Christliches Abendland?

 

 

 

Vom Aufgang des Abendlandes


Die Rede vom "christlichen Abendland" ist ein Missverständnis. Die mit ihm verbundenen Errungenschaften dürfen aber deshalb nicht aufgegeben werden.


Von Otfried Höffe -  FAZ 23 .01.2017


Hochrangige Politiker sprechen für Deutschland gern vom "christlichen Abendland" und erweitern dessen Anspruch auf ganz Europa. Wer noch unvoreingenommen auf das Stadtbild und die Landschaft schaut, wer aus seiner Wahrnehmung weder die Kirchen, Kapellen, Klöster und Wegkreuze noch die Tradition der Weihnachtsmärkte verdrängt, auch wenn man ihnen verschämt lieber heidnische Namen gibt, wer in Musikprogrammen die Weihnachtsoratorien, Passionen und Orchestermessen nicht vorsätzlich übersieht, wem der Einfluss von Bibelübersetzungen auf die europäischen Sprachen noch bewusst ist, der kann, ob frommer Christ oder gläubiger Atheist, das Gewicht christlicher Faktoren auf die Entwicklung Europas schwerlich leugnen. Überschätzen sollte er das Gewicht aber nicht.


Die Kultur des Westens ist nämlich, geographisch pointiert, von drei Leitorten, Athen, Rom und Jerusalem, bestimmt. Die Paradoxie der Rede vom "christlichen Abendland": Athen und das hier einschlägige Rom sind vorchristlich, Jerusalem dagegen liegt nicht im Abendland.


Im Leitort Athen bündelt sich der überreiche Strauß von Errungenschaften der griechischen Kultur. Aus ihr stammt Homer, der mit den beiden auf ihn zurückgeführten Epen, der "Ilias" und der "Odysee", die europäische Erzählkunst bis heute beeinflusst, mit Stichworten wie "Achillesferse", "homerisches Gelächter" und "Trojanisches Pferd" sogar in die Alltagsrhetorik eingedrungen ist. Nicht minder einflussreich sind die griechischen Tragödiendichter. Ihre Titelfiguren inspirieren bis heute zu Nachdichtungen oder eigenständigen Neuentwürfen. Und als libidinöse Bindung des Sohnes an die Mutter ist der Ödipuskomplex, ein Grundbegriff der Psychoanalyse, auch in Alltagsdiagnosen weithin bekannt.


Historiker sehen in Herodot das Vorbild für eine Geschichtsschreibung, die politische Ereignisse in ihren kulturgeschicht-lichen Zusammenhang stellt, und in Thukydides das Muster für einen Autor, der seine Quellen zu einer so weit wie möglich objektiven Historie verarbeitet. Gründliche Beobachtungen des Sternenhimmels kennen wir schon aus Babylon. Der mathematische Beweis allgemeingültiger Aussagen stammt aber für unserem Kulturraum, also Indien und die Mayas eingeklammert, im wesentlichen von den Griechen ab. Aus der Schulzeit kennen wir den Satz des Thales. Und Pythagoras ist nicht nur für den nach ihm benannten Satz der Geometrie berühmt, sondern auch für die Erkenntnis der Zahlenverhältnisse in den musikalischen Grundintervallen, für die Oktave 1:2, für die Quinte 2:3 für die Quarte 3:4.
Aufklärung gibt es nicht nur in der so benannten Epoche der Neuzeit. Einen Aufklärungscharakter hat schon Thales' Religionskritik; Xenophanes erklärt die Götter zu schlechten Vorbildern, da sie stehlen, die Ehe brechen und einander betrügen. Darüber hinaus entlarvt er das Aussehen der Götter als Projektion der verschiedenen Völker.


