Evidenzbasierte Medizin

 

Was ist Evidenzbasierte Medizin?

 

Definition und Hintergrund

 

Evidenzbasierte Medizin (EbM) ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaftlichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM bedeutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.

 

EbM stützt sich auf drei Säulen: die individuelle klinische Erfahrung, die Werte und Wünsche des Patienten und den aktuellen Stand der klinischen Forschung.

 

Das Vorgehen in der EbM gliedert sich in fünf Schritte:

 

1. Übersetzung des klinischen Problems in eine Fragestellung, die durch wissenschaftliche Untersuchungen zu beantworten ist

2. Systematische Literaturrecherche nach geeigneten Studien

3. Kritische Evidenzbewertung über alle identifizierten Studien hinweg

4. Anwendung der gewonnenen Einsichten in Abwägung der konkreten klinischen Situation

5. Selbstkritische Evaluation und ggf. Anpassung der bisherigen Vorgehensweise

 

Das fünfschrittige Vorgehen bedarf des Trainings und ist im Alltag der Patientenversorgung häufig schwer umzusetzen. Wesentlich für die EbM ist die systematische, zeitnahe und unverzerrte Berücksichtigung von Studienergebnissen.

 

EbM in Deutschland

 

In Deutschland wurde 2000 das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin DNEbM e.V. gegründet, das sich als inter-disziplinäre Plattform für EbM-Aktivitäten versteht. Die Webseite bietet nützliche Hintergrundinformationen, Links und Diskussionsbeiträge zur EbM-Entwicklung in Deutschland, die der Dynamik in den angelsächsischen Ländern nur ver-zögert folgt. Besonders hingewiesen sei auf den Terminkalender des DNEbM und die „EbM-Splitter“, die Einzelaspekte der EbM pointiert erklären.

 

Das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) setzt sich seit 2004 auf Grundlage der EbM für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung ein. Das IQWIG ist im Wesentlichen im Auftrag des Ge-meinsamen Bundesausschusses (G-BA ) und des Bundesgesundheitsministeriums tätig, bewertet Operations- und Diagnoseverfahren, Arzneimittel und Behandlungsleitlinien und erarbeitet Grundlagen für neue Disease Management Programme (DMP).

 

Das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin (ÄZQ),eine Einrichtung der Bundesärztekammer und der Kassenärzt-lichen Bundesvereinigung, bietet umfassende Ressourcen zur EbM an. Es bietet zudem in Zusammenarbeit mit der AWMF Portale für qualitätsbewertete Leitlinien und Patienteninformationen.

 

EbM und Cochrane

 

Die Entwicklung der EbM und Cochrane International sind eng miteinander verwoben. Das Buch "Effectiveness and efficiency" (1972) von Archibald Leman Cochrane (1909 - 1988) gilt als Geburtshelfer sowohl von Cochrane International

als auch der EbM. Davon inspiriert publizierte I. Chalmers 1989 das bis heute regelmäßig aktualisierte Referenzwerk "Effective care in pregnancy and childbirth". Dieses auf systematischen Übersichten und Studienregistern basierende

Werk kann als das erste evidenzbasierte Therapiehandbuch und als Vorläufer der Cochrane Library angesehen werden.

 

https://www.cochrane.de/ueber-uns/evidenzbasierte-medizin

 


 

Was ist Evidenz-basierte Medizin und was nicht?

 

D.L.Sackett et al. [MMW Originalia Editorial Münch. med. Wschr. 139 (1997) Nr. 44 S 644-645]

 

Evidenz-basierte Medizin (EbM), deren philosophischer Ursprung ins Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts und weiter zurückreicht, ist mehr denn je ein aktuelles Thema bei Klinikern, Sozialmedizinern, Einkäufern und Planern von Leis-tungen der Gesundheitsversorgung sowie der Öffentlichkeit. Es gibt mittlerweile zahlreiche Workshops zur Praxis und Lehre der EbM. Aus- und Weiterbildungsprogramme integrieren das Konzept in ihre Curricula (oder erwägen es).

