Geht Vernunft verloren, so geht die Philosophie selber verloren.
Karl Jaspers
Existenz wird nur durch Vernunft sich hell; Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt.
Karl Jaspers, Vernunft und Existenz (1935)
Die Mode des Existenzialismus ist wunderlich. Sie hat mit unserem Philosophieren wenig zu tun.
Karl Jaspers an Karl Löwith in einem Brief vom 28. März 1947
Das Beste, was Jaspers geschrieben hat, ist seine Allgemeine Psychopathologie.
Wolfgang Wieland, Philosoph und Arzt
Karl Jaspers, Mein Weg zur Philosophie
Als Schüler des Oldenburger humanistischen Gymnasiums in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geriet ich in Konflikt mit der Schulleitung. Ich verweigerte gegenüber der unvernünftigen Anordnung eines Lehrers den blinden Gehorsam. Ich trat ferner in keine der drei Schülerverbindungen ein, weil sie ihre Mitglieder nach Standesunterschieden aufnahmen und sich gegeneinander abschlossen. Vernunft und menschliche Kommunikation begehrte ich – sie blieben ein Ziel meines Philosophierens bis heute. Der Direktor aber sah fälschlich in beiden Handlungen den Geist einer politischen Opposition. Die Lehrer wurden angewiesen, ein wachsames Auge auf mich zu haben. Die Klassenkameraden – staats- und militärfromm – hielten nicht mit mir. In den zwei letzten Schuljahren stand ich allein.
Die Einsamkeit war nun das Problem. Mein Vater pachtete eine Jagd, um mir außer der Schule eine andere Welt zu verschaffen. So lebte ich in der Natur, mit den Büchern, im Anschauen von Kunstwerken. Wohl gab die Einsamkeit Kraft aus einem sich gründenden Selbstsein heraus, aber um so leidenschaftlicher drängte ich nach der entbehrten Kommunikation, und wenn ich mich über die Lage besann und in mein Inneres blickte, dann mußte mir klar werden die verborgene Angst, die mich, ausweichend vor entschlossener aktiver Opposition, im passiven Dulden bleiben ließ. Daß ich mich zwar redlich, aber nicht heldenhaft benahm, war die früheste Erschütterung. Das Bewußtsein der Grenze des Selbstseins verwehrte den Stolz einer trotzigen Isolierung. In mein Wesen drang die Bescheidung, die als Wissen um die Endlichkeit und um die Schuld des freien Menschen mein späteres Philosophieren durchdringt.
Damals war mein Verhalten das erste Mal so, wie es mir eigen blieb, nur zum Teil gerechtfertigt durch mangelnde Kraft des nie gesunden Körpers. Noch in der Zeit des Nationalsozialismus blieb das gleiche. Ich habe mich zwar innerlich frei gehalten, bin keinem Druck gewichen dadurch, daß ich eine schlechte Handlung begangen oder ein falsches öffent-liches Wort gesagt hätte, habe aber nichts im Kampfe gegen das Verbrechen getan. Ich habe unterlassen, was zu tun das Herz eingab, aber die Vorsicht verwehrte. Daher mußte ich 1945 gegenüber falschen Erzählungen in Radio und Presse, die meine vermeintlichen Taten als Vorbild verherrlichten, eine Berichtigung veröffentlichen mit dem Schluß:
ich bin kein Held und möchte nicht als solcher gelten.
In der Not der einsamen Schuljahre las ich Spinoza. Mir das Ganze der Welt durch ihn philosophisch bewußt zu machen und das Wort caute (vorsichtig) auf seinem Siegel als von ihm befolgte Lebensregel waren ein Trost jener Jahre.
Am Ende der Schulzeit besprach mein Vater mit mir das zu wählende Studium. Bei meiner Neigung für Kunst und Dichtung und Philosophie meinte er, ich möchte vielleicht Geisteswissenschaften studieren. Nein, sagte ich, ich will ins praktische Leben. Mit der Absicht, Rechtsanwalt zu werden, wählte ich die Jurisprudenz. Im dritten Semester, 1902, war ich in München, lernte das beschwingte Leben Schwabings kennen, hatte Graphologieunterricht beim jungen Ludwig Klages nach einem Lehrbuch von H. H. Busse, ging in Theater und Kunstausstellungen, spielte Schach, hörte unter allen Vorlesungen nur noch wenige Stunden Philosophie bei Theodor Lipps.
Die Welt schien damals in Glanz und Glück. Jedes Jahr las man die Statistiken des Fortschritts im Reichtum. Mir war dabei nicht wohl. Dichtung und Literatur jener Zeit öffneten uns die Augen für den verdorbenen Grundzustand, der nur durch Verschleierungen sich zu halten schien.
Unsere Gesellschaft lebte offenbar in Täuschungen. Der Tod schien ebenso fast vergessen zu sein wie die Realität der Geisteskranken. Viele Menschen lebten und arbeiteten in Armut und Unwissenheit. Die Dirnen waren ein Gegenstand gedankenloser Verachtung. Augenblicksweise kam die Möglichkeit einer Weltkatastrophe zum Bewußtsein. Kaiser Wilhelm II. hatte anläßlich des chinesischen Krieges durch Knackfuß ein kitschiges Bild zeichnen lassen mit der Unterschrift: Völker Europas, wahrt euere heiligsten Güter! Ich fand es zwar lächerlich, wie es aussah. Aber der Inhalt wies auf eine Möglichkeit, die stutzig machte. In der Phantasie sah ich den Erdball in den Händen der Mongolen, die zudem keineswegs schlechtere Menschen als wir schienen.
Durch die Fragwürdigkeit aller Dinge, die Unheimlichkeit des Glücks, dazu durch eine ständige Anfälligkeit meines körperlichen Daseins und durch die Ziellosigkeit meiner Studien wurde ich immer unruhiger, obgleich ich die schönsten Freuden hatte im Genuß der Herrlichkeiten der Schöpfung und des menschlichen Geistes, zumal auf einer längeren Italienreise.
