Hans-Georg Gadamer (1900-2002)

 

 

 

 

 

Erst wenn durch fleißige gegenseitige Vergleichung Namen, definierende Beschreibungen mittels der Sprache,

sinnliche Anschauungen und Wahrnehmungen in Beziehung auf ihre Aussagen vom Wesen der Dinge in leiden-schaftslosen Belehrungen berichtigt werden, und wenn wir hierbei ohne leidenschaftliche Rechthabereien

die rechte dialektische Methode anwenden, dann erst geht uns das Licht der rein geistigen Wahrnehmung und

der reinen Vernunftauffassung des inneren Wesens der Dinge auf.

 

Platon

 

 

Wir werden uns aber mit demjenigen Grade von Bestimmtheit begnügen müssen, der dem gegebenen Stoffe entspricht. Denn man darf nicht bei allen Fragen die gleiche Präzision verlangen, wie man es ja auch nicht im Handwerklichen tut.

 

Aristoteles

 

 

Wer also die Dinge nicht unbedacht einschätzen will, möge sich klar machen, daß es nichts gibt, dessen Nutzen weiter reicht als die Vorteile der Sprache. Das gesamte menschliche Zusammenleben, die Ordnung des öffentlichen und privaten Lebens, die Beschaffung aller lebensnotwendigen Güter, endlich aller Handel und Verkehr werden von der Sprache umfaßt.

 

Philipp Melanchthon

 

 

Das Ziel der Hermeneutik ist das Verstehen im höchsten Sinne.

Niedrige Maxime: man hat alles verstanden, was man, ohne auf

Widerspruch zu stoßen, wirklich aufgefasst hat. Höhere Maxime:

Man hat nur verstanden, was man in allen Beziehungen und in

seinem Zusammenhange nachkonstruiert hat. - Dazu gehört auch,

den Schriftsteller besser zu verstehen, als er sich selbst.

 

Friedrich Schleiermacher

 

 

Die Wirklichkeit selbst kann nicht logisch aufgeklärt, sondern nur verstanden werden. In jeder Realität,

die uns als solche gegeben ist, ist ihrer Natur nach etwas Unaussprechliches, Unerkennbares.

 

Wilhelm Dilthey

 

 

Wenn schon das Grundproblem des Daseins, das nur durch Gemeinschaft sich halten kann, dies ist, wie man sich mit dem Andern versteht, wie man dasselbe meinen und wollen kann, um mit ihm tätig verbunden zu sein, so ist die eigentlich menschliche Wesenheit, Vernunft und Existenz, nirgends tiefer zu treffen als mit der Frage nach ihrer Kommunikation.

 

Karl Jaspers

 

 

In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen, ... weil die Klassiker des philosophischen Gedankens einen Wahrheitsanspruch geltend machen, den das zeitgenössische Bewußtsein weder abweisen noch überbieten kann.

 

Hans-Georg Gadamer

 

 


 

 

Was ist Hermeneutik?

 

Ich bin ein alter Philologe.

 

Hans-Georg Gadamer

 

 

In meiner alltäglichen Lebenswelt nehme ich sowohl innerlich bei mir selbst als auch äußerlich in allen möglichen Situationen und bei anderen Menschen viel mehr wahr als mir gewöhnlich bewußt wird und als ich dann später auch erinnern kann. So nehme ich in meinen visuellen, akustischen, taktilen und anderen Wahrnehmungsfeldern viele phänomenale Mitgegebenheiten wahr, die sich im Hintergrund meiner phänomenalen Gegebenheiten von Personen, Gegenständen und Ereignissen liegen, auf die ich mich gerade bewusst und aufmerksam konzentriere. So befindet sich z.B. momentan in meinem Sehfeld auch das, was von mir um diesen visuellen Eindruck vom Computerbildschirm herum im Hintergrund mit-wahrgenommen wird. Und so befindet sich in meinem akustischen Hörfeld momentan auch ein unbestimmtes und mir nicht bekanntes Geräusch von der Straße und ein mir bekanntes und bestimmbares Geräusch von der Lüftung des Computerterminals, ohne dass ich es zuvor bewusst bemerkt hatte. Freilich hat sich dies eben gerade in dem Moment geändert, als ich darauf aufmerksam wurde, um es als Beispiel anzuwenden. Was zuvor bloß im Hintergrund meiner bewussten Wahrnehmung lag und von mir kaum bemerkt und beachtet wurde, trat dann erst in den Fokus meiner Aufmerksamkeit.

 

Zwar sind weder die phänomenalen Mitgegebenheiten in meinen visuellen, akustischen, taktilen und anderen Wahrnehmungsfeldern noch die phänomenalen Gegebenheiten, auf die ich mich beim bewussten und fokussierten Wahrnehmen konzentriere, mit den realen Personen, Gegenständen und Ereignissen selbst identisch, deren aktuelle Präsenz und unabhängige Existenz ich mehr oder weniger bewusst aus diesen sinnlichen Präsentationen meiner leiblichen Empfindungsorgane erschließe. Aber wenn ich nicht wie die meisten Menschen überhaupt keine solchen sinnlichen Präsentationen hätte, die mir durch meine relativ gesunden Sinnesorgane vermittelt würden, dann hätten ich auch kaum so viele Erfahrungsbegriffe von Personen, Gegenständen und Ereignissen in der Welt erwerben können, die mir und unzähligen anderen Menschen sowohl das passive Verstehen als auch das aktive Anwenden einer großen Vielzahl sprachlicher Ausdrücke, semantischer Bedeutungskriterien und grammatischer Formierungsregeln ermögli-chen. Insofern macht es einen guten Sinn zu sagen, dass die menschliche Wahrnehmung dem Sprechen und Denken vorausgeht und eine wichtige psycho-physiologische Vorbedingung für den Erwerb von Sprache ist, die es mir dann auch erst ermöglicht komplexe sprachförmige Gedanken und Gedankengänge passiv zu erfassen und aktiv zu bilden. Das sprachanalytische Dogma von der angeblichen Unhintergehbarkeit der Sprache ist also aus phänomenologischen Gründen aufzugeben, wie schon Elmar von Holenstein im Anschluss an den Linguisten Roman Jakobson gezeigt hat. (Holenstein, E., Von der Hintergehbarkeit der Sprache. Kognitive Unterlagen der Sprache, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980.)