 

Britische Zentren für Evidenz-basierte medizinische Praxis haben sich in den folgenden Bereichen etabliert oder sind geplant: Innere Medizin, Kinderheilkunde, Chirurgie, Pathologie, Pharmakotherapie, Krankenpflege, Allgemeinmedizin und Zahnheilkunde. Cochrane und das NHS Centre for Reviews and Dissemination in York erstellen systematische Übersichtsarbeiten der Wirksamkeit von Maßnahmen der medizinischen Versorgung. Neue EbM-Zeitschriften wurden gestartet und EbM ist in der Laienpresse ein weit verbreitetes Thema. Mittlerweile verbreitet sich EbM in Europa, mit französischen, deutschen und italienischen Versionen einer EbM-Zeitschrift als Zweitpublikation und einer spanischen Übersetzung eines aktuellen EbM-Lehrbuches [1-4].

 

Allerdings hat sich dieser Enthusiasmus auch mit negativen Reaktionen gemischt [5-7]. Die Kritik reicht vom Vorwurf, EbM sei ein alter Hut, bis hin zur Warnung, es handele sich um eine gefährliche Erfindung, vorangetrieben von Hoch-mütigen, die nur Maßnahmen zur Kostenreduktion unterstützen und die klinische Freiheit unterdrücken. Da sich die Evidenzbasierte Medizin weiter entwickelt und adaptiert, scheint es angebracht, die Diskussion um das, was EbM ist und was nicht, neu anzustoßen.

 

"Externe klinische Evidenz führt zur Neubewertung bisher akzeptierter medizinischer Verfahren."

 

EbM ist der gewissenhafte, ausdrückliche und vernünftige Gebrauch der gegenwärtig besten externen, wissenschaft-lichen Evidenz für Entscheidungen in der medizinischen Versorgung individueller Patienten. Die Praxis der EbM be-deutet die Integration individueller klinischer Expertise mit der bestverfügbaren externen Evidenz aus systematischer Forschung.

 

Mit individueller klinischer Expertise meinen wir das Können und die Urteilskraft, die Ärzte durch ihre Erfahrung und klinische Praxis erwerben. Ein Zuwachs an Expertise spiegelt sich auf vielerlei Weise wider, besonders aber in treff-sichereren Diagnosen und in der mitdenkenden und -fühlenden Identifikation und Berücksichtigung der besonderen Situation, der Rechte und Präferenzen von Patienten bei der klinischen Entscheidungsfindung im Zuge ihrer Behand-lung. Mit bester verfügbarer externer Evidenz meinen wir klinisch relevante Forschung, oft medizinische Grundlagen-forschung, aber insbesondere patientenorientierte Forschung zur Genauigkeit diagnostischer Verfahren (einschließlich der körperlichen Untersuchung), zur Aussagekraft prognostischer Faktoren und zur Wirksamkeit und Sicherheit thera-peutischer, rehabilitativer und präventiver Maßnahmen. Externe klinische Evidenz führt zur Neubewertung bisher ak-zeptierter diagnostischer Tests und therapeutischer Verfahren und ersetzt sie durch solche, die wirksamer, genauer, effektiver und sicherer sind.

 

Gute Ärzte nutzen sowohl klinische Expertise als auch die beste verfügbare externe Evidenz, da keiner der beiden Faktoren allein ausreicht: Ohne klinische Erfahrung riskiert die ärztliche Praxis durch den bloßen Rück-griff auf die Evidenz "tyrannisiert" zu werden, da selbst exzellente Forschungsergebnisse für den individuellen Patienten nicht anwendbar oder unpassend sein können. Andererseits kann ohne das Einbeziehen aktueller externer Evidenz die ärztliche Praxis zum Nachteil des Patienten leicht veraltetem Wissen folgen.

 

Diese Beschreibung hilft zu klären, was EbM nicht ist: EbM ist weder ein alter Hut noch ist sie unpraktikabel. Das Argu-ment, dass das "jeder sowieso schon macht", wird durch die beeindruckende Vielfalt bei der Integration der Einstellun-gen der Patienten in unser klinisches Verhalten wie auch durch die unterschiedliche Häufigkeit, mit der gleiche Verfah-ren angewandt werden, widerlegt [8, 9].