Es blieb nur ein Weg: die Philosophie mußte die Wahrheit, den Sinn und das Ziel unseres Lebens zeigen. Die Stimmung Spinozas hatte mir wohlgetan, aber ohne mich zu befriedigen. An der Universität brachten die philosophischen Vorlesungen Erkenntnistheorie und Psychologie; von der Geschichte der Philosophie berichteten sie als von den Meinungen, die einmal vorgekommen sind. Aber ich suchte in der Philosophie etwas ganz anderes.
Man kann, so sagte ich mir, offenbar nicht geradezu philosophieren, ohne in der Realität der Welt mitzuleben, ohne etwas zu tun. Der Weg zur Philosophie führt nicht über das abstrakte Denken. Was sollte ich tun?
In München sagte meine besorgte Schwester von mir: er kümmert sich um alles, nur nicht um die Juristerei (die doch mein Studium war). Dies Leben durfte ich nicht fortsetzen. Ich mußte mir klar werden, was ich eigentlich wolle. Im Herbst 1902, in Sils-Maria, verfaßte ich für meinen Vater eine Denkschrift zur Begründung, daß ich nach drei vergeb-lichen juristischen Semestern umsatteln wolle. Ich entwarf einen Lebensplan: Studium der Medizin; durch dieses Studium die größte Chance, Natur und Menschen kennenzulernen; vielleicht zuletzt Psychiatrie bei Kraepelin in Heidel-berg, – und am Ende Rückkehr als Psychologe in die geistige Welt der philosophischen Fakultät. Wenn dies aber nicht gelingt, so habe ich doch einen Beruf gelernt, der nützlich ist und von dem ich leben kann.
Am folgenden Semesterbeginn in Berlin traf ich in einem Durchgang von der Karlstraße zur Anatomie einen Studenten der Technik, mit dem ich in München Schach gespielt und ins Blaue philosophiert hatte. Ich sagte ihm: ich studiere jetzt Medizin. Er: nun, für eine Weile ist auch das mal ganz interessant. Noch fühle ich, wie mich das Wort traf. Ich sagte zwar nichts, aber dachte: wie, alles nur für eine Weile, alles nur ein Spiel? Der Entschluß, nunmehr mit aller Kraft und ohne Unterbrechung Medizin zu studieren, wurde in diesem Augenblick erst ganz ernst.
Den Tag über war ich beim Studium in der Anatomie, in Vorlesungen über Chemie und Zoologie. Ich fühlte mich nach der Ungebundenheit der ersten Semester, in denen ich von allen Möglichkeiten des Geistes gekostet hatte, zunächst wie in der Fremde. Den Tag über ermunterte mich der Gedanke an den Abend. Da war ich frei, heimzukehren in den Kreis derer, die ich liebte, wenn ich Goethe las und Gottfried Keller, und wenn ich durch Reisebeschreibungen das Bewußtsein der weiten Welt bewahrte. Doch am Tage war ich ganz bei der Sache.
Der Weg zur Philosophie war es, der die Wahl meines Studiums bestimmt hatte. Ich wollte wissen, was Realität ist. Reisen und Umgang mit Menschen genügten nicht. Schöne Bücher lesen, Kunst sehen, das konnte sogar verführen. Man muß etwas lernen, etwas können, sonst lebt man im Schein. Was man in Laboratorien und Krankenhäusern erfährt, das bedeutete mir damals zugleich die Realität. Sachnähe begehrte ich, mich selbst zu überzeugen und nicht nur den Lehrbüchern zu glauben. Daher besuchte ich mehr die Kurse als die Vorlesungen, lebte in den Instituten und auf der zoologischen Station in Helgoland.
Dabei wurde mir bald ein Ziel des Wissenwollens klar: sich bewusst zu machen, was man weiß, wodurch und wie man weiß, und was man nicht weiß. Im ersten Examen fragte mich der treffliche Anatom Merkel in Göttingen nach dem Bau des Rückenmarks. Statt diesen Bau zu schildern, referierte ich die Methoden der Untersuchung und was für Bilder sich auf den jeweiligen Wegen ergeben. Ich habe es in Erinnerung, weil Merkel über das Verfahren erstaunt war. Es war das-selbe Ordnungsprinzip, das ich später in meiner ›Allgemeinen Psychopathologie‹ angewandt habe: nicht einen ver-meintlich feststehenden Gegenstand darzustellen, sondern die Wege, auf denen man seiner in bestimmten Aspekten ansichtig wird.Aber jeden Augenblick blieb mir bewußt, das alles war noch nicht die Philosophie, die ich suchte, sondern nur eine Voraussetzung des Philosophierens.
Nach langer Fesselung an die Medizin lernte ich 1909 durch Lektüre Husserl kennen. Seine Phänomenologie war als Methode ergiebig, weil ich sie für die Beschreibung der Erlebnisse von Geisteskranken anwenden konnte. Wesentlicher aber war es mir zu sehen, wie ungemein diszipliniert er dachte, dann daß er den Psychologismus, durch den sich alle Probleme auflösen in solche psychologischer Motivation, überwunden hatte, vor allem seine unablässige Forderung, unbemerkte Voraussetzungen zu klären. Was in mir schon wirkte, fand ich bestätigt: den Drang zu den Sachen selbst. Das war damals in einer Welt voller Vorurteile, Schematismen, Konventionen wie eine Befreiung.