Griechische Wissenschaftler und Philosophen praktizieren, was Aristoteles im Einleitungssatz der Metaphysik auf den Begriff bringt: "Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen", ohne, fährt er fort, sich an einen möglichen Nutzen zu binden. Christliche Denker wie Augustinus hingegen fordern ein gottesfürchtiges Forschen, das hinter allen Naturvorgängen Gott als Schöpfer sieht. Hier folgt das heutige Abendland einschließlich christlicher Wissenschaftler nicht dem augustinisch-christlichem Muster, sondern dem griechischen Gedanken einer von fremden Bindungen unabhängigen, autonomen Vernunft.


Moralische Verpflichtungen kennen viele Kulturen: Im Hinduismus, im Buddhismus und im Judentum sind sie jedoch eng mit der Religion verwoben. Spätestens Aristoteles entwickelt eine philosophische Ethik und eine politische Philosophie, die auf Religion und Theologie verzichten. Infolgedessen verfügen sie auch für eine zunehmend säkulare Welt über ein hohes Maß an Überzeugungskraft. Dies trifft vor allem auf die Methode zu, auf ein Denken mittels Begriff, Argument und Reflexion, das sich zusätzlich auf eine möglichst reiche Erfahrung stützt, sich ferner auf die Ausdifferenzierung von Spezialforschungen und Einzelwissenschaften einlässt und das bis heute gültige literarische Muster von Wissenschaft, die Abhandlung, pflegt.


Weiterhin dürfen wir nicht vergessen, dass viele aristotelische Begriffe, über ihre lateinische Übersetzung vermittelt, zum festen Bestandteil der abendländischen Weltorientierung geworden sind. Dazu gehören die Unterscheidung von Materie und Form, von Wirklichkeit ("Akt") und Möglichkeit ("Potenz"), von Theorie, Praxis und Technik, die Differenzierungen im Begriff der Gerechtigkeit und die Einteilung der Verfassungsformen in drei gelungene: Königtum, Aristokratie sowie Politie/Republik und in drei misslungene Formen: Tyrannis, Oligarchie und jene Art der Demokratie, die einer aller Rechtsbindung enthobenen Willkürherrschaft nahekommt. Auf Aristoteles gehen schließlich die beiden bis heute gültigen Grundbestimmungen der Anthropologie zurück, der Mensch als das vernunft- und sprachbegabte und als das politische Lebewesen.


Vom anderen Kirchenvater der abendländischen Philosophie, Platon, sei außer dem Gedanken der vier Kardinal-tugenden: Besonnenheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Weisheit nur ein weiteres Element herausgehoben, eine bis heute vorbildliche "akademische" Institution: Platon gründet eine Schule, die Akademie, die sich rasch zu einem internationalen Treffpunkt von Wissenschaftlern und Philosophen entwickelt, zu einem intellektuellen Mekka, das die Einheit von Forschung und Lehre praktiziert.


Selbst eine nur kursorische Erinnerung an die griechischen Wurzeln der westlichen Kultur darf die Politik nicht außer Acht lassen. Deren griechisches Verständnis ist nämlich im Zuge einer kulturellen Globalisierung weltweit zu einem Maßstab geworden, der den einen, den Demokratien, als Vorbild, den anderen, den Diktaturen, als eine ärgerliche Herausforderung dient: Ein Gemeinwesen ist die rechtlich-politische Ordnung, in der freie und gleiche Bürger ihr Zusammenleben selbst organisieren.


Noch nicht genannt sind: die griechische Medizin mit Hippokrates, Asklepios und Galen, der Mathematiker und Ingenieur Archimedes und die Architektur, Bildhauerkunst und Vasenmalerei, die bis heute ein Vorbild für die entsprechenden Künstler und ein Publikumsmagnet für die späten Nachfahren sind. Auch fehlen noch die Ethik Epikurs, also das Vorbild einer hedonistischen, an Freude und Schmerz als letztem Maßstab orientierten Ethik, und die wohl wirkungsmächtigste philosophische Ethik überhaupt, die stoische Ethik. Diese wird zunächst vom Christentum in wesentlichen Elementen absorbiert, später aber, in der Epoche der europäischen Aufklärung, als Alternative zur christlichen Ethik wiederbelebt. Selbst diese allzu knappe Erinnerung zeigt: Der Einfluss der griechischen Kultur, gebündelt im Leitort Athen, ist schier überwältigend.