 

Dass EbM nur aus dem Elfenbeinturm oder vom grünen Tisch aus möglich wäre, wird durch Audits an der Front der klinischen Medizin widerlegt, wenn Ärzte-Teams zumindest in den Bereichen Innere Medizin, Psychiatrie, Allgemein-medizin und Chirurgie (P. McCulloch, persönliche Mitteilung) Evidenz-basierte Krankenversorgung für die große Mehr-heit ihrer Patienten praktizieren [10-12]. Solche Studien zeigen, dass auch vielbeschäftige Kliniker, die ihre knappe Fort-bildungszeit zum selektiven, effizienten und patientenbezogenen Suchen, Bewerten und Anwenden der besten verfü-gbaren Evidenz nutzen, EbM durchaus praktizieren können.

 

"Ärzte, die Kochbuchmedizin befürchten, werden mit den Advokaten der EbM auf den Barrikaden stehen."

 

EbM ist keine Kochbuchmedizin. Weil es eines "Bottom-up"-Ansatzes bedarf, der die beste verfügbare externe Evidenz mit individueller klinischer Expertise und Patientenpräferenzen verbindet, ist das Konzept nicht mit dem sklavischen Befolgen eines "Kochrezeptes" zur Patientenbehandlung vereinbar. Externe klinische Evidenz kann individuelle klinische Erfahrung zwar ergänzen, aber niemals ersetzen. Es ist gerade diese individuelle Expertise, die entscheidet, ob die externe Evidenz überhaupt auf den einzelnen Patienten anwendbar ist und, wenn das zutrifft, wie sie in die Entschei-dung integriert werden kann. In gleicher Weise muss jede Praxisleitlinie dahingehend überprüft werden, ob und wie sie den klinischen Zustand des Patienten, seine Lage und seine Präferenzen berücksichtigt. Kliniker, die eine Kochbuch-medizin fürchten, werden sich jedenfalls mit den Advokaten der EbM auf den Barrikaden wiederfinden.

 

Manche fürchten auch, dass die EbM von Einkäufern von Gesundheitsleistungen und von Managern "gekidnappt" wird, um die Kosten der Krankenversorgung zu reduzieren. Das wäre nicht nur ein Missbrauch des Konzeptes, sondern auch ein fundamentales Missverständnis der finanziellen Konsequenzen: Ärzte, die EbM praktizieren, werden die effektivsten Verfahren identifizieren und anwenden, um die Lebensqualität und -dauer der Patienten zu maximieren; das könnte zu einer Erhöhung statt einer Reduktion der Kosten führen.

 

EbM ist auch nicht auf randomisierte, kontrollierte Studien und Metaanalysen begrenzt. Sie beinhaltet die Suche nach der jeweils besten wissenschaftlichen Evidenz zur Beantwortung der klinischen Fragestellung: Um etwas über die Ge-nauigkeit eines diagnostischen Verfahrens zu erfahren, benötigt man gut durchgeführte Querschnittsstudien von Patienten, bei denen die gesuchte Krankheit klinisch vermutet wird - keine kontrollierte Studie. Für eine prognostische Fragestellung benötigen wir methodisch einwandfreie Follow-up-Studien von Patienten, die in einem einheitlichen, frühen Stadium ihrer Krankheit in die Studie aufgenommen wurden. Und manchmal finden wir die benötigte Evidenz in Grundlagendisziplinen wie Genetik oder Immunologie.

 

Insbesondere bei der Frage nach Therapiemethoden sollten wir jedoch nicht-experimentelle Ansätze vermeiden, da diese häufig zu falsch-positiven Schlüssen hinsichtlich der Wirksamkeit von Maßnahmen kommen. Da randomisierte, kontrollierte klinische Studien und besonders systematische Übersichten dieser Studien uns mit höherer Wahrschein-lichkeit korrekt informieren und falsche Schlussfolgerungen weniger wahrscheinlich sind, wurden sie zum "Goldstan-dard" für die Beantwortung der Frage, ob Therapiemaßnahmen mehr nützen als schaden. Allerdings sind für manche Fragestellungen keine kontrollierten Studien notwendig (etwa erfolgreiche Interventionen bei sonst fatalen Konditio-nen), oder es bleibt keine Zeit für klinische Studien. Falls keine kontrollierte Studie für die besondere Situation unseres Patienten durchgeführt wurde, müssen wir die nächstbeste externe Evidenz finden und berücksichtigen.

 

"Die Evolution der EbM wird noch fortschreiten."