Aber Husserl als Philosoph enttäuschte mich. Er vollzog die Gebärde des Sehens; was dann gesehen wurde, war meist gleichgültig. 1910 erschien sein Aufsatz über ›Philosophie als strenge Wissenschaft‹ im ›Logos‹. Es war zwar ein Meister-werk auch in seiner vor keiner Absurdität zurückschreckenden Konsequenz. Mir aber wurde durch ihn die Verkehrung der Philosophie in Wissenschaft klar, die mich empörte. Es folgte eine persönliche Begegnung 1913. Als Psychiater hatte ich einige phänomenologische Arbeiten über Sinnestäuschungen und Wahnerlebnisse veröffentlicht. Husserl erfuhr, daß ich in Göttingen sei, und ließ mich auffordern, ihn zu besuchen. Ich wurde freundlich empfangen, belobigt und – welch Befremden bei mir! – als sein Schüler behandelt. Ich fragte etwas trotzig: was eigentlich Phänomenologie sei, das sei mir unklar. Darauf Husserl: Sie treiben Phänomenologie in Ihren Schriften ausgezeichnet. Sie brauchen nicht zu wissen, was es ist, wenn Sie es richtig tun. Machen Sie nur weiter! Dann erzählte er von seinem Jahrbuch, wie ärgerlich und für ihn herabsetzend es sei, daß man ihn mit Schelling vergleiche; Schelling sei doch gar kein ernst zu nehmender Philosoph. Ich verstummte und sagte nachher: der wunderliche Mann weiß so wenig, was Philosophie ist, daß er es als Beleidigung empfindet, mit einem großen Philosophen verglichen zu werden.
Mir wurde damals deutlich, welch radikaler Unterschied sei zwischen eigentlichen Wissenschaften und Philosophie. In den Wissenschaften gelangen wir zu zwingendem, allgemeingültigem und faktisch anerkanntem Wissen, – aber um den Preis, immer im Partikularen, mit je besonderer Methode auf besondere Gegenstände unter bestimmten Voraus-setzungen gerichtet zu sein. Die Philosophie erhellt den Lebensgrund, das was ich selbst bin und will, und was an den Grenzen fühlbar wird, – aber um den Preis, bei wesentlicher, ja allein wesentlicher Wahrheit in den Aussagen keine zwingende, allgemeingültige Erkenntnis zu bringen.
Die Phänomenologie für Philosophie zu nehmen, schien mir aus dem Ethos der Philosophie verwerflich. Im Philo-sophieren kommt man nicht voran durch ein Blicken auf Phänomene, als ob man als Zuschauer sich verhalte wie in den Wissenschaften, sondern nur durch ein Denken, das zugleich ein inneres Handeln ist. Es hat Folgen in meiner Lebens-praxis und zeigt darin, was seine Wahrheit ist.
Auf dem Wege der Wissenschaften wurde ich vorangetrieben durch große Forscher, denen ich begegnete. Nißl, mein Chef an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg, zeigte uns Assistenten die Selbstkritik des produktiven Denkers und Arztes in der Freiheit der Diskussion. Ich nahm teil an der psychopathologischen Forschung.
Auf dem Wege der Philosophie war es keineswegs so klar. Zwar war die Philosophie nicht möglich ohne mit ganzer Kraft bei den Wissenschaften zu sein. Aber wenn die wissenschaftlichen Realitätserfahrungen offenbar nie das Ziel erreichten, so war es, als ob die Wirklichkeit selbst sich zeigen müßte. Der Raum, den die Philosophie zu erleuchten hatte, lag frei. Wie aber war er zu betreten? Wo wird die Wirklichkeit selber mir zugänglich?
Wie einem Gefängnisinsassen am Strauch im Hofe eine einzige Pfirsichblüte den ganzen Frühling zur Gegenwart bringen kann, wie ein Minimum alles wird, so treten plötzlich Erfahrungen in unser Dasein, die ungeplant sich offen-baren dem, der sich ihnen nicht versagt. Aber dieses Minimum muß leibhaftig da sein, um in der Phantasie die Ergän-zung zur Fülle zu finden. Diese plötzlichen Erfahrungen müssen begegnen, sie begegnen immer dem, der hört. Darin aber sind die Substanz die je einzigen Menschen, die lebenwährenden.
Wie bezaubert ich auch in früheren Jahren von den Mädchen war, manchmal war mir zumute, als wisse ich schon von meiner Frau, der ich bestimmt sei, und der ich treu sein müsse, auch wenn sie mich nie treffen sollte, – immer kam von da die Hemmung. Daseinsjubel in jenen vorzeitigen Ergriffenheiten war noch nicht der Aufschwung zur Wirklichkeit selbst. 24 Jahre war ich alt, als 1907 plötzlich alles anders wurde. Wir waren uns begegnet. Die Welt war verwandelt, die Arbeit gesteigert. Das Philosophieren, wie neu geboren aus der immer drohenden Skepsis, gewann seinen Ernst durch die Erfahrung des unbedingten und unbegründbaren Entschlusses, der lebenwährend die Kommunikation ermöglichte, ohne welche die bloßen Gedanken wie unwesentlich bleiben.
1909 sah ich Max Weber, den großen Soziologen. In seinem Forscherdasein von umfassender Weite war er mehr als Forscher. Seine universale Kenntnis der Realitäten war umgriffen von der Klarheit über die Grenzen unseres Wissens.
Im Strome der Ereignisse sagte er von Augenblick zu Augenblick, was das Wesentliche war. Er kannte keine feierliche Zurückhaltung und kein Raunen: der Mann stand gleichsam auf der Straße, jeder Frage sich aussetzend. Er wurde für mich der leibhaftige Philosoph unserer Zeit. Er führte zur Orientierung in allem Wißbaren und war zugleich der wunde-rbar wirkende Anspruch zu tun, was man kann.
