstand, Vernunft und Urteilskraft unterschieden hat, gar keine bestimmende Kraft mehr haben, den Willen zu bestimmen und sind dann bloße blinde Epiphänomene von Gehirn und Nervensystem. Verhaltensbestimmend sind dunkle Antriebe und unbewusste Motive, die zwar im aktuellen Verhalten als Tatsachen zum Vorschein kommen können, die dann aber immer nur retrospektiv untersucht, verstanden und psychologisch bzw. psychopathologisch beurteilt werden können.
Von einer Würde des Menschen als ihrem besonderen und unveräußerlichen Wert kann daher im Naturalismus wie bei dem modernen Behavioristen B.F. Skinner auch keine Rede mehr sein und daher haben auch die modernen Bürger-
und Menschenrechte keine reale Fundierung mehr in der Natur des Menschen. Sie werden zu bloßen Konventionen,
die Autokraten und Diktatoren nach Lust und Laune und wenn es ihnen nützlich erscheint, als beliebige Erfindungen
der europäischen Aufklärung bezeichnen können und daher mit Verweis auf ihre andersartigen kulturellen, geschicht-lichen religiösen oder weltanschaulichen Traditionen (China, Indien, Iran, Nordkorea, Russland, Türkei, Saudi-Arabien, etc.) verwerfen können.
2. Spinozas Lehre vom Ethischen in seiner "Ethik"
Von einer philosophischen Ethik oder Moralphilosophie im Sinne einer philosophischen Lehre von ethischen und moralischen Gründen für praktische Überlegungen und Entscheidungen, für bestimmte Handlungen oder konkrete Unterlassungen, kann daher eigentlich auch keine Rede mehr sein. Spinozas Ethik ist nur noch eine deskriptive Etho-logie, d.h. behavoristische Beschreibung und mechanistische Erklärung der angeblich vollständig kausal determinier-
ten Verhaltensweisen der Menschen.
Goethe und Schleiermacher waren trotz der Diskussionen zwischen Jacobi und Anderen über Spinozas (angeblichen) Atheismus beeindruckt und überzeugt. Obwohl Schleiermacher und Goethe, Kants Kritiken gelesen und teilweise recht gut gekannt haben dürften, hatten sie anscheinend -- anders als Friedrich Schiller und Georg Wilhelm Friedrich Hegel -- nicht verstanden, dass die bloße und kaum zu leugnende Tatsache, dass es nun einmal offensichtlich in allen mensch-lichen Kulturen, Religionen und Konfessionen der Menschheit irgendeine Form von praktischer Vernunft gibt, also praktische Ideale, Prinzipien, Normen und Werte, schon alleine dafür spricht, dass es zumindest so viel Freiheit der praktischen Selbstbestimmung geben muss, dass Menschen sich an ihnen orientieren können.
Dass es (von Gott offenbarte oder von menschlichen Autoritäten erlassene) Gebote und Verbote gibt, spricht zumindest dafür, dass Menschen sie sich zu Herzen nehmen und sich nach ihnen selbst bestimmen können. Die Frage ist nur, ob dies autonom oder orthonom, theonom oder heteronom geschieht, also freiwillig oder nur aus Furcht vor göttlichen oder gesellschaftlichen Sanktionen. Diese Frage nach den Motivationsgründen moralischer Gedanken, Gefühle, Ab-sichten, Entscheidungen und Handlungen hatte dann Kant in seiner praktischen Philosophie aufgenommen.
Die praktische Vernunft kann jedoch kein bloßes Epiphänomen der menschlichen Natur als eines biologischen Orga-nismus mit Gehirn und Nervensystem sein. Menschen haben zumindest eine zweite Natur, die durch Kultur, Religion
oder Konfession mit geprägt wird. Damit wirken Platon und Aristoteles, Kant und Hegel, Brentano und Husserl plötzlich wieder viel aktueller als dieser frühneuzeitliche Neostoiker des 17. Jahrhunderts. Ob Menschen darüber hinaus auch eine unsterbliche Geistseele und eine potentielle Beziehung zu einem persönlichen Gott haben können, ist eine ganz andere und viel weiter führende religionspsychologische Frage, die in Spinozas naturalistischer und deterministischer Philosophie jedoch gar nicht mehr zur Sprache kommen konnte.