 

Trotz ihrer historischen Wurzeln bleibt die Evidenz-basierte Medizin eine junge Disziplin, deren positive Wirkungen gerade erst nachgewiesen werden und die sich weiterentwickelt [13, 14]. Diese Evolution wird noch zunehmen, wenn Aus-, Fort- und Weiterbildungsprogramme die EbM aufnehmen und an die Bedürfnisse der Lernenden anpassen. Diese Programme und ihre Evaluationen werden das Bewusstsein und Verständnis dessen erhöhen, was unter Evidenz-basierter Medizin zu verstehen ist und was nicht.

 

Literatur

 

1. British Medical Association: Report of the working party on medical education. British Medical Association, London 1995.

2. Standing Committee on Postgraduate Medical and Dental Education: Creating a better learning environment in hospitals: 1. Teaching hospital doctors and dentists to teach. SCOPME, London 1994.

3. General Medical Council: Education Committee Report. General Medical Council, London 1994.

4. Evidence-Based Medicine, eine gemeinsame Publikation des American College of Physicians und der BMJ-Publishing-Group, wird auch übersetzt und publiziert von RanD in Frankreich, dem Zuckschwerdt-Verlag in Deutschland, und Infomedica in Italien.

5. Grahame-Smith, D.: Evidence-based medicine: Socratic dissent. Brit. med. J. 310 (1995) 1126-1127.

6. Evidence-based medicine, in its place (editorial). Lancet 346 (1995) 785.

7. Evidence-based medicine (Leserbriefe). Lancet 346 (1995) 1171-1172.

8. Weatherall D.J.: The inhumanity of medicine. Brit. med. J. 308 (1994) 1671-1672.

9. House of Commons Health Committee. Priority setting in the NHS: purchasing. First report sessions 1994-95. HMSO, London 1995, (HC 134-1.)

10. Ellis J. et al.: In-patient general medicine is evidence-based. Lancet 346 (1995) 407-410.

11. Geddes J.R. et al.: In-patient psychiatric care is evidence-based. Proceedings of the Royal College of Psychiatrists Winter Meeting, Stratford/UK, January 23-25, 1996.

12. Gill P. et al.: Evidence-based general practice: a retrospective study of interventions in one training practice. Brit. med. J. 312 (1996) 819-821.

13. Bennett, K.J. et al.: A controlled trial of teaching critical appraisal of the clinical literature to medical students. J. Amer. med. Ass. 257 (1987) 2451-2454.

14. Shin J.H. et al.: Effect of problem-based, self-directed undergraduate education on life-long learning. Can. med Ass. J. 148 (1993) 969-976.

 

Quelle: (Münch. med. Wschr. 139 (1997) 644-645)

 

Autoren: D.L. Sackett, Oxford/England; W.M.C. Rosenberg, Oxford/England; J.A.M. Gray, Milton Keynes/England; R.B. Haynes, Hamilton/Kanada; W.S. Richardson, Rochester/USA.

 

Übersetzung: Dr. med., M.S.P Matthias Perleth

 

Dieser Beitrag ist eine ergänzte, überarbeitete Version eines Editorials, das im Januar 1996 im British Medical Journal erschienen ist (Evidence-based medicine: What it is and what it isn't. Brit. med. J. 312 [1996] 71-72). Das Editorial ist in ähnlicher Form bereits in anderen Zeitschriften erschienen. Der Abdruck erfolgt mit Genehmigung der Herausgeber.

 

Münch. med. Wschr. 139 (1997) Nr. 44 © MMV Medizin Verlag GmbH München, München 1997

 

https://www.cochrane.de/sackett-artikel

 


 

Evidenzbasierte Medizin in der Praxis: Gedanken eines Patienten

 

 

Das Leben ist kurz,

die Kunst ist lang,

die Gelegenheit ist flüchtig,

das Experiment ist gefährlich,

das Urteil ist schwierig.

 

Hippokrates

 

Natura sanat, medicus curat.

 

Paracelsus

 

 

Der Ausdruck "Evidenzbasierte Medizin" ist für ältere Patienten etwas irreführend. Denn wenn sie sich die Frage stellen, welche Evidenzen einer ärztlichen Diagnose, Prognose und Therapie zugrundeliegen, dachten sie bis zum Ende des 20. Jahrhunderts an verschiedene Methoden der ärztlichen Untersuchung ihrer Patienten, mit denen sie den aktuellen Zu-stand und das gesundheitliche Befinden ihrer Patienten persönlich erkundeten.