Und Rom? In mindestens vier Bereichen ist es gegenüber Athen noch eigenständiger und prägt, in aufsteigender Bedeutung, das Abendland bis heute: in der Rhetorik, im Recht, in der Sprache und, obwohl von Athen beeinflusst, im Gedanken der Republik.


Am Muster römischer Rhetorik, Cicero, schulen sich Politiker und Anwälte bis ins zwanzigste Jahrhundert. Vor allem kann der Staatsmann, Redner und Philosoph sich rühmen, unter Rückgriff auf griechisches Gedankengut eine so umfassende lateinische Begrifflichkeit geschaffen zu haben, dass es seither kein Gebiet der Philosophie gibt, das nicht in lateinischer Sprache zugänglich wäre. Zum größten Teil geht in dieser Sprache die griechische Philosophie in das europäische Denken und dessen Sprachen ein.


Griechenland bringt so bedeutende Gesetzgeber wie Solon hervor, einen Juristenstand verdankt das Abendland aber erst Rom. Die europäische Rechtswissenschaft wird von Juristen wie Celsius, Julian und Ulpian geschaffen. Diese besaßen die Befugnis, im Namen des Kaisers den Richtern autoritativ verbindliche Antworten auf Anfragen über die Entscheidung von Streitfällen zu geben. Ihre im Corpus iuris civilis zusammengestellten Gutachten und Leitsätze prägen nicht nur das kontinentale Rechtsdenken über Jahrhunderte. Ihre Ansichten werden auch vielfach übernommen und bestimmen beispielsweise das deutsche Schuld- und Erbrecht bis heute.


Im Gefolge der ausgreifenden Herrschaft Roms wird das Lateinische zu einer Weltsprache. Bis weit in die Neuzeit ist es die gemeinsame Sprache sowohl der christlichen Liturgie als auch der Gelehrten. Es lebt in den romanischen Sprachen fort, auch im romanisch-französischen Anteil des Englischen, ferner in Form von Fremdwörtern in den germanischen und slawischen Sprachen und ist zu einem erheblichen Teil in der Terminologie der heutigen Wissenschaft präsent.


Wenn heute die Republik als Ideal eines Gemeinwesens gilt, steht im Hintergrund Ciceros Definition: "Der Staat ist also die gemeinsame Sache des Volkes; Volk aber ist nicht jede beliebige Ansammlung von Menschen, sondern der Zusammenschluss einer Menge, die einvernehmlich eine Rechtsgemeinschaft bildet und durch gemeinsamen Nutzen verbunden ist." Offensichtlich kann sich die moderne, rechtsstaatliche Demokratie darin wiederfinden, insbesondere in der Rechtsgemeinschaft, dem Gemeinwohl sowie dem Anspruch "einvernehmlich" (consensu) zu sein.


Jerusalem, der dritte Leitort des christlichen Abendlandes, der endlich einen christlichen Charakter hat, liegt freilich nicht im Abendland. Das Christentum, das als Reformjudentum in Jerusalem entsteht, bereichert die abendländische Musik, Architektur, Literatur und die bildende Kunst. Die wahrhaft weltgeschichtliche Leistung besteht aber in der vom Judentum übernommenen anthropologischen Wertschätzung. Als Ebenbild Gottes hat der Mensch einen nicht mehr zu steigernden Wert. Wer hochentwickelte Tiere wie etwa die Primaten nicht nur - und zu Recht! - schätzen, sondern sogar auf den Rang des Menschen heben will, vergisst einen doch wesentlichen Unterschied: Nur der Mensch trägt sowohl für sich als auch für die Welt, in der er lebt, für die soziale und für die natürliche Welt, Verantwortung. Aus der jüdisch-christlichen Gottebenbildlichkeit lässt sich der Gedanke der Menschenwürde gewinnen. Die Lektion, dass sich daraus Grund- und Menschenrechte ergeben, dass Religions- und Meinungsfreiheit zu gewähren sind und die Sklaverei abzuschaffen ist, haben allerdings die Christen nur widerstrebend gelernt.