Spinozas Philosophie mit ihrer deskriptiven Ethik, naturalistischen Anthropologie und pantheistischen Metaphysik war ein zwar höchst wirksames Produkt der von Newtons Mechanik maßgeblich geprägten frühen Neuzeit. Aber trotz ihres starken Einflusses auf einige Denker des 18. und 19. Jahrhunderts und selbst noch auf Albert Einstein und Sigmund Freud im 20. Jahrhundert darf sie heute im 21. Jahrhundert als ein seltsames versteinertes Fossil gelten, an das man kaum noch produktiv anknüpfen kann. Das kommt vor allem davon, dass die newtonische Mechanik durch die weitere Entwicklung in der Physik nur noch eine eingeschränkte Gültigkeit hat, zumal Brauns Elektromagnetismus, Einsteins Relativitätstheorie, Heisenbergs Quantenphysik u.v.a.m. die moderne Physik stark verändert und erweitert haben. Außerdem kamen Chemie und Biologie in den Naturwissenschaften als moderne Leitwissenschaften hinzu.
4. Spinozas Lehre vom Politischen in seinem "Tractatus"
Während die politische Philosophie des Materialisten und Monarchisten Thomas Hobbes den meisten zeitgenössischen Amerikanern und Europäern (außerhalb Russlands) wegen ihrer zynischen Instrumentalisierung der Autorität von Thron und Altar zurecht als unkatholisch und unprotestantisch, als autoritär und totalitär, als anti-republikanisch und unde-mokratisch gilt, hat der neuzeitliche Naturalismus von Baruch de Spinoza anscheinend der Vorzug, dass er seinen spekulativen Pantheismus mit einer naturalistischen Anthropologie verbunden hatte, die anders als Descartes eine nicht-dualistische Auflösung des Leib-Seele-Problems zu versprechen scheint.
Daher hatten schon Goethe und Schleiermacher an Spinozas Ethik Gefallen gefunden. Kant hingegen hielt Spinozas naturalistischen Pantheismus ähnlich wie Leibniz bloß für einen geschickt kaschierten Atheismus und stand seinem Determinismus sehr kritisch gegenüber. Kants Wende zur kritischen Philosophie wurde nämlich ursprünglich von
seiner "Dritten Antinomie" zwischen dem allgemeinem Prinzip der kausalen Verursachung aller Ereignisse in der Welt und damit auch der psychologischen Bedingungen menschlicher Entscheidungen des Willens einerseits und der Notwendigkeit eines freien Willens für die Möglichkeit der moralischen und rechtlichen Selbstbestimmung und Zurechnung menschlicher Entscheidungen des Willens andererseits motiviert. Hegel hingegen versuchte dann
Kants Philosophie der praktischen Vernunft mit Spinozas spekulativem Pantheismus zu verbinden.
Baruch de Spinoza war jedoch auch der erste politische Philosoph der Neuzeit, der den aristokratischen bzw. den oligarchischen Republikanismus seiner Zeit kritisiert hatte und für eine demokratischeres Verständnis plädiert hatte.
Er tat dies, obwohl die Niederlande damals die Republik mit der größten religiösen Toleranz in Europa waren, in der Juden, reformierte Protestanten und römische Katholiken weitgehend friedlich zusammenleben konnten. Die Gründe für den ihm von der Amsterdamer Bürgerschaft auferlegten Bann waren jedoch nicht nur seine demokratische Kritik
am aristokratischen Selbstverständnis der niederländischen Republik, sondern vor allem seine radikale Kritik an jeder religiösen Autorität und institutionell verfassten Religion und Konfession. Diese Kritik konnten weder die Juden und Katholiken als schutzbedürftige religiöse Minderheiten noch die reformierten Protestanten als Schutz gewährende religiöse Mehrheit akzeptieren.