 

Um sich ein Bild vom allgemeinen Befinden ihrer Patienten zu machen, fragten sie nach akuten Schmerzen und anderen Beschwerden, nach ihrer Belastbarkeit in Arbeit und Familie, nach besonderen physischen und seelischen Belastungen und Sorgen, nach eventuellen Problemen mit ihrem Schlaf und ihrer Verdauuung, nach eventuellen Problemen mit ihren Augen und Ohren, nach ihrem Appetit und nach ihrem Umgang mit weniger gesunden Vorlieben, wie Alkoholkonsum, Rauchen und schwere Mahlzeiten, nach ihrem Liebesleben und ihrer Ehe, nach ihren Kindern und dem Rest der Familie.

 

Dann untersuchten sie ihre Patienten, indem sie sie genauer anschauten, ihre Haltung, ihren Gang und ihren Teint zur Kenntnis nahmen, sich eventuell ihre Zunge ansahen, ihren Bauch abtasteten, und sich eventuell auch ihre Fingernägel und ihre Hände anschauten. In manchen Fällen nahmen sie etwas Blut ab für eine Laboruntersuchung. Urinproben

und Stuhlgang kamen bei bestimmten Beschwerden hinzu. Je nach vorläufiger Verdachtsdiagnose wurde auch ein EKG oder eine Rötgenaufnahme gemacht oder angeordnet.

 

Welche Evidenzen einer ärztlichen Diagnose, Prognose und Therapie zugrundeliegen, hing also einerseits von dem ärztlichen Gespräch ab, in dem Ärzte sich ein Bild vom jeweiligen gesamten Zustand und Befinden ihrer Patienten machten und andererseits von den unmittelbaren Beobachtungen von körperlichen Anzeichen und Symptomen, die

sie aufgrund iher langjährigen Ausbildung und Erfahrung zu deuten und zu beurteilen verstanden. Es mag vielleicht etwas  nostalgisch anmuten, wenn man bei dem Ausdruck "evidenzbasierte Medizin" immer noch "an diese guten

alten Zeiten" denkt, als sich Ärzte noch die Zeit für solche ärztlichen Untersuchungen nehmen konnten und als sie

ihre Patienten und deren Familien noch für viele Jahre kannten.

 

Was seit ca. 20 bis 30 Jahren jedoch unter "evidenzbasierter Medizin" im Unterschied zur "Erfahrungsmedizin" oder "Naturheilkunde" verstanden wird, ist etwas ganz Anderes. Im Großen und Ganzen geht es um die Absicherung und Bewertung ärztlicher Diagnosen, Prognosen und Therapien durch wissenschaftliche Studien, um die eventuellen Placebowirkungen bestimmter Überzeugungen und Einstellungen, Scheinmedikamente und Scheintherapien auszu-schließen. Es geht um zuverlässige  Diagnosen und Prognosen, die den wahrnehmbaren und beobachtbaren Realitäten angemessen sind, sowie um die nachweisbare Wirksamkeit von Medikationen, Präparaten und Therapien.

 

Allerdings geschieht dies nicht mehr aufgrund einer direkten und gründlichen Anamnese der individuellen Patienten, sondern durch die indirekte, aber auch gründliche Absicherung durch allgemein geltende Richtlinien für bestimmte

Fälle gleichen Typs, die auf meizinischen und pharmazeutischen Studien sowie auf vergleichenden Metastudien über eine Auswahl von Studien beruhen. Der Schwerpunkt liegt also nicht mehr auf dem Einzelfall und der ärztlichen Unter-suchung des einzelnen Patienten in seiner konkreten und unwiederholbaren Situation im Zusammenhang seiner bis-herigen Lebensgeschichte, seiner Erwartungen und Zukunftspläne, sondern auf dem, was in den Einzelfällen einer bestimmten Art zu tun und zu unterlassen ist. Das erste führt zum ärztlichen Rat an seine individuellen Patienten, das zweite nur zur Empfehlung im gegebenen Fall eines bestimmten Typs nach den aktuellen Richtlinien und auf dem neuesten Stand der medizinischen, pharmazeutischen und therapeutischen Forschungen. 