 

Als Mensch nehme ich gewöhnlich jedoch nicht nur viel mehr wahr, als mir tatsächlich bewusst wird. Ich nehme auch viel mehr bewusst wahr, als worüber ich mit mit den mir verfügbaren sprachlichen Mitteln, die ich in einer Sprach-gemeinschaft erworben habe, in Gedanken reagiere und in Worten und Sätzen spreche. Das weite Feld meiner mehr oder weniger bewussten und fokussierten Wahrnehmungen von lebensweltlichen Situationen ist also viel weiter als das relativ begrenzte Gebiet meiner sprachlichen Äußerungen - sei es in foro interno meiner stillen und ungeäußerten Gedankenfolgen, sei es in foro externo meiner hörbaren und öffentlich geäußerten Aussagen, die andere faktisch hören und meiner Absicht nach hören sollen. Mein externes Sprechen und mein internes Denken in sprachlichen Aus-drücken ist demzufolge gegenüber meinem Wahrnehmen und Bewusstswerden von phänomenalen Gegebenheiten und Mitgegebenheiten sowie von Personen und Gegenständen, Ereignissen und Prozessen in der Welt sowohl in genealogischer Hinsicht etwas psychologisch Nachträgliches, das erst später erlernt wurde, als auch in psychologischer Hinsicht etwas Zusätzliches und Willentliches, das wie alles Willentliche auch hätte unterlassen werden können.

 

 

Vom vorsprachlichen Wahrnehmen zum sprachlichen Denken

 

Nun ist aber nicht nur das weite Feld meiner mehr oder weniger bewussten Wahrnehmungen und Mitwahrnehmungen viel weiter als das relativ enge Gebiet meiner sprachlichen Gedanken und Äußerungen. Mir wird auch viel mehr bewusst und ich kann mich an viel mehr erinnern als ich dann auch tatsächlich verstehe, wie z.B. wenn ich an meine Träume oder andere unwillkürliche Erinnerungen denke. Nicht alles, was ich wahrnehme oder erinnere, ahne oder bemerke, kann ich auch schon ganz und gar verstehen. Es kann manchmal sogar innerlich eigene Gedanken haben und äußerlich sprachliche Äußerungen machen, bei denen ich selbst noch nicht ganz verstehe, woher diese Gedanken kommen, warum ich gerade diese Äußerungen mache, welchen semantischen, grammatischen und logischen Regeln ich dabei implizit folge, welche semantischen Interpretationen meiner Äußerungen für die Hörer und Leser möglich sind, welche logischen Folgen meine Gedankeninhalte haben bzw. haben können, etc.

 

Während das immer noch weite Gebiet meiner sprachlichen Gedanken und Äußerungen nur eine relativ kleine Auswahl aus dem viel weiteren Feld meiner unzähligen Wahrnehmungen und Mitwahrnehmungen darstellt, eröffnet das Ver-stehen wieder einen weiteren Raum, weil alles Verstehen immer schon ein So-und-anders-Verstehen-können im logisch-semantischen, psychologischen oder realwissenschaftlichen Möglichkeitsraum der verschiedenen angemesse-nen und gültigen Interpretationen ist. Dies gilt sowohl für das Verstehen von vergleichsweise eindeutigen sprachlichen Äußerungen und ihren Verschriftlichungen als auch für das Deuten und Verstehen von intentionalen Denkinhalten und psychologischen Phänomenen sowie für die Diagnose und Prognose von kausalen und teleologischen Zusammen-hängen in der Welt.

 

Gleichwohl kommt es uns im Alltag und in den Wissenschaften oftmals nicht nur auf das Verstehen von sprachlichen Äußerungen, ihren logisch-semantischen Gehalten und den Intentionen der Sprecher und Schreiber an, sondern auch auf das Verstehen der in Urteilen und Behauptungen erhobenen Wahrheitsansprüche über bestimmte Sachverhalte in der Welt sowie über vermutliche kausale, teleologische und intentionale Zusammenhänge. Deswegen verstehe ich auch immer weitaus mehr als ich zuverlässig beurteilen kann, wie z.B. irgendwelche fachwissenschaftlichen Behauptungen, die ich zwar in gewissen Hinsichten sprachlich verstehe, bei denen ich nicht selbstständig herausfinden und beurteilen kann, ob sie wahr oder falsch sind. Ich denke dabei z.B. an bestimmte theoretische Aussagen der modernen Teilchen-physik, der Relativitätstheorie, der Quantenphysik oder der Kosmologie von der Entstehung und raum-zeitlichen Aus-dehnung des Universums. Da ich in solchen Fragen nur über laienhaften Kenntnisse aus popularwissenschaftlichen Büchern und Abhandlungen verfüge, kann ich diese Dinge nicht gut beurteilen, obwohl ich manchmal meine das eine oder andere zu verstehen, was man anscheinend auch ohne den ganzen mathematischen Apparat verstehen und in mehr oder weniger metaphorischer Sprache anhand von Vergleichen einigermaßen verständlich ausdrücken kann.

 

Voraussetzungen des Verstehens und der Urteilskraft

 

Dass ich manchmal mehr verstehe als ich zuverlässig beurteilen kann, kommt jedoch nicht nur in den verschiedenen spezialisierten Wissenschaften vor, in denen nur die jeweiligen Experten ganz verstehen und beurteilen können, worum es in einer Diskussion geht, und ob es sich im Einzelfall um einen interessanten, zuverlässigen und wichtigen Beitrag handelt. Das geht mir oftmals auch in der Politik und insbesondere dann, wenn es um komplizierte ökonomi-sche oder rechtliche Fragen geht. Wer versteht auch schon, wie die weltweite Finanzwirtschaft funktioniert und eine gefährliche Weltwirtschaftskrise auslösen kann oder welche vielfältigen Regeln unserem Steuersystem zugrunde liegen? Natürlich mag an den Stammtischen kein Mensch zugeben, dass er sich dabei eigentlich auch nicht so richtig auskennt. Von der allgemeinen Unfähigkeit, die speziellen Angelegenheiten von Experten beurteilen zu können, muss man lediglich die Fähigkeit ausnehmen, offensichtliche begriffliche Inkohärenzen und logische Widersprüche zu erkennen, die man auch als unkundiger Philosoph oder als laienhafter Zaungast wahrnehmen kann.