Diese radikale Kritik an allen religiösen Institutionen wurde außerdem von seiner historisch-hermeneutischen Kritik an der Autorität des jüdischen Tanach und der christlichen Bibel untermauert. Denn Spinoza wies gnadenlos, unerbittlich und ohne Kompromisse auf alle fragwürdigen Momente der Heiligen Schriften der Juden und Christen hin. Er kritisierte jeden in ihnen enthaltenen Aberglauben, er stellte alle mythologischen Narrative infrage, er zweifelte praktisch an allen ihren Wundererzählungen sowie an der bloßen Möglichkeit von Wundern, da sie sich angeblich nicht mit dem natur-wissenschaftlichen Erkenntnissen der nova scientia vereinbaren ließen. Er wies akribisch darauf hin, dass die Heiligen Schriften der Juden und Christen nicht nur Abschreibe-, Druck- und Übersetzungsfehler enthielten, sondern auch andere inhaltliche Ungereimtheiten und Widersprüche. Dass das von den Juden und Christen seiner Zeit als voreingenommen und feindselig empfunden wurde, kann niemanden verwundern.
Was heute Studierende der Theologie der Juden und Christen von Anfang an lernen können, wenn sie nicht gerade eine fundamentalistische Bibelschule, sondern eine jüdische oder kirchliche Hochschule oder eine staatliche Universität be-suchen, das war damals eine neue und radikale Kritik an der überlieferten Auffassung dass die Heiligen Schriften der Juden und Christen direkt von Gott oder vom Heiligen Geist inspiriert waren und daher als unfehlbares "Wort Gottes" zu gelten hatten. Heute hingegen ist es selbstverständlich, dass es bei einer angemessenen und haltbaren Auslegung der biblischen Schriften auf die dazu nötigen philologischen Kenntnisse und die hohe Kunst der klugen Interpretation alter Schriften ankommt, die nicht mehr ohne ein geisteswissenschaftliches gebildetes Bewusstsein für den historischen und kulturellen Abstand zu ihren Autoren und ihren soziokulturellen Entstehungsbedingungen möglich ist. Denn nicht auf den bloßen Buchstaben kommt es bei der Lektüre und Auslegung biblischer Schriften an, sondern auf die mutmaß-lichen und erst frei zu legenden Intentionen der Autoren, die auf verschiedene Weise vom Geist Gottes inspiriert waren. Auf diese Weise lässt sich dann das "Wort Gottes" in den überlieferten Schriften gemeinsam suchen und finden, die leib-haftige Menschen gehört, erinnert und für die Nachwelt aufgeschrieben haben.
Im 20. Jahrhundert bekannte sich Karl Jaspers zu Spinoza als einem seiner drei Lieblingsphilosophen neben Platon und Kant. Dass deren Philosophien in einigen Aspekten und Hinsichten nicht miteinander vereinbar sind, dürfte ihm anders als einigen seiner heutigen Anhänger bewusst gewesen sein. Daher dürfen wir annehmen, dass er sich darum bemühte, zwischen ihnen eine kohärente Synthese zu finden. Vermutlich spielte für Jaspers der republikanische Geist von Spinozas Tractatus die größere Rolle als seine Ethik mit ihrer deterministischen Anthropologie und Affektenlehre. Denn diese lehnte er ja gerade in Freuds Psychoanalyse ab. Auch verteidigte Jaspers 1954 ganz entschieden die biblische Theologie trotz ihrer mythologischen Inhalte gegen das radikale Entmythologisierungsprogramm des Marburger Neutestament-lers Rudolf Bultmann, der sich in den 20er Jahren von seinem charismatischen Freund Martin Heidegger in dessen Bann hat ziehen lassen. Das war noch lange vor Heideggers faustischem Pakt mit dem teuflischen Nationalsozialismus nach der Machtergreifung von 1933.