Die weltgeschichtliche Leistung des Christentums setzt sich in dem Umstand fort, dass sich das Christentum, durch die damals intellektuell führende Macht, die Philosophie, provoziert und gezwungen sieht, eine Theologie im strengen Sinn, eine wahrhaft philosophische Gotteslehre, zu entwickeln. Theologische Fakultäten müssen ihre Heiligen Schriften, das Alte und Neue Testament, auslegen und als Theologen sich dabei wissenschaftlichen Kriterien unterwerfen. Sie müssen die Geschichte ihrer Kirchen erforschen und sollen sich mit Liturgie und Kirchenmusik, Pastoral und Predigt befassen. Wenn sie jedoch darüber die systematische Theologie beziehungsweise die Fundamentaltheologie und Dogmatik sowie deren philosophisches Propädeutikum verringern, vernachlässigen sie, was unabhängig von veränderbaren Konkordaten ihr Recht, an einer Universität beheimatet zu sein, beeinträchtigt: die ihrem methodischen Kern nach philosophische Auseinandersetzung mit den Grundlagen ihrer Religion.


Eine noch bedeutendere weltgeschichtliche Leistung dürfte in der Aufhebung jeder ethnischen Begrenzung liegen, in der Gleichberechtigung aller Menschen. Diese universalistische Botschaft wird trotz zu erwartender Widerstände alle Säkularisierungswellen überleben, infolgedessen auch in einer kulturell pluralistischen Weltgesellschaft Zustimmung und gelebte Anerkennung finden.


Schließlich darf man Max Webers These nicht vergessen, der "Geist des Kapitalismus" gründe in einer christlichen Ethik: der Calvinisten und Puritaner. Schrankenlose Erwerbsgier, sagt Weber, gebe es zu allen Epochen in allen Ländern. Typisch für den Kapitalismus sei erst das rationale Streben nach immer neuen Gewinnen, also die auf einer Kapitalrechnung beruhende Rentabilität. Zweifellos hat sich dieses Streben längst von der protestantischen Ethik gelöst. Es wird sowohl im rheinischen Kapitalismus als auch im chinesischen Sozialismus praktiziert.


Die neben dem Recht (Rom) und der Wissenschaft (Athen) schicksalhafteste Macht der Gegenwart hat also christliche Wurzeln. Wer allerdings hat sie vor Augen, wenn er vom christlichen Abendland spricht? Wer heute den Kapitalismus mit protestantischer Ethik verbindet, wird zumindest in Europa eher an die Kritik des Kapitalismus als an ein Plädoyer für ihn denken. Allerdings richtet sich die Kritik in der Regel auf das Gewinnstreben, das sich aber laut Max Weber kapitalismusunspezifisch bei "all sorts and conditions of men" findet.


Die Bilanz liegt auf der Hand: Stellt man bei den drei Leitorten Europas jeweils nur wenige der bis heute hochwirksamen Leistungen heraus, so steht Athen für eine autonome Wissenschaft und für eine Selbstregierung der Bürger, Rom für eine Republik und für die Mitverantwortung professioneller Juristen bei der Herrschaft des Rechts, schließlich Jerusalem für den hohen Rang eines jeden einzelnen Menschen. Wenn man diese Elemente mit dem Titel "christliches Abendland" meint, dann darf man dieses nie aufgeben, dann muss man es, im Gegenteil, sowohl Christen als auch Nichtchristen zumuten. Die Verbindung von Athen und Rom mit Jerusalem bleibt für eine säkulare Gesellschaft auch in Zeiten der Globalisierung unverzichtbar gültig.


Otfried Höffe leitet die Forschungsstelle Politische Philosophie an der Universität Tübingen. Zuletzt erschienen ist seine "Geschichte des politischen Denkens" (C.H. Beck Verlag).

 

 




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Otfried Höffe, Vom Aufgang des Abendlandes
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23 .01.2017
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