 

Die hermeneutische Abhängigkeit der sachkundigen Fähigkeit zur Beurteilung von Wahrheitsansprüchen vom voraus-liegenden Verstehen besteht auch in den verschiedenen handwerklichen und schönen Künsten, mit denen man sich meistens auch lange Zeit intensiv beschäftigt haben muss, um sich im Einzelfall ein fundiertes und zuverlässiges Urteil bilden zu können. Was gebildete Kunstkenner selbstverständlich den verschiedenen Künsten zubilligen, gilt auch für die verschiedenen Religionen und Konfessionen der Menschheit. Denn diese hermeneutische Abhängigkeit besteht auch in Bezug auf die Religionen und Konfessionen, die man hinsichtlich ihrer psychohygienischen und sittlichen Ziele sowie in Bezug auf ihre geistigen Inhalte und rituellen Praktiken in einem tieferen und angemessenen Sinne eigentlich nur "von innen heraus" verstehen und beurteilen kann, weil man in einer bestimmten Glaubens- oder Religionsgemein-schaft "mit Leib und Seele" als Mitglied beheimatet ist und deswegen als ein dort einigermaßen kundiger Teilnehmer "mitreden" kann.

 

Diese hermeneutische Abhängigkeit der persönlichen Urteilskraft vom Verstehen gilt in gewissen Maße auch für das praktische Geschäft der Ärzte und Therapeuten, der Richter und Rechtsanwälte, der Unternehmer und Politiker, das man jeweils auch "von der Pike auf gelernt" haben muss, um wirklich sachkundig mitreden zu können. Gleichwohl haben gerade in einer modernen Demokratie mit bestimmten aktiven und passiven Mitbestimmungsrechten alle Menschen und Bürger ein lebhaftes Interesse daran, so weit wie möglich zu verstehen, worum es eigentlich geht. Zumindest die sittliche Qualität der moralischen Einstellungen und Intentionen sowie der rechtlichen Legalität und Legitimität können dann auch alle sittlich Urteilsfähigen und politisch aufgeklärten Bürger beurteilen, denn auch Künstler und Gläubige, Mediziner und Juristen, Unternehmer und Politiker sollten sich auch und gerade in einer modernen Demokratie - so weit wie möglich - an das geltende Recht und die allgemein anerkannten Prinzipien des Moralischen halten.

 

Schließlich verstehe ich auch mehr, als ich erkennen und wissen kann. Verstehen ist nämlich nicht nur eine kognitive Vorbedingung, sondern auch etwas anderes als Erkennen und Wissen. Etwas verstehen, wie z.B. eine alltägliche Vermutung oder wissenschaftliche Hypothese, heißt also noch lange nicht zu erkennen oder zu wissen, ob sie wahr

oder richtig ist. Die Hermeneutik als Kunstlehre vom Verstehen bzw. als philosophische Theorie des Verstehens unterscheidet sich deswegen von der Logik, die nur das formal richtige Denken und Schließen angeht, aber weder das materiale Verstehen und Erklären von Gegenständen, Ereignissen und Prozessen in der Natur oder Kultur noch das der komplexen Wirklichkeit angemessene Erkennen und Wissen. Deswegen ist sie aber auch verschieden von der Erkenntnistheorie, die über das pragmatische Verstehen und Erklären hinaus dann auch vom nachprüfbaren sachhaltigen Erkennen und Wissen sowie vom zuverlässigen Vermuten und Vorhersagen im Alltag sowie in den Wissenschaften handelt.

 

Auch wenn die Hermeneutik - als philosophische Hermeneutik - in einem gewissen Sinne genealogisch und psycho-logisch grundlegender ist als die Logik und Erkenntnistheorie, können wir jedoch keine prima philosophia oder gar Fundamentalphilosophie aus ihr machen, ohne bereits gewisse logische Prinzipien vorauszusetzen. Deswegen ist und bleibt die Logik eine eigenständige Formalwissenschaft und die Philosophie der Logik eine eigenständige philo-sophische Disziplin. Gleiches gilt auch für die Erkenntnistheorie, die Fragen nach dem authentischen Erkennen und Wissen, Vermuten und Erklären, Diagnostizieren und Prognostizieren stellt, die über das bloße Verstehen von sprach-lichen und außersprachlichen Bedeutungen, Intentionen und Zusammenhängen hinausgehen. So wichtig und grund-legend das Verstehen auch immer für das alltägliche und wissenschaftliche Denken und Handeln sein mag, ist das Verstehen nicht alles, was wir wollen, wenn wir Menschen uns mit unserer natürlichen und kulturellen Lebenswelt auseinandersetzen. Wir Menschen wollen und müssen eben oft bestimmte Sachverhalte erkennen und wissen.

 

Hermeneutik als neue philosophische Disziplin

 

Seit der sprachliche Ausdruck "Hermeneutik" durch die akademische Tätigkeit und philosophischen Schriften Hans-Georg Gadamers zu einem Fachterminus für eine weithin anerkannte und eigenständige Disziplin der Philosophie bekannt wurde, konnte sich auch diese eigentümliche Disziplin in der akademischen Philosophie etablieren. Gleichwohl findet man auch in Gadamers Schriften keine exakte und für alle Zeiten fixierte Definition dieses Ausdrucks "Herme-neutik" - und dies mit einem guten Grund. Denn schon alleine die Erwartung, dass es eine solche Definition überhaupt geben könnte und der schulmäßige Versuch einiger Philosophen - nicht nur in der sprachanalytischen Tradition, dieser Erwartung gerecht zu werden, entspricht nämlich selbst schon einem zwar verständlichen, jedoch irreführenden Be-dürfnis nach Bestimmtheit und Exaktheit.