Leo Strauss hat sich in seinem immer noch lesenwerten Buch Natural Right and History (1953) (Naturrecht und Geschichte) unter anderem auch mit Spinozas Tractatus Theologico-politicus auseinandergesetzt. Dabei ist er davon ausgegangen, dass Spinoza als ein aus der Amsterdamer Synagoge ausgestoßener Herkunftsjude und als ein in Amsterdam auch von der Bürgerschaft verfemter Philosoph, beim Schreiben klandestine Techniken der Verbergung seiner für seine Zeit noch viel zu radikalen Überzeugungen verwendet hat, da er es zu Lebzeiten nicht mehr wagen konnte, seine wichtigsten philosophischen Gedanken unter seinem Namen zu publizieren.
Als ehemaliger deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der von den Nazis aus Deutschland vertrieben wurde und der in die USA emigrieren musste, konnte sich Leo Strauss sehr gut in Spinozas Situation eines politisch Verfolgten hineinversetzen. Daher glaubte er dessen hohe Kunst der Verteidigung radikal aufklärerischer und naturrechtlicher Auffassungen über das natürliche Recht auf Gedanken- und Redefreiheit (libertas philosophandi) in einer freiheitlichen Republik verstehen zu können, obwohl er als gemäßigter Jude und konservativer Kritiker des amerikanischen Libera-lismus nicht ganz mit dessen radikaler historisch-kritischer Infragestellung des jüdischen Tanach und der christlichen Bibel einverstanden war.
Karl Jaspers hat als Antipode zu Martin Heidegger und als ein konservativer Liberaler an Spinozas Tractatus größeren Gefallen gefunden als an seiner Ethik. Denn in Sachen Ethik hatte er zweifelsohne Kants praktischer Philosophie immer den Vorrang gegeben. Auch Leo Strauss, der politische Denker und republikanische Kritiker des amerikanischen Libera-lismus, hatte sicher auch größeres Interesse an Spinozas Tractatus als an seiner Ethik. Aber Spinozas Tractatus ist auf-grund seiner metaphysischen Voraussetzung Gottes sicher vormodern und trotz seiner revolutionären Behauptung
der Freiheit als Staatszweck noch kein Dokument einer säkularen Philosophie des politischen Liberalismus.
Denn während sich heute europäische Sozialisten, Sozialdemokraten, Liberale und Christdemokraten darüber streiten, ob der Gottesbezug überhaupt noch in die Präambel ihrer Verfassungen gehört, ist der vormoderne politische Denker Spinoza noch wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass es Gott gibt und dass sein Dasein und seine Verehrung
in den verschiedenen Religionen und Konfessionen politisch geboten ist, da es eine allgemeine Menschenpflicht zur Verehrung Gottes gibt. So dachte auch noch der vorkantischen Denker des Naturrechtes Christian Wolff. Erst Kant hat dann nach seiner kritischen Wende von 1769 mit dieser älteren Tradition einer metaphysischen Fundierung des Natur-rechtes im Glauben an das Dasein Gottes gebrochen.
Spinozas Tractatus gilt daher heute meistens nur noch als wirkungsgeschichtlich relevant, da Spinoza darin als erster politischer Denker der Neuzeit die außerordentliche Bedeutung der Gedanken- und Redefreiheit (libertas philosophandi) als eigentlichen Kern der politischen Freiheit (liberty) postuliert hatte. Die Freiheit zu denken, was man will und zu sagen, was man denkt, schien ihm naturrechtlich fundamental zu sein. Wie unerhört revolutionär diese Forderung damals gewesen ist, ist für zeitgenössische Amerikaner, Europäer und Israelis nur noch schwer nachvollziehbar. Vermutlich können das gegenwärtig demokratische Dissidenten in China, im Iran, in Nordkorea, in Russland oder in Saudi-Arabien besser nachvollziehen. Aber es ist noch kein Jahrhundert vergangen, als es in Deutschland zwei Diktaturen gab, in denen diese Gedanken- und Redefreiheit auch nicht gegeben war, weil jemand aufgrund seiner freimütig öffentlich geäußerten Gedanken und Reden seiner persönlichen Freiheit und seiner beruflichen Existenz beraubt werden konnte oder gar sein Leben verlieren konnte.