Erst 1913 lernte ich die Werke Kierkegaards kennen. Sie brachten mir die endgültige Erweckung zur Philosophie als bewußtem, methodischem Denken eigengegründeter Art. Jetzt stellte sich die Aufgabe, die frühere Philosophie durch die referierbaren Meinungen hindurch in ihrem wahren Gehalt zurückzugewinnen. Verkehrt durch Vermischung mit Wissenschaften, mußte sie wieder wirksam werden als eigener Ursprung, als das, woraus wir denken und leben und sogar erst den Sinn der Wissenschaften selber erfassen. Es war, als ob mit einem Mal Kant, Schelling, Plotin und die anderen Großen wieder sprechend würden.
Es kam der erste Weltkrieg, dann nach dem Kriege die Zeit des Taumelns bei vielem guten Willen und bei noch größerer Energie der bösen und blinden Kräfte, dann die Zeit des Nationalsozialismus. Seit 1914 traf jeden auch die persönliche Daseinserschütterung. Mein Philosophieren hat darin keinen Bruch erlitten. Das Äußerste, die Grenzsituationen waren ihm von Anfang an die Quelle.
Für mich hatte ich den Weg zur Philosophie gefunden. Aber meine Ehrfurcht vor der Philosophie von Jugend auf hatte mich nicht daran denken lassen, sie selber zum Beruf zu machen. 1913 habilitierte ich mich allein für Psychologie. Zur Philosophie als Lehrberuf kam ich erst, als ich zu sehen meinte, daß nicht getan wurde, was jederzeit getan werden muß: an das eigentliche Philosophieren zu erinnern. 1920 starb Max Weber. Der Mann, dessen Gegenwart mir das Bewußtsein der Geborgenheit des Geistes gab, war nicht mehr da.
Ich fühlte mich wie in einen leeren Raum hineingeraten. Wenn nun andere es nicht tun, darf ich es tun. Als ich in diesem Sinne eine Professur für Philosophie annahm, hatte ich das Bewußtsein, daß ich jetzt erst mit dem planmäßigen Philo-sophiestudium und mit der Arbeit an der Philosophie als Werk beginne.
Wenigstens darf ich, so sagte ich mir, es wagen, die Überlieferung bewahren zu helfen dessen, was Philosophie eigent-lich sein kann, darf ich das Große spüren lehren und die Philosophie vor Verwechslungen schützen. Es war unausweich-lich, daß ich damit in Spannung zur bewusst wissenschaftlichen Fachphilosophie der Zeit stand, daß ich in deren Kreisen als Outsider empfunden wurde und für manche bis heute geblieben bin. Aber ich selber habe die Idee des Hochschul-lehrers mit Bewußtsein, ja mit Leidenschaft ergriffen. Von ihm soll die Philosophie gezeigt werden in ihrer Reinheit, in methodischen Formen, im engen Zusammenhang mit den Wissenschaften, aus unbeirrbarer wissenschaftlicher Ge-sinnung, ohne die Illusion und Verkehrung einer vermeintlich wissenschaftlichen und als Wissenschaft allgemeingülti-gen Philosophie. Für die Idee der Universität, in der diese Philosophie zu Hause ist, habe ich nach meinen Kräften gelebt und sie trotz ihrer immer auch versagenden Wirklichkeit geliebt.
Die Frage nun, was die Philosophie lehre, zu der ich geführt bin, läßt sich in Kürze nicht beantworten. Aber die für die Lehre erwachsenen Aufgaben lassen sich kennzeichnen.
Wir gewinnen Kräfte aus den geschichtlichen Quellen. Wir möchten Widerhall werden des Tiefen, das einmal gedacht wurde, möchten dessen Aneignung fördern.
Wir möchten ursprünglich im ewig Wahren und gründen, möchten jede Wirklichkeit hören, die eine Sprache spricht, die uns zum Aufschwung bringt.
Wir möchten teilnehmen am Übergang in die neue noch unbekannte, schnell sich nähernde Welt, – einzelne Vögel in der Menge der in das neue Zeitalter Fliegenden, der Spähenden, der Suchenden.
Wir sind auf dem Wege vom Abendrot der europäischen Philosophie durch die Dämmerung unserer Zeit zur Morgen-röte der Weltphilosophie.
Aber so sehr wir uns des Zwischenseins bewußt sind, wir wissen, daß alles Zwischensein zugleich erfüllte Gegenwart sein kann, daß es für uns keine andere Wirklichkeit als die gegenwärtige gibt, daß Flucht in Vergangenheit oder Zukunft die Wirklichkeit versäumen läßt: das mögliche unendliche Glück des Daseins, welches erfüllt ist von einem Sein quer zur Zeit, die ewige Gegenwart im verschwindenden Fluß der Dinge.
Aber dessen werden wir nie sicher angesichts des offenbar gewordenen Bösen, das Menschen Menschen antun, vor dem keine Philosophie die Augen schließen, nicht erleichtern und trösten darf. In
dieser Welt, von ihr betroffen und in ihr liebend den Weg der Vernunft zu finden, den Gedanken wirken zu lassen, das ist Kriterium der Wahrheit der Philosophie selber.
Karl Jaspers, Wahrheit und Bewährung [1951], München: Piper 1983, S. 7-15.
Eine Philosophie, der es ums Ganze geht – warum man Karl Jaspers lesen soll
Denken beginnt da, wo sich das Denken selber Grenzen setzt: vor allem die Grenzen zwischen dem, was man wissen kann, und dem, was man nicht wissen kann. Karl Jaspers’ Philosophie setzt da an – um das Denken zu sich selber zu befreien. Vor fünfzig Jahren ist Jaspers gestorben. Sein Werk stellt Fragen, die heute so drängend sind wie damals.
Anton Hügli am 24.02.2019 in der NZZ
Karl Jaspers hat, auf den einfachsten Nenner gebracht, in einer Zeit der Orientierungslosigkeit gezeigt, was Philosophie ist und warum Philosophie nottut – nicht irgendeine Philosophie, sondern jene, die mit Sokrates beginnt und die den «kleinen» Unterschied zu machen weiss zwischen dem, was man wissen und dem was man nicht wissen kann.