 

Dieses Bedürfnis nach Bestimmtheit und Exaktheit mag zwar in den formalen Wissenschaften von Logik, Mathe-matik und Informatik angemessen sein, weil es dort auf jeden Fall auf eine solche Bestimmtheit der Aussagen und Folgerungen sowie auf eine Exaktheit in der Definition der Zeichen und Zeichenfolgen ankommt. Denn in diesem formalen Wissenschaften ist es doch fast immer das Ziel, eine gewisse Folgerichtigkeit in den Schlüssen und eine mathematische Korrektheit in den Berechnungen zu erreichen, die alleine die Bewahrung der enthaltenen Werte

von Wahrheit (und Falschheit) garantieren können.

 

Diese formalen Wissenschaften von Logik, Mathematik und Informatik sind heute nicht nur für die theoretische und praktische Arbeit der Naturwissenschaften unentbehrlich geworden. Auch die meisten praktischen Wissenschaften wie z.B. die Medizin, Ökonomie und Jurisprudenz scheinen mittlerweile kaum ganz auf sie verzichten zu können. Nun sind diese formalen Wissenschaften jedoch selbst "kein Teilgebiet der Philosophie", wie Bertrand Russell, selbst Logiker, Mathematiker und Philosoph, in Human Knowledge, einem seiner philosophischen Hauptwerke deutlich gemacht hat, nachdem er selbst lange ein ausgesprochen formalistisches und alles andere als phänomenologisches Philosophieren angestrebt hatte, das man heute als seinen "Logizismus" bezeichnet.

 

Gleichwohl gibt es eine Philosophie der formalen Wissenschaften von Logik, Mathematik und Informatik - so ähnlich wie es auch eine Philosophie der Natur- und Sozialwissenschaften gibt. Es ist aber eine Sache, die philosophischen Grund-lagen dieser formalen Wissenschaften in semantischer, erkenntnistheoretischer und ontologischer Hinsicht zu unter-suchen und es ist eine ganz andere Sache, diese formalen Wissenschaften selbst zu betreiben oder sie zumindest in den empirischen und praktischen Wissenschaften anzuwenden. Jemand kann, wie z.B. Kurt Gödel, ein hervorragender Lo-giker und Mathematiker sein oder eine exzellente Wissenschaftlerin, die sich auf die mustergültige Anwendung dieser formalen Künste in ihrer jeweiligen Wissenschaft versteht, und dennoch keine Ahnung davon haben, wie man in der Philosophie der Logik, Mathematik und Informatik angemessen und erfolgreich zu zuverlässigen Resultaten und über-zeugenden Konzeptionen gelangt.

 

Deswegen ist es notwendig, sich klar zu machen, dass es zahlreiche hermeneutische Probleme, d.h. Probleme des Verstehens und der Verständigung gibt, die weit über die spezifischen Anliegen und Bedürfnisse, Sachen und Zwecke der formalen Wissenschaften hinausgehen. Das weite Feld des Verstehens und der Verständigung im alltäglichen Leben und in den verschiedenen Wissenschaften ist viel weiter als die relativ gut abgrenzbaren speziellen Gebiete der Logik, Mathematik und Informatik, obwohl diese bei näherer Betrachtung zusammenhängen und schon für sich selbst von keinem Vertreter eines solchen Faches überschaut werden können. Leider hat sich diese wichtige philosophische Ein-sicht in der sprachanalytischen Philosophie noch nicht hinreichend durchgesetzt.

 

Das liegt zum Teil daran, dass die sprachanalytische Philosophie in ihren Anfängen durch die speziellen wissenschaft-lichen Bestrebungen der Logiker und Mathematiker Frege und Peano, Russell und Wittgenstein, Carnap und Quine geprägt wurde. Das liegt zum Teil auch daran, dass die sprachanalytische Philosophie im 20. Jahrhundert vorwiegend in einem weltanschaulichen Milieu fortgeführt wurde, das stärker von den Naturwissenschaften dominiert wurde als von den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. In den Naturwissenschaften spielen jedoch aus nur allzu verständlichen Gründen die mathematische Quantifizierbarkeit und logische Formalisierbarkeit eine ungleich wesentlichere Rolle als in den weniger exakten Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. Erst in den letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts haben sich manche Philosophen in der sog. sprachanalytischen Tradition dann auch intensiver mit Gadamers Phäno-menologie und Hermeneutik der Lebenswelt auseinander gesetzt.

 

Gadamers Beitrag im Anschluss an ältere Traditionen

 

Gadamer hat zuerst bei Richard Hönigswald in Breslau, dann bei Paul Natorp und Nicolai Hartmann in Marburg und schließlich bei Edmund Husserl und Martin Heidegger in Freiburg studiert. Damit wurde er von einem ganz anderen philosophischen Verständnis von Sprache geprägt, zuerst vom Neukantianismus Hönigwalds und der Marburger Schule, dann von der Husserlschen Phänomenologie und schließlich von Heideggers Daseinsanalyse. Später hat er sich eine umfassende Kenntnis des ganzen europäischen Philosophierens über Sprache und Denken erworben, das nicht mit dem exakten Denken der formalen Logik, der Mathematik und der Naturwissenschaften verbunden ist, wie in den Anfängen der sprachanalytischen Philosophie, sondern in einem engen Zusammenhang steht mit den diskursiven Künsten von Dialogik und Dialektik, Poetik und Rhetorik von Sokrates und Heraklit, Platon und Aristoteles, Augustinus und Cicero bis zu Kant und Hegel, Herder und Humboldt, Schleiermacher und Dilthey. Last, but not least war Gadamer vor allem auch ein klassischer Philologe und ein leidenschaftlicher Liebhaber der Werke großer Dichter und Dramatiker. Aus diesem Grund spielen in Gadamers Hauptwerk Wahrheit und Methode für seine Hermeneutik humanistische Leit-begriffe wie Bildung, sensus communis, Urteilskraft und Geschmack auch als eine Lehre vom Verstehen von Kunstwerken und ihren Wahrheitsansprüchen eine eminente Rolle.