Aber Spinoza hat im Tractatus nicht nur die Gedanken- und Redefreiheit (libertas philosophandi) postuliert, die ihm selbst nicht gewährt worden ist. Die eigentlich revolutionäre Kernaussage seines Tractatus geht viel weiter. Er behauptete näm-lich in einer damals ungeheuerlichen Weise, dass (der eigentliche und oberste) Zweck des Staates die Freiheit selbst sei. Das war damals eine ganz und gar umwälzende politische Idee, die den bisherigen anderen naturrechtlichen Lehren von den Zwecken des Staates völlig zuwider lief. Nicht mehr die innere und äußere Sicherheit, nicht mehr die soziale Gerechtigkeit durch die Aufrechterhaltung einer naturrechtlichen Rechtsordnung, nicht mehr der soziale Friede oder
der allgemeine Wohlstand, sondern die Freiheit sei der oberste und wichtigste Zweck des Staates.
Seit dem letzten Quartal des 20 Jahrhunderts ist noch ein anderer und neuer Staatszweck hinzugekommen, der von manchen als vorrangig eingeschätzt wird, nämlich die ökologische Nachhaltigkeit. Auch sie wird zur Zeit von einigen alarmierten und radikalisierten Kimaaktivisten als Staatsziel als so hoch und vorrangig eingeschätzt, dass sie sogar
dafür bereit sind, einige hochgeschätzte Symbole der Verfassung und der freiheitlich-rechtstaatlichen Demokratie zu beschmutzen und zu beschädigen. Ihre demokratische Gesinnung muss daher infrage gestellt werden. Dadurch stellt sich erneut die Frage nach dem einen oder den höchsten Staatszwecken.
Nun kann man sich immer noch trefflich darüber streiten, ob diese verschiedenen Staatszwecke unbedingt in eine hierarchische Ordnung der Zwecke gebracht werden können oder müssen. Realpolitisch und praktisch scheint es nämlich immer eine Pluralität von Staatszwecken zu geben, die stets gegeneinander abgewogen und austariert werden müssen und die nicht in eine strikte und zeitlos gültige hierarchische Ordnung gebracht werden können. Für diese Auffassung sprechen nicht zuletzt die Bestimmungen mehrerer Staatsziele in den Verfassungen der neuzeitlichen Republiken und modernen Demokratien. Für diese Auffassung spricht auch die Existenz und Konkurrenz verschie-
dener politischer Bewegungen, Ideologien und Parteien.
Aber schon die in Deutschland übliche Rede von einer freiheitlich-rechtstaatlichen Demokratie oder von einer freiheit-lich-demokratischen Grundordnung gibt Spinoza nur teilweise recht mit seiner Behauptung eines gewissen Vorranges der Freiheit vor allen anderen Staatszwecken, wie innere und äußere Sicherheit oder allgemeine Wohlfahrt. Aber diese Zweckformel korrigiert ihn auch, indem sie das Recht im Sinne einer rechtstaatlichen Ordnung als gleichrangig ansetzt. In Frankreich werden seit der Französischen Revolution neben der politischen Freiheit (liberte), die rechtliche Gleichheit vor dem Gesetz (egalite) und die Brüderlichkeit bzw. soziale Solidarität (fraternite) als höchste Staatszwecke verstanden. In den USA firmieren in der Präambel der amerikanischen Verfassung als höchste Staatszwecke der Schutz des Lebens, der Freiheit und des Strebens nach Glück ("life, liberty and the pursuit of happiness").