Für Jaspers ist unbestritten: Es gibt eine Realität, es gibt Dinge, die man wissen kann. Keiner kann Philosoph sein, der sich nicht um dieses Wissen bemüht – dem Weg der methodisch disziplinierten Erkenntnis folgend, den die neuzeit-lichen Wissenschaften gewiesen haben. Dieser Einsicht folgend hat er selbst – seiner von Anbeginn bestehenden Neigung zur Philosophie zum Trotz – Medizin studiert und sich mit seiner «Allgemeinen Psychopathologie» von 1913
in der Fachwelt einen bleibenden Namen geschaffen.
Doch: Wer entschieden und ernsthaft wissen will, weiss umso mehr auch um die Grenzen, an denen unser Nichtwissen beginnt. Auf die erste aufmerksam gemacht wurde Jaspers durch seinen Lehrer, den Soziologen Max Weber: Wissen-schaft kann zwar erkennen, was der Fall ist, aber sie wird uns nie sagen können, was wir wollen sollen. So kann keine Wissenschaft uns sagen, warum überhaupt Wissenschaft sein soll.
Grenzen denken
Eine zweite, und wohl die entscheidendste, ist die Grenze, die ihm Kant eröffnet hat: Wissenschaft ist stets partikular und perspektivisch, sie erkennt immer nur bestimmte Gegenstände in der Welt, aber nie die Welt als ganze. Hinter jedem Horizont öffnet sich ein weiterer Horizont, so ins Unendliche. Dies gilt auch für uns selbst, wir können immer nur Teil-aspekte unseres Daseins erkennen, aber wir wissen nie, wer oder was wir letztlich im Ganzen unseres Wesens sind.
Die dritte Grenze hat Jaspers selbst aufgezeigt. Es ist der Umstand, dass wir uns in Situationen finden, die wir nicht verändern und denen wir nicht entkommen können: dass wir nicht leben können, ohne zu leiden und zu kämpfen und uns schuldig zu machen, dass wir immer in Situationen verstrickt sind und dass wir sterben müssen. In diesen Grenz-situationen, wie Jaspers sie nennt, sind wir mit all unserem Weltwissen und all unseren Techniken am Ende.
Wissenschaft ist stets partikular und perspektivisch,
sie erkennt immer nur bestimmte Gegenstände in der Welt,
aber nie die Welt als ganze.
Wie verhalten wir uns gegenüber diesen Grenzen? Wir können sie ignorieren und verdrängen, uns in harmonistischen Welterklärungen und rationalen «Gehäusen» verschliessen, wir können, wissenschaftsabergläubisch, von einem Total-wissen träumen und uns einer Totalplanung des Menschen und seiner Geschichte verschreiben. Wir können aber auch das Gegenteil tun: uns diesen Grenzen stellen, sie uns klarer zu machen versuchen – und mit der zunehmenden Klarheit spüren, wie auch das Verlangen wächst, über sie hinauszugelangen, zu erfahren, worauf es uns ankommen soll, und Halt zu finden, auch wenn alles ins Wanken gerät.
Als der Psychologe, als der sich Jaspers nach seiner Ernennung zum Extraordinarius für Psychologie noch verstand, versucht er in seiner «Psychologie der Weltanschauungen» (1919) einen Überblick zu gewinnen über die Vielfalt bisher erdachter Möglichkeiten, sich Bilder von einem Weltganzen zu machen und in ihnen Sinn zu finden.
Schon damals aber ist ihm bewusst, dass dies nur abstrakte Möglichkeiten sind, durch die wir nichts zu wissen bekom-men und keine Anleitung zum Leben erhalten können. Sie mögen als solche vielleicht der Bildung dienen, die wir ästhetisch geniessen können, von Bedeutung aber sind sie erst, wenn das Entscheidende hinzukommt: die eigene prüfende Suche nach der Sinnmöglichkeit, auf die hin ich mein Leben wagen will. Wie aber soll diese Prüfung vor sich gehen, was bringt mich dazu, diesen Sprung zu tun?
Jaspers wird zunehmend klar, dass er sich mit dieser Frage nicht mehr in der Psychologie, sondern in der Philosophie bewegt. Er markiert dies auch nach aussen, indem er sich 1922 auf einen Lehrstuhl für Philosophie berufen lässt, als Professor sein Philosophiestudium nachholt und nun systematisch den Fragen nachgeht, die ihn bedrängen. Im Grunde sind es keine andern als die berühmten drei Grundfragen von Kant: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was kann ich hoffen?
Sich selbst sein
Das Ergebnis von Jaspers’ Denkarbeit ist das 1932 erschienene dreibändige Werk, das er schlicht «Philosophie» nennt. Der erste Band unter dem Titel «Weltorientierung» gilt der bereits erörterten ersten Frage nach den Bedingungen und Grenzen unseres Wissens, der zweite Band, «Existenzerhellung» genannt, führt die Frage philosophisch weiter, die in der Psychologie der Weltanschauungen offengeblieben ist: Was ermöglicht es uns, angesichts der Grenzsituation nicht in Nihilismus und Verzweiflung zu versinken, sondern – alle endlichen Daseinszwecke hinter uns lassend – zu dem zu werden, der wir wirklich sind, und das zu finden, was wir in Unbedingtheit wollen?
Diese Möglichkeit eines jeden Menschen, er selbst zu sein, ist das, was Jaspers mit Kierkegaard Existenz, genauer: mögliche Existenz nennt. Doch wie wird die mögliche Existenz zur wirklichen, die weiss, was sie in Unbedingtheit will? Auch dies wissen wir nicht. Wenn uns der «Aufschwung» gelingt, ist es, «als ob wir uns geschenkt würden». Ich bin das, was ich als Existenz bin, nicht durch mich selbst – so wenig wie ich durch mich selbst in die Welt gekommen bin.