 

Gleichwohl ist die philosophische Disziplin der Hermeneutik nicht mit der philosophischen Hermeneutik von Gadamer gleichzusetzen. Ihre Anfänge können wir vielmehr bis zu Platons Dialogik und zur Rhetorik des Aristoteles zurück ver-folgen. Auch die methodische Maxime, dass der jeweilige Grad der Exaktheit einer philosophischen Untersuchung an die Sache und das jeweilige Gebiet der Philosophie anzupassen sei und es ein Zeichen von Bildung sei, das rechte Maß an Exaktheit bestimmen zu können, stammt bereits aus dem Ersten Buch der Nikomachischen Ethik des Aristoteles.

 

Andere wichtige Vorläufer der Einstellungen, Maximen und Methoden der Hermeneutik als einer Kunst des Verstehens in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften lassen sich auf Blaise Pascals anti-cartesianische Unterscheidung zwischen dem esprit de geometrie und dem esprit de finesse zurückführen oder auf Kants wichtige methodische Diffe-renzierung zwischen Mathematik und Philosophie in der Methodenlehre seiner Kritik der reinen Vernunft. Zu nennen wäre hier auch Giambattista Vicos Verteidigung der Bedeutung der Imagination, der Intuition und der Erinnerung als alte-rnativen Erkenntnisquellen der historischen Geistes- und Kulturwissenschaften in Abhebung zur "geometrischen Methode" des klassischen Rationalismus (Descartes, Leibniz, Spinoza, Wolff, u.a.).

 

Schließlich könnte man zurecht auch an die artes liberales und die Hermeneutik als einer theologischen Disziplin der protestantischen Theologie seit der Reformation erinnern. Während die theologische Hermeneutik ursprünglich als Lehre vom Verstehen von Gottes Wort in den biblischen Schriften von Altem und Neuen Testament gegolten hatte, wurde sie zuerst von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher zur allgemeinen Texthermeneutik universalisiert. Auf diese Weise entstand die philosophische Hermeneutik als eine Methode und Lehre vom Verstehen der überlieferten (klassi-schen) Schriften der europäischen Philosophie, bis sie von den philologischen Disziplinen auch auf das Verstehen der Schriften und kulturellen Zeugnisse anderer europäischer und außereuropäischer Traditionen augeweitet werden konnte. Deswegen ist die Hermeneutik als eine Kunst des Verstehens seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch eine Schlüsseldisziplin der interkulturellen Philosophie und des interreligiösen Dialoges geworden.

 

Gadamers Universalisierung der Hermeneutik

 

Gadamers Versuch einer zweiten Universalisierung der Hermeneutik von einer Lehre von der Kunst des Verstehens von Schriften und Kunstwerken zur philosophischen Hermeneutik als Theorie des Verstehens überhaupt, ist hingegen weitgehend umstritten geblieben, zumal sie in einigen Hinsichten an Heideggers existenzphilosophische "Hermeneutik des Daseins" anknüpft. Das grundlegende Theorem einer solchen universalisierten Hermeneutik lautet:

 

"Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache."

 

Dieses Theorem lässt sich jedoch nur aufgrund einer problematischen Ausweitung des Sprachbegriffes verstehen, demzufolge das ganze menschliche Dasein in der Welt von zeichhaften Signaturen umfangen ist und die menschliche Lebenswelt letztlich selbst zu einem Kon-Text in Analogie zum Verstehen alles Zeichenhaften wird. Zwar ist uns seit einiger Zeit die Rede vom Kontext einer sprachlichen Äußerung geläufig geworden, aber es ist und bleibt doch zumin-dest unzulässig, einen anderen Menschen, der uns in verschiedenen alltäglichen Handlungssituationen als ein Mit-mensch begegnet, bloß als ein zeichenhaftes Element eines Kontextes der eigenen sprachlichen Äußerungen zu ver-stehen.

 

Der Andere ist als ein Du, das selbst ein anderes Ich ist, "mehr" als nur ein zeichenhaftes Element im Kontext meiner jeweiligen sprachlichen Äußerungen - so wie er auch "mehr" ist als ein bloßes Phänomen bzw. eine bloße Erscheinung im synästhetischen Feld meiner sinnlichen Wahrnehmungen von Gegenständen, Ereignissen und Prozessen in der Lebenswelt. Außerdem gibt es Dinge, die verstanden werden können, ohne Sprache oder etwas Sprachliches zu sein, wie z.B. bestimmte Artefakte, die ich zumindest instrumentell verstehe, weil ich sie gut benutzen kann, wie z.B. mein Fahrrad, mein Smartphone oder meinen PC. Fachleute mögen sie vielleicht noch besser und tiefer verstehen, weil sie wissen auch noch wie sie aus funktionellen Bestandteilen aufgebaut sind und warum sie funktionieren. 

 

Ein aus esoterischen Traditionen (Kabbala, Böhme, Paracelsus, Hamann, C.G.Jung, u.a.) stammende Ausweitung der philosophischen Hermeneutik als einer "Signaturenlehre" mag für manche Menschen in einer mystischen oder ästhe-tischen Einstellung zur natürlichen und kulturellen Lebenswelt bis zu einem gewissen Grade plausibel und nachvollzieh-bar sein. Aber sie scheitert doch daran, dass man sie im Alltag nicht aufrecht erhalten kann, wie schon David Hume in der westlichen Philosophie und Ramanuja im östlichen Denken wusste, da sie zu einem Solipsismus führt, der vom Common Sense leicht als ein verstiegenes und absurdes Denken entlarvt werden kann, obwohl er nicht förmlich durch Argumente oder gar Beweise widerlegt werden kann. Was aber kann man in der Philosophie schon beweisen?

 

In der indischen Philosophie des kashimirischen Shaivismus erzählt man deswegen ganz einfach den folgenden Witz, um die allen philosophischen Spekulationen und Reflexionen überlegene Lebensklugheit des Common Sense zu verdeutlichen: Ein Realist und ein Idealist überqueren eine etwas abschüssige Straße. Als von oben ein Elefant ange-rannt kommt, warnt der Realist: "Vorsicht, da kommt eine Elefant auf uns zugerannt." Daraufhin meint der Idealist mit einer anscheinend großmütigen, aber eigentlich nur hochmütigen Geste der geistigen Überlegenheit: "Ach der Elefant, der ist auch nur eine Erscheinung in meinem Bewußtsein." Etwas skeptisch, aber wohlwollend fragt ihn der Realist: "Aber weiß das auch der Elefant?"