Wer Spinozas Philosophie als Ausgangspunkt und als Paradigma des neuzeitlichen Naturalismus begreifen oder gar konsultieren möchte, wird sich jedoch damit konfrontieren müssen, dass seine naturalistische Weltanschauung und
sein naturalistisch-deterministisches Menschenbild gar nicht geeignet sind die politische Gedanken- und Redefreiheit (libertas philosophandi) so hoch zu schätzen. Denn was für einen Wert soll es denn haben, zu denken, was man will und zu sagen, was man denkt, wenn es doch angeblich gar keine freien Willen gibt.
Denn wenn das subjektive Gefühl, einen in gewissen Grenzen freien Willen zu haben, nur eine Illusion ist, die daher rührt, dass wir einfach nicht wissen, welche Determinanten aktuell unseren Willen bestimmen bzw. ex post faktisch bestimmt haben, dann ist es äußerst unwahrscheinlich, dass Menschen noch einen großen Wert daruf legen, dass
sie denken dürfen, was sie wollen und sagen dürfen, was sie denken.
Spinozas Ethik will daher gar nicht so recht zu seinem Tractatus passen. Es scheint nämlich, dass sie sich gar nicht so gut miteinander vereinbaren lassen, weil sie sich im Hinblick auf das Verständnis von Willensfreiheit und Determination widersprechen. Wenn die Gedanken und Reden eines Menschen angeblich nur ein kausal determinierte Epiphänomene (des Gehirns und Nervensystems) ihres Organismus sind und daher der einzelne Mensch nur ein passives Produkt seiner Erziehung und Lebensgeschichte sowie eine ohnmächtige Marionette einer unbekannten Kette kausaler Fakto-ren, dann kann weder von einer echten Gedanken- und Redefreiheit die Rede sein noch die menschliche Freiheit (liberty) überzeugend als Staatszweck behauptet und verteidigt werden. Denn dann kann unter der geforderten politischen Freiheit (liberty) nur noch die blinde Willkürfreiheit einer irrationalen Selbstbestimmung verstanden werden, die zu allen möglichen Kalamitäten führen kann, von der Anarchie zum Amoklauf, vom Mord zum Selbstmord, vom Putsch zum Bürgerkrieg, vom Terroranschlag zum "totalen Krieg". Denn dann kann es sich insgesamt nur noch um determinierte Naturereignisse im Gehirn und Nervensystem menschlicher Organismen handeln, die in ethischer und moralischer Hinsicht weder gelobt noch getadelt, weder belohnt noch bestraft werden können (P.F. Strawson).
Dogmatischer Naturalismus und republikanischer Liberalismus (freiheitlich-demokratischer Rechtsstaaten) sind daher kaum zu vereinbaren. Spinoza meinte sie nur deswegen vereinbaren zu können, weil die Willensentscheidungen der Menschen für ihn nur Modifikationen der einen absoluten göttlichen Substanz der Allnatur (deus sive natura) sind. Dann aber sind freiheitliche Demokratien ebenso gut wie unfreiheitliche Diktaturen, weil sie beide nur verschiedene Modifi-kationen der einen absoluten göttlichen Substanz der Allnatur (deus sive natura) sind.
Das zu verstehen und sich stets in Erinnerung zu rufen, muss dann jedoch zur einer stoischen Gelassenheit, zu einer politischen Resignation und zur absoluten Gleichgültigkeit führen. Que sera, sera! Politisches Engagement der Bürger und verantwortliches Handeln der Regierenden würden dann eigentlich sinnlos, denn auch sie wären nur wertneutrale natürliche Ereignisse und Prozess der Allnatur wie ein Tornado oder wie ein Meteoriteneinschlag.