In dem Masse, wie ich meiner selbst bewusst werde, werde ich mir darum auch jenes Anderen bewusst, durch das ich selber bin – ein Umgreifendes – so der Terminus von Jaspers –, das sowohl mich wie die Welt übersteigt. Er nennt es Gott oder Transzendenz, wohl wissend, dass dies bloss Namen sind für ein Sein, von dem wir doch nie sagen können, was es ist. Dass es ist, soll uns genügen. Keine Existenz ohne Transzendenz: So lautet nunmehr die Losung des jaspersschen Philosophierens, das er selber Existenzphilosophie nennt.
Das Leuchten der Dinge
Doch auch dies, dass sich Transzendenz nicht denken lässt, muss gedacht sein. Der dritte Band von Jaspers «Philosophie» kreist darum um die Frage nach der Transzendenz, nach dem, was überhaupt ist und was über uns und die Welt hinaus allein noch bleibt. Bisherige Formen metaphysischen Denkens «beschwörend», öffnet Jaspers den Raum, der mit der Idee der Transzendenz aufgespannt wird. In Erinnerung an die philosophische Disziplin, die noch spekulativ Gott erdenken zu können glaubte, nennt er seinen dritten Band «Metaphysik».
In dem Masse, wie ich meiner selbst bewusst werde,
werde ich mir darum auch jenes Anderen bewusst,
durch das ich selber bin – ein Umgreifendes,
das sowohl mich wie die Welt übersteigt.
Sein Schlüsselbegriff für die Art und Weise, wie Transzendenz uns in dieser Welt gegenwärtig werden kann, ist der Begriff der Chiffer. Er steht für das geheimnisvolle Leuchten der Dinge, die plötzlich Tiefe bekommen und in deren Licht Transzendenz auf uns unbegreifliche Weise aufscheinen kann. Der Chiffer-Begriff ist der Ausgangspunkt für Jaspers’ spätere, tief greifende Auseinandersetzung mit der Offenbarungsreligion, die heute aktueller ist denn je, und für die Entfaltung dessen, was er 'philosophischen Glauben' nennt.
Eine noch unbewältigte Aufgabe bei alledem bleibt, die Jaspers fortan nicht mehr loslässt und ihn veranlasst, eine auf mehrere Bände angelegte Philosophische Logik zu schreiben, von der nur der erste fertig wurde, das 1947 erschienene, mehr als 1000 Seiten umfassende Werk «Von der Wahrheit»: Über die Welt hinaus denken, Existenz erhellen, Trans-zendenz beschwören, worauf stützen wir uns, wenn wir dies tun, wenn dies alles doch jenseits jeder Erkenntnis liegt? Wenn wir nicht wissen, was wir hier tun, werden wir nie Herr unseres Denkens sein.
Die Idee des Ganzen
Es ist wiederum Kant, der Jaspers hier den Weg gewiesen hat: Was wir nicht erkennen können, das können wir doch denken – wir wissen nicht, was das Ganze ist, innerhalb dessen wir stehen, aber wir haben die Idee eines solchen Ganzen, und diese Idee beweist ihre Wirklichkeit insofern, als sie uns dazu antreibt, nach Einheit, nach Zusammenhang zu suchen und diese Suche selbst dann nicht aufzugeben, wenn wir scheitern.
Dieses auf Ideen gerichtete Denken nennt Jaspers mit Kant Vernunft. Vernunft ist das Band, das uns mit allem und mit allen verbindet. Vernunft, so kann Jaspers darum auch sagen, ist nichts anderes als der Wille «zu grenzenloser Kommu-nikation», sie ist wie das «Ausstrecken der Hände». Für unsere existenzielle Selbstvergewisserung ist sie als Medium ebenso notwendig wie die Luft zum Atmen. Statt 'Existenzphilosophie' möchte er seine Philosophie darum nun lieber 'Philosophie der Vernunft' nennen.
Doch was heisst, die Vernunft verschaffe uns Luft? Sie tut dies sowohl negativ wie positiv. Negativ, indem sie uns befreit von Unwahrheit, Schein und Täuschung, kurz, von allem, was uns geistig zu ersticken droht. Und eben darum dringt sie auf Unterscheidungen, hält auseinander und kämpft gegen jedes Denken, das Unterschiede verwischt, Werte für Wissenschaft verkauft, den Anspruch auf ein Totalwissen oder eine Letztbegründung erhebt, kurz – gegen alles Abso-lutistische, Totalitäre und Totalisierende. Positiv aber wirkt sie, indem sie die Fenster aufstösst, alle Möglichkeiten zeigt, den weitesten Horizont des Denkens öffnet.
Der Boden, auf dem wir stehen
Luft allein jedoch nährt nicht, und was uns geistig nährt, uns Sinn und Halt gibt, kommt nicht aus der Vernunft. Es kommt aus dem geistigen Boden, auf dem wir stehen und in dem wir unsere Wurzeln haben: Für uns Abendländer ist dieser Boden nach Jaspers die Bibel und sind es die Schriften der alten Griechen. Nicht alles Überlieferte aber können wir für uns bejahen und uns zu eigen machen. Was für unser Leben gelten soll, muss in fortwährender Prüfung immer wieder neu entschieden werden.
Atheismus oder Gottesglaube, geoffenbarter Gott oder der Gott der Philosophen? Freiheit oder Knechtschaft? Totali-tarismus oder offene Gesellschaft? Die reinigende Kraft der Vernunft zeigt die möglichen letzten Positionen, anhand deren uns vor allem eines klarwerden kann: was wir nicht wollen und was wir aus dem Grund unseres Wesens ableh-nen. Mit jeder abgelehnten Möglichkeit aber wächst die Klarheit darüber, auf welcher Seite wir tatsächlich stehen.