 

Heilpraktiker der sog. Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde halten sich oft zugute, dass sie anders als die sog. Schul-mediziner immer noch solche ausführlicheren Gespräche und Untersuchungen anbieten. Ansonsten befinden sie sich eher in der Defensive einer Minderheit, die die Bedürfnisse der Patienten nach solchen Behandlungsweisen und Zu-wendungen eher befriedigen (wollen und können). Allerdings kommen dabei bisweilen auch esoterische, irrationale

und spekulative Überzeugungen ins Spiel, die sich nicht empirisch überprüfen lassen, sowie fragwürdige und riskante Behandlungsweisen, die nicht hinreichend durch Doppeltblindversuche getestet wurden und sich oft auch gar nicht einmal auf diese Weise testen lassen.

 

Der defensive Slogan "Wer heilt, hat recht", den vor allem Heilpraktiker der sog. Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde schätzen und verwenden, um für ihr heilpraktisches Denken und Urteilen, Entscheiden und Handeln zu werben, führt jedoch in die Irre. Zwar scheint der mutmaßliche Erfolg einer bestimmten Behandlung zunächst auch für diese Behand-lungsweise zu sprechen. Da jedoch alle therapeutischen Maßnahmen ebenso wie alle Krankheitsursachen von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, ist immer wieder notorisch unklar, wer oder was dabei auf welche Weise gewirkt hat.

 

Waren es die Selbstheilungskräfte der Patienten? War es die vertrauensvolle Beziehung zwischen Arzt oder Ärztin, Heilpraktiker und Heilpraktikerin und ihren  jeweiligen Patienten? Waren es die richtigen Annahmen und Entschei-dungen der erfahrenen und kompetenten Ärzte bzw. Heilpraktiker? War es die Unterstützung der Patienten durch Familie und Freunde? Waren es die Medikamente mit ihren spezifischen Inhaltsstoffen oder eher Placeboeffekte im untrennbaren Zusammenhang der therapeutischen Beziehung?

 

Aufgrund dieser vielen Ungewißheiten ist es sicher nicht zulässig, von einem bestimmten mutmaßlichen Erfolg im Einzelfall auf die Relevanz und Wirksamkeit der Behandler und ihrer Behandlungsweise, der Diäten und Rezepte, Medikationen und Methoden zu schließen. Aber das eigentliche Problem des beliebten Slogans "Wer heilt, hat recht" liegt gerade darin, dass es meistens gar nicht klar ist, ob sich bestimmte ärztliche oder heilpraktische Behandlungen

mit Fug und Recht durch Denkweisen und Urteile, Entscheidungen und Behandlungen erklären und verstehen lassen, die wirklich heilsam waren, d.h. die zumindest lindernd gewirkt haben oder natürliche Selbstheilungsprozesse angeregt, gefördert oder unterstützt haben. Solange aber die zugrundeliegenden Kausalitäten ungeklärt sind und bleiben, kann dann auch von einem aktiven und absichtsvollen "Heilen" noch gar keine Rede sein. Dann aber auch nicht davon, Recht (gehabt) zu haben.

 

Außerdem ist die ganze Annahme von Ärzten, Heilpraktikern oder Therapeuten ihre Patienten "geheilt" zu haben, auf eine bedenkliche und oft sogar gefährliche Art und Weise prätentiös, unkritisch und tendenziell narzisstisch. Meistens ist sie jedoch einfach nur geschäftstüchtig und unseriös. Wer nämlich seinen Patienten suggeriert, sie "heilen" zu können, hat bereits seine kritische Selbstdistanz und sein epistemisches und moralisches Gewissen, nach bestem Wissen und Gewissen vorzugehen, ausgeschaltet. Dazu führen vor allem die persönlichen Neigungen zu esoterischen und gnosti-schen Menschenbildern und Weltanschauungen, wie sie vor allem im New Age, im östlichen Mystizismus, in der Theo-sophie und Anthroposophie sowie in der pseudo-christlichen Neugeistbewegung oder in neuheidnischen oder natur-religiösen Kulten gepflegt werden, um von repressiven Psychokulten oder gar von satanischen Kulten erst gar nicht zu sprechen. Aber auch pfingstlerische und charismatische Bewegungen in manchen nominell christlichen Freikirchen bieten solche suggestiven Heilungsgottesdienste oder Heilungsgebete an.