 

Die Praxisferne des Idealismus zeigt sich insbesondere auch in den Grenzsituationen (Jaspers) des menschlichen Da-seins in der Welt, d.h. für die Konfrontation mit den wechselhaften Zufällen des Lebens, den unvermeidlichen Lebens-kämpfen, dem unausweichlichen Leiden, der Wirklichkeit der Verantwortung, der unentrinnbaren Schuld und dem Tod derer, die wir lieben und auch desjenigen, der wir selbst sind.

 

In der alltäglichen Lebenspraxis und in der wissenschaftlichen Welterforschung sind eine nur nach innen gewandte und mystische sowie eine zwar nach außen gewandte, aber bloß betrachtende, ästhetische Einstellung zur Lebenswelt nicht durchzuhalten, da sie in einen erkenntnistheoretischen Idealismus umzukippen droht, wie bei dem westlichen dog-matischen Idealisten George Berkeley oder bei dem östlichen Spiritualisten Shankara. Einem solchen Idealismus zufolge gibt es eigentlich nur die Phänomene des (menschlichen) Bewußtseins oder des (göttlichen) Geistes, aber keine anor-ganische Materie, Energie, elektromagnetische Felder, Bewegungen, Schwerkraft, Stoßkraft, raum-zeitliche Strukturen, organische Elemente, lebendige Organismen, Pflanzen, Tiere, Menschen, Artefakte, Signale, Zeichen, Symbole, etc.

 

Aufgrund der geistigen Fallstricke des Idealismus ist es notwendig und hilfreich, die philosophische Hermeneutik in einer angemessenen Weise mit der (Philosophie der) Logik und Erkenntnistheorie zu konfrontieren, d.h. sowohl mit den transzendentalen logischen Denknotwendigkeiten als auch mit den erkenntnistheoretischen Kernfragen nach Erkennen und Wissen im Gegensatz zum Verstehen, Meinen und Glauben, Ahnen und Vermuten, etc.

 

Philosophische Hermeneutik als eine universalisierte Lehre vom Verstehen überhaupt wurde jedoch - jenseits dieser mystischen, esoterischen und idealistischen Tendenzen - bereits erfolgreich auf die folgenden Gebiete ausgeweitet:

 

(1.) Verstehen von gesprochener und geschriebener Sprache (Syntax, Semantik, Pragmatik, etc.)

 

(2.) Verstehen von Zeichen, Bildern, Modellen und Symbolen (Semiotik)

 

(3.) Verstehen von Kunstwerken in Literatur, Musik, Oper, Theater, Film und den bildenden Künsten (Kunsthermeneutik)

 

(4.) Verstehen von wissenschaftlichen Definitionen, Hypothesen, Modellen, Theorien in Kontext wissenschaftlicher Praktiken und Institutionen (Wissenschaftshermeneutik)

 

(5.) Verstehen von rechtlichen Kodizes im Kontext rechtlicher Praktiken und Institutionen (Rechtshermeneutik)

 

(6.) Verstehen von psychologischen Phänomenen, wie z.B. Denken, Fühlen und Handeln anhand von persönlichen oder konventionellen Ausdrucksformen im Gesicht, in Gesten, in der Körpersprache, in Verhaltensweisen, etc. (Verstehende Psychologie)

 

(7.) Verstehen von Situationen, Lebensformen, Altersstufen, Grenzsituationen, Stimmungen und Atmosphären (Existenzialhermeneutik)

 

Die hermeneutische Grundeinstellung des Verstehenwollens alles menschlichen und außermenschlichen Seins, das überhaupt verstanden werden kann, also unserer natürlichen und kulturellen Lebenswelt mit allen ihren verschiedenen Domänen und Gestalten von Wissenschaft und Kunst, Religion und Mythos, Moral und Recht, Wirtschaft und Politik, Sport und Spiel, etc. ist unter diesen Vorkehrungen eines gesunden Realitätssinnes jedoch durchaus geeignet, geradezu die ideale Einstellung eines Philosophen zu ermöglichen, der wahrhaftig auf der Suche nach Erkenntnis und Einsicht ist. Denn Verstehen ist nicht nur die Voraussetzung für alle unsere Urteile über Wahres und Falsches, sondern auch für alle unsere Entscheidungen über Rechtes und Unrechtes. In diesem Sinne sind wir immer noch auf dem Wege einer philo-sophischen Ausweitung und Vertiefung der Hermeneutik als einer Kunst des Verstehens.

 

© Ulrich W. Diehl, Halle an der Saale 2010

 


 

Hans-Georg Gadamer

 

Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: J.C.B. Mohr 1975

 

Philosophische Lehrjahre. Eine Rückschau, Frankfurt am Main: Klostermann 1995

 

Lob der Theorie. Reden und Beiträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983

 

Das Erbe Europas. Beiträge, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990

 

Vernunft im Zeitalter der Wissenschaft. Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991

 

Die Lektion des Jahrhunderts. Ein philosophischer Dialog mit Riccardo Dottori, Münster: LIT Verlag 2002

 

 

Zu Gadamers Leben und Werk

 

Jean Grondin (Hg.), Gadamer Lesebuch, Tübingen: Mohr Siebeck 1997

 

ders., Hans Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen: Mohr Siebeck 1999

 

ders., Einführung zu Gadamer, Tübingen: Mohr Siebeck 2000

 

ders., Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik,

Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 2001

 

Günter Figal (Hg.), Begegnungen mit Hans-Georg Gadamer, Stuttgart: Reclam 2000

 

"Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache". Hommage an Hans-Georg Gadamer,

Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001

 


 

Wahrheit mit Methode

 

Wie ist Verstehen möglich? Das ist die Frage, der sich Hans-Georg Gadamer ein Gelehrtenleben lang gewidmet hat. Heute wird der Altmeister und Exportschlager der deutschen Philosophie hundert Jahre alt. Mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida führte er Debatten, die zu den anregendsten seit dem Zweiten Weltkrieg zählen.