Die reinigende Kraft der Vernunft zeigt die möglichen letzten Positionen, anhand deren uns vor allem eines klarwerden kann: was wir nicht wollen und was wir aus dem Grund unseres Wesens ablehnen.
Das Verfahren der Vernunft, das Jaspers für den existenziellen Bereich zeichnet, ist dasselbe, das ihm auch zur Erhellung der Transzendenz dient. Es ist der alte Weg der Via Negationis: Weil wir nie sagen können, was Gott ist, können wir ihm nur näherkommen, wenn wir all die Bilder, Vorstellungen und Begriffe wieder negieren, die wir uns von ihm gemacht haben. Und je mehr wir uns von diesen Gottesbildern befreien, desto freier wiederum werden wir selbst. Denn dies bewahrt uns davor, uns einem Gott zu verschreiben, der, zum einzig wahren erklärt, doch nur eine von Menschen erdachte Götzengestalt ist.
Wegweiser ohne Inschrift
Warum aber sollen wir uns mit den überlieferten Gottesbildern überhaupt beschäftigen, wenn doch keines genügt? Die Antwort gibt Jaspers’ Chiffernlehre. Als endliche, an unseren Ort, unsere Sinne und unseren Verstand gebundene Wesen haben wir auch im Raum der Vernunft keine anderen Mittel als jene, die uns zur Erkenntnis unserer Welt zur Verfügung stehen: Vorstellungen zu bilden und mit Begriffen nach den Regeln der Logik zu operieren.
Entscheidend aber ist, mit welchem Bewusstsein wir das tun: Ob wir es tun im sokratischen Wissen, dass alle diese Mittel unzulänglich sind und wir doch immer nur sagen, was wir im Grunde nicht sagen können, oder ob wir glauben, das von uns Gedachte sei auch schon Wirklichkeit. Dieses sokratische Bewusstsein verändert alles. Unsere Bilder, Vorstellungen und Begriffe nehmen wir nun als das, was sie sind: ein Spiel unserer Phantasie, mit deren Hilfe wir zu erhaschen ver-suchen, was wir nie erhaschen werden.
Einzelne Figuren in diesem Spiel aber können uns auf unerwartete Weise ansprechen – als Chiffern eben. Wie Weg-weiser ohne Inschrift geben sie uns eine Richtung vor, der wir nicht anders als folgen können, ohne zu wissen, wohin sie uns führen. So kann uns die biblische Geschichte von der Moses auf dem Sinai geoffenbarten Gesetzestafel zur Chiffer werden für den Ernst des Gewissens im Ringen um die Unbedingtheit unseres Wollens.
Die Wahrheit beginnt zu zweien
Nur wenn wir auf diese Weise prüfen, was Menschen über die Jahrhunderte hinweg schon zur Führung ihres Lebens diente, können wir finden, was für uns wahr ist. In der Einsamkeit des Allein-Denkens gibt es keine Wahrheit, die Wahr-heit, so das von Jaspers immer wieder zitierte Nietzsche-Wort, beginnt zu zweien.
Wahr ist, was mich – bei allen Differenzen in dem, was wir glauben – mit dem anderen verbindet. Und das allein Verbindende ist die Vernunft, der Wille im andern und der Wille in mir, zu verstehen und verstanden zu werden. Mit diesem Programm allein schon ist Jaspers weit über seine philosophischen Zeitgenossen hinaus. Doch es bleibt nicht beim Programm.
Wahr ist, was mich – bei allen Differenzen in dem,
was wir glauben – mit dem anderen verbindet.
Grenzenlos kommunizieren, mit den Toten und mit den Lebenden, und doch entschieden man selbst sein – kein Philosoph hat dies so konsequent vorgelebt wie Jaspers. Davon zeugt seine bewundernswerte Leistung in der Aneignung der Geschichte der Philosophie, die sich niedergeschlagen hat in seinen zahlreichen Monografien der grossen Philosophen, davon zeugt aber auch sein Wille, weit über das Abendland hinaus in das Denken anderer Kulturen einzudringen.
Weltphilosophie
Dieser Wille führt ihn zu der – zurzeit wieder höchst aktuellen – These von der Achsenzeit: von einem zeitgleichen Erwachen philosophischen Denkens in Vorderasien ebenso wie in Indien und China in der Zeit zwischen 800 und 200
v. Chr. Doch selbst dies war ihm nicht genug, er verstand diese Arbeiten als Teil bloss des von ihm in aller Stille voran-getriebenen, unvollendet gebliebenen monumentalen Projekts einer Weltgeschichte der Philosophie als der Grundlage einer künftigen Weltphilosophie.
Weltphilosophie heisst die von Jaspers intendierte künftige Philosophie nicht zuletzt darum, weil es ihm buchstäblich
um die Welt, um die Menschheit als ganze und die Existenz jedes Einzelnen geht. So fragt er nach dem Krieg – im gleichnamigen Buch – nach Ursprung und Ziel der Geschichte.
Aus seiner Sorge um die doppelte Bedrohung der Menschheit, den Totalitarismus auf der einen Seite und ihre Selbst-vernichtung durch die Atombombe auf der andern Seite, wird er mit seinem Buch «Die Atombombe und die Zukunft des Menschen» zum Mahner und Warner und zum Vordenker einer neuen Weltfriedensordnung. Seine durch das Nazi-regime geschärfte Einsicht, dass es ohne politische Freiheit keine existenzielle Freiheit geben kann, lässt ihn am Ende seines Lebens zum politischen Schriftsteller werden, der im Kampf für politische Freiheit und für die von ihm ange-mahnte moralische Umkehr der Deutschen «Kopf und Kragen» riskierte.