 

Diese notorische Unsicherheiten der angemessenen Einschätzung und Abwägung der Risiken und Nebenwirkungen sowie der Relevanz und Wirksamkeit in Einzelfällen gilt jedoch nicht nur für die Außenseitermethoden der Heilpraktiker der sog. Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde, sondern auch für die weltweit anerkannten Methoden der westlich geprägten und naturwissenschaftlich ausgebildeten Schulmediziner. Daher kommt es darauf an, welche Art der tätigen Sorge für die Gesundheit der Patienten, die schulmedizinische und naturwissenschaftliche oder aber die heilpraktische und naturheilkundliche besser darin ist, die Risiken und schädlichen Nebenwirkungen zu minimieren und die Chancen und nützlichen Hauptwirkungen zur Wiederherstellung zu maximieren. Denn auf Erfahrung berufen sich beide, obwohl sie beide etwas Verschiedenes damit meinen und darunter verstehen.

 

Schulmediziner verstehen unter Erfahrung die empirischen Beobachtungen und wissenschaftliche Untersuchungen einer Reihe von Patienten eines bestimmten Typs mit ein und derselben Diagnose einer bestimmten Krankheitseinheit (z.B. einer Ateriosklerose in den Herzkranzgefäßen), um zu allgemeinen Hypothesen über die mutmaßlichen Kausal-zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen zu gelangen. Solche multifaktoriellen Zusammenhänge zwischen Ursachen und Wirkungen werden dabei in neuerer Zeit diagnostisch als eine Reihe von einzeln notwendigen und zu-sammen hinreichenden Bedingungen (Faktoren) verstanden, die prognostisch das wahrscheinliche Eintreten von bestimmten Ereignissen oder Prozessen (z.B. eines Herzinfarktes oder von Herzrythmusstörungen) einschätzen lassen.

 

Klinische Studien basieren in diesem Sinne auf möglichst objektiver und statistisch gültiger Erfahrung im Sinne klini-scher medizinischer Forschung nach bestimmten methodischen Standards und routineartigen Vorgehensweisen, die

die Wahrscheinlichkeit von persönlichen Neigungen, etwas zu erwarten oder zu glauben (biases), und von Vorurteilen sowie von Fehlinterpretationen und Fehlschlüssen minimieren sollen. Solche klinischen Studien sollen in der Praxis den behandelnden Ärzten als theoretische Handlungsgrundlage und praktische Orientierung dienen. Da jedoch weder Allgemein-Ärzte noch Fachärzte die große Menge an neuen Studien in ihrem jeweiligen Fachgebiet überschauen können, werden seit einiger Zeit auch Metastudien erstellt, die eine Auswahl an relevanten und aussagekräftigen Studien vergleichen und auswerten.

 

Heilpraktiker verstehen unter Erfahrung hingegen eher ihre subjektiven Wahrnehmungen und erfahrungsbedingten Intuitionen im persönlichen Umgang mit ihren Patienten, die mit dem Kennenlernen der individuellen Patienten durch eine gesprächsartige Anamnese beginnt, durch die sie sich ein erstes Bild von den einzelnen Patienten, ihren konkreten Beschwerden und ihrem gesamten Gesundheitszustand machen können. Insofern erinnert ihr praktisches Verständnis von Erfahrung eher an die früheren Methoden der Erkundung der Patienten durch unmittelbare Gestaltwahrnehmung und das Sammeln von leiblichen Anzeichen und einzelnen Symptomen im Sinne dessen, was ärztliche Evidenz bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gewesen ist. 

 

In der sog. Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde spielen Studien keine vergleichbare Rolle, denn man folgt eher bekannten Vorbildern, verehrten Lehrern und überlieferten Autoritäten oder Gründerfiguren, wie Samuel Hahnemann oder Rudolf Steiner. Aber aufgrund der massiven Kritik von Seiten der naturwissenschaftlich fundierten Schulmedizin an einigen beliebten Methoden, tradierten Verfahren und typischen Medikationen der Erfahrungsmedizin und Naturheil-