 

Udo Tietz, TAZ, 11.02.2000


Wenig Exportfähiges hat die deutsche Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht. Dass Hans-Georg Gadamers philosophische Hermeneutik dazu zählt, hat seinen Grund im Bruch, aber auch in der Fortführung von Traditionen. Wie vor ihm Heidegger und Wittgenstein stellt Gadamer das Gespräch ins Zentrum seines Denkens. Im Gespräch versichert sich das Denken einer Zeit, die alle Anzeichen einer Krise trug.

 

Da wäre der Zusammenbruch des Kaiserreiches, die Selbstzerstörung der Weimarer Republik, die der am 11. Februar 1900 geborene Gadamer als Student und später als Privatdozent in Heidelberg erlebte, der Nationalsozialismus, dem gegenüber er als Philosophieprofessor seine intellektuelle Rechtschaffenheit und seine Freiheit zu verteidigen hatte; da wäre aber auch das Kriegsende und der Wiederaufbau der Leipziger Universität, der Gadamer als Rektor vorstand, die Übersiedlung nach Frankfurt am Main und später dann nach Heidelberg, wo er sein philosophisches Hauptwerk vollendete; und da wäre schließlich der Fall der Berliner Mauer, mit dem der Ost-West-Gegensatz sein Ende und das wieder vereinigte Deutschland endgültig seinen Weg nach Europa fand.

 

All dies ist fast Geschichte. Selbst die jüngste Vergangenheit erscheint uns mitunter schon zu fern, als dass wir uns problemlos in ein Verhältnis zu ihr setzen könnten – was nach Gadamer eine gute Voraussetzung für eine hermeneu-tische Besinnung darstellt. Lehrt doch seine Philosophie, dass die Tradition fragwürdig geworden sein muss, damit sich ein ausdrückliches Bewusstsein für die hermeneutische Aufgabe der Aneignung bildet.

 

Dieses Fragwürdigwerden von Traditionen ist kein Betriebsunfall der Weltgeschichte. Vielmehr scheint es ein typisches Charakteristikum moderner Lebensformen zu sein: Gemeinschaften finden ihre Einheit nicht mehr allein aus Konven-tionen und Geschichte, sondern immer auch aus bewältigten Brüchen. Wenn es keine Selbstverständlichkeit mehr gibt, dann, so Gadamer, „ist das Verstehen eine Aufgabe und bedarf der methodischen Leitung“.

 

Seinen Ansatz, im Denken Orientierung zu finden und damit auf die Katastophenerfahrungen des beginnenden Jahr-hunderts zu reagieren, arbeitete Gadamer in einer jahrzehntelangen Auseinander-setzung mit seinem philosophischen Lehrer Martin Heidegger aus. Die Radikalität von Heideggers Fragen und die schlichte Kraft seines sprachlichen Aus-drucks waren von einer Energie, dass Gadamer der Neukantianismus der Marburger Schule, bei der er als Student angefangen hatte, matt und glanzlos erschien. Heidegger machte nicht nur vor, wie man Aristoteles und die Griechen als Zeitgenossen zu lesen hatte. Er zeigte auch, wie die Philosophie wieder zu den „Sachen selbst“ gelangt – nach einer damaligen Parole könne man nämlich nicht beständig Messer und Gabel wetzen, ohne zu essen.

 

Dieses Projekt trug den Titel „Ontologie“. Und insofern es innerhalb dieser Ontologie um das menschliche Dasein geht, das sein Sein „immer schon“ versteht, handelt es sich hierbei um eine „Hermeneutik der Faktizität“. Dieser Titel wird zum Inbegriff einer Rückkehr zu den verdeckten „Sachen selbst“ und damit zu einer Abrechnung mit dem Bewusst-seinsidealismus der Neuzeit, der mit seiner Ausrichtung am Selbstbewusstsein und an der Idee der Methode den Kontakt zu den lebendigen Menschen in einer gemeinsam geteilten Lebenswelt verloren hatte.

 

Heideggers Hermeneutik-Projekt hat sich Gadamer 1923 in Freiburg zu Eigen gemacht. Seine Habilitationsschrift aus dem Jahr 1928 enthielt bereits den Keim jener hermeneutischen Wendung der Ontologie am Leitfaden der Sprache, die Gadamer ein ganzes Gelehrtenleben lang umtreiben wird. Bis es zur schriftlichen Niederlegung seiner Thesen kam, vergingen allerdings noch drei Jahrzehnte. Trotz guter Arbeitsbedingungen als Philosophieprofessor in Heidelberg seit 1949 ließ die große Theorie auf sich warten. Anfangs kam Gadamer gar nicht recht voran. Immer hatte er „das ver-dammte Gefühl, Heidegger gucke (ihm) dabei über die Schulter“. So blieb ihm das Schreiben lange Zeit eine „fürchter-liche Qual“. Gadamer vermisste den Gesprächspartner, mit dem man im Dialog über die Sache redet. Ganz Sokratiker, schob Gadamer das Schreiben immer so lange hinaus, wie es eben gerade ging. Erst im Jahre 1960 erschien sein Hauptwerk unter dem Titel „Wahrheit und Methode“.

 

Mit diesem Projekttitel hatte es eine besondere Bewandtnis. Seit Wilhelm Dilthey steht der Begriff Hermeneutik für eine Methodologie der Geisteswissenschaften – und Gadamers Werk beginnt zunächst auch mit der Frage nach der rechten Epistemologie der Geisteswissenschaften. Gadamer geht es jedoch gerade nicht um deren erkenntnistheoretische Legitimation, sondern um das, was über den Kontrollbereich der Methode hinausführt. Er glaubt nicht, dass es jemals möglich sein wird, den Geisteswissenschaften das Ideal eines strikten Methodenwissens aufzuzwingen.