Hier, im Politisch-Werden seiner Philosophie, zeigt sich noch einmal, worin die eigentliche Bedeutung von Jaspers liegt: in seiner Grundhaltung, die nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben prägte: buchstäblich aufs Ganze zu gehen und dabei redlich zu sein auch im Kleinsten, keinen Satz stehen zu lassen, zu dem er nicht stehen konnte. Ihm dürfen
wir vertrauen – auch dann, wenn wir meinen, seiner Philosophie nicht folgen zu können. Allein dies schon erhebt ihn über seine zeitgenössischen Zunftgenossen – von seinem verlogenen Gegenspieler Martin Heidegger nicht zu reden –, aber auch über die heute hochgejubelten Welterklärer, die mit selbstgefälliger Rhetorik Feuilletonseiten füllen.
Anton Hügli ist emeritierter Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Basel, Präsident der Karl-Jaspers-Stiftung und Initiator der grossen kommentierten Karl-Jaspers-Gesamtausgabe. 2016 ist im Schwabe-Verlag sein Buch «Von der Schwierigkeit, vernünftig zu sein» erschienen.
https://www.nzz.ch/feuilleton/karl-jaspers-ein-philosoph-der-aufs-ganze-geht-ld.1460196
Karl Jaspers - Grundbegriffe seines Denkens
Herausgegeben von Hamid Reza Yousefi, Werner Schüßler, Reinhard Schulz und Ulrich Diehl
Obwohl Karl Jaspers zu den bedeutendsten Philosophen des 20. Jahrhunderts zählt und es auch bereits eine inter-national etablierte Jaspersforschung gibt, hat sein Werk jedoch immer noch keinen angemessenen Eingang in die historische und systematische Lehre der Philosophie gefunden. Der vorliegende Sammelband möchte erstmals einen Einblick in die wichtigsten Begriffe seines Denkens bieten. Thematisiert werden die folgenden Begriffe: Grenzsituation, Freiheit, Menschenbild, Kommunikation, Philosophischer Glaube, Chiffer, Böses, Wahrheit, Vernunft, Gehäuse, Wissen-schaft, Logik, Sprachphilosophie, Psychopathologie, Psychologie der Weltanschauung, Ethik, Einsamkeit, Erziehung, Politik, Toleranz, Universität, Achsenzeit, Philosophia perennis sowie interkulturelle Philosophie. Einige dieser Begriffe hat Jaspers selbst geprägt, und sie fanden dauerhaft Eingang in die Philosophie, Psychologie und Psychopathologie.
Bei den anderen Begriffen knüpft Jaspers zwar an die klassische Tradition der europäischen Philosophie an, sie erfahren aber auf eine originelle Weise eine Umgestaltung und Erweiterung, nicht zuletzt auch im Sinne einer Weltphilosophie. Dieser Sammelband ist nicht nur als ein einführendes Kompendium für Studierende der Philosophie, der Psychologie, der Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Theologie gedacht, sondern er möchte auch philosophisch Interessier-ten den Zugang zur Philosophie von Jaspers erleichtern.
1. Auflage März 2011, 400 Seiten, Softcover, ISBN 978-3-941400-34-4, Euro 29,80
AUTOREN:
Erik Lehnert, Philipp Batthyány, Harald Seubert, Werner Schüßler, Christine Görgen, Reinhard Schulz, Ulrich Diehl, Harald Stelzer, Peter Gerdsen, Albrecht Kiel, Jann E. Schlimme, Herner Rindermann, Franz-Peter Burkard, Anton Hügli, Bernd Weidmann, Kurt Salamun, Ulrich Ruschig, Hamid Reza Yousefi, Ram Adhar Mall.
Fuchs, Thomas / Micali, Stefano / Wandruszka, Boris (Hrsg.),
Schriftenreihe der DGAP - Band 1.
Freiburg / München: Verlag Karl Alber 2013
ca. 256 Seiten, Kartoniert, 35,00 €
Thomas Fuchs, Karl Jaspers – Denker der Grenzen
„Der Mensch ist immer mehr, als er von sich weiß. Er ist nicht, was er ein für allemal ist, sondern er ist Weg.“*. Worte
von einem der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts: Karl Jaspers (1883 - 1969). Der Philosoph und Psychiater versuchte zeitlebens die Grenzen zwischen Philosophie, Psychologie, Psychiatrie und Medizin zu überwinden. Diesem „Denker der Grenze“ widmet die Medizinische Gesellschaft Mainz den nächsten Themenabend ihrer Vortragsreihe „Starke Köpfe“.
Referent des Abends ist Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Inhaber der Karl-Jaspers-Professur für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg. Sein Vortrag thematisiert insbesondere das philo-sophische Gedankenwerk Jaspers‘ zu Grenzsituationen wie Schuld, Leid und Tod. In die Thematik einführen und den Abend moderieren wird Prof. Dr. phil. Werner F. Kümmel, ehemaliger Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und
Ethik der Medizin an der Universitätsmedizin Mainz.
Karl Jaspers (1883-1969) gehört zu den bedeutendsten Denkern des 20. Jahrhunderts und ist weltweit einer der meist-übersetzten deutschsprachigen Philosophen. Sein Werk ist das eines Grenzgängers, der in seinem Beruf von der Medi-zin und Psychiatrie zur Psychologie und schließlich zur Philosophie wechselte. In seinem Spätwerk erweiterte er die abendländische Philosophie durch den Blick auf die asiatische und die Weltphilosophie. In der Nachkriegszeit nahm er engagiert am politischen Zeitgeschehen teil. Eine entscheidende Rolle für seine Philosophie spielt auch der Gedanke
der Grenzsituationen, die gerade durch ein Scheitern des bisherigen Lebensentwurfs den Blick auf das Umgreifende
der Existenz eröffnen.
Der Vortrag stellt zunächst Jaspers‘ Leben und Werk vor und thematisiert dann den Begriff der Grenzsituationen insbesondere im Zusammenhang mit psychischen Krisen und Erkrankungen.
https://www.youtube.com/watch?v=BApw4OAbJY4