 

Nicht dass Gadamer die Relevanz der neuzeitlichen Methoden in den Natur- und Geisteswissen-schaften bestreiten würde. Auch für ihn steht außer Zweifel, dass methodische Sauberkeit eine unerlässliche Bedingung jeder wissenschaft-lichen Arbeit ist. Gadamer wendet sich aber gegen die Hypostasierung des „erkenntnistheoretischen Methodologis-mus“, weil er meint, dass durch diesen Methodenstreit etwas verdeckt und verkannt wird, „etwas, was die moderne Wissenschaft nicht so sehr begrenzt oder einschränkt, als vielmehr ihr vorausliegt und sie zu ihrem Teile möglich macht“. Was den modernen Wissenschaften und ihren Methoden vorausliegt, ist die menschliche Lebens-welt, die die Gadamersche Hermeneutik im Anschluss an Heidegger in ihrer philosophischen Relevanz entdeckte. Gadamers Hermeneutik bezieht auf das Ganze unserer Welterfahrung, von dem die Wissenschaften und die Philosophie eben nur Teile sind.

 

In diesem Sinn kann man sagen, dass sich Gadamers Hermeneutik einer philosophischen Bewegung in unserem Jahrhundert eingliedert, die die einseitige Orientierung am Faktum der Wissenschaft überwand, wie sie sowohl für den Neukantianismus wie für den Positivismus selbstverständlich war. Gleichwohl hat die philosophische Hermeneutik wissenschaftstheoretische Relevanz, soweit sie Wahrheitsbedingungen aufdeckt, die nicht in einer „Logik der Forschung“ liegen, sondern ihr vorausgehen.

 

Die philosophische Hermeneutik ist daher „der Versuch einer Verständigung über das, was die Geisteswissenschaften über ihr methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen unserer Welterfahrung verbindet“.

 

Analog zu Kant stellt die philosophische Hermeneutik eine philosophische Frage: „Sie fragt, um es kantisch auszu-drücken: Wie ist Verstehen möglich?“ Diese Frage, die zu beantworten sich Gadamers Hermeneutik anschickt, klingt auch heute noch provokativ – zumal Gadamers Antwort von der Annahme getragen ist, dass die philosophische Hermeneutik einen Universalitätsanspruch für sich beanspruchen kann, der ihr mit unterschiedlichen Argumenten sowohl von der marxistisch inspirierten Ideologiekritik als auch vom Dekonstruktivismus bestritten wird.

 

Mit den Hauptvertretern dieser beiden Positionen, Jürgen Habermas und Jacques Derrida, führte Gadamer Debatten, die wohl zu den interessantesten und anregendsten nach dem Zweiten Weltkrieg zählen dürfen. Beide, Habermas und Derrida, betrachteten den von Gadamer angesetzten Konsens als durchaus hinterfragbar. Gegen den vertrauensvollen Gesprächsoptimismus der philosophischen Hermeneutik bietet der Dekonstruktivismus das Missverstehen auf und die Ideologiekritik setzt auf die kritische Reflexion, um die gesellschaftliche Kommunikation als Pseudokommunikation und den gesell-schaftlichen Konsens als Scheinkonsens zu enttarnen.

 

Und Gadamer? Aus seiner Sicht befindet sich der Dekonstruktivismus genauso wie die Ideologiekritik in einer schiefen Lage. Der Dekonstruktivismus, weil er das Missverstehen dramatisiert, und die Ideologiekritik, weil sie es versäumt hat, sich über die ideologischen Implikationen ihrer eigenen Ideologiekritik Rechenschaft abzulegen. Hier wie dort wird die Macht der Reflexion totalisiert und in einen abstrakten Gegensatz zur Tradition gebracht.

 

Während Habermas an der aufklärerischen Einsicht in die Macht der zerstörenden Reflexion festhalten will, die für ihn ein „unverlierbare(s) Erbe“ darstellt, welches „uns vom Deutschen Idealismus aus dem Geist des 18. Jahrhunderts vermacht ist“, meint Gadamer auch heute noch auf den Rechten der Tradition bestehen zu können, da selbst noch die kritischste Reflexion an sie zurückgebunden bleibt. Ohne Rekurs auf jene tragenden Vorurteile ist nach Gadamer weder ein Verstehen noch eine kritische Reflexion möglich.

 

Ist aber ein solcher Traditionalismus heute überhaupt noch vertretbar? Ist es nicht naiv anzunehmen, dass Verstehen in dieser Welt überhaupt noch möglich ist? Ja, ist es nicht vielmehr das Missverstehen, das den Grund der menschlichen Existenz bildet? Das 20. Jahrhundert scheint zumindest in praktisch-politischer Hinsicht gegen Gadamer zu sprechen. Die meisten Versuche, gegenüber Macht und Gewalt auf den schwachen Zwang besserer Argumente zu setzen, sind gescheitert. Von daher könnte man meinen, Gadamers philosophische Hermeneutik sei widerlegt. Erwies sich doch die Sprache, auf die sich Gadamers Gesprächsdialektik gründet, nicht nur als Ausdruck eines tragenden Einverständnisses, sondern auch als „ein Medium von sozialer Macht“. Sie diente in diesem Jahrhundert nur allzu oft der „Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt“ und ist daher immer auch ideologisch.

 

Dennoch ist Gadamers Hermeneutik damit nicht widerlegt. Wenn wir es in dieser Welt wirklich miteinander aushalten müssen, wenn es zu einem dialogischen Miteinander keine Alternative gibt – zumindest keine gewaltlose –, dann wer-den wir uns wohl oder übel auf eben dieses Gespräch einlassen müssen, in welchem nach Gadamer unsere Sprache gründet. Denn etwas anderes als das Gespräch steht uns einfach nicht zur Verfügung, um jene Belange zu klären, um die wir uns nur selbst kümmern können. Und an dieser genuin hermeneutischen Einsicht dürfte sich auch in diesem Jahrtausend nichts geändert haben.

 

Udo Tietz ist Verfasser des Buches „Hans-Georg Gadamer zur Einführung“, Hamburg: Junius 1999.

 




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Esther-Maria Wedler, Das Gespräch geht weiter. Zum Tode des Philosophen Hans-Georg Gadamer
Politische Meinung 390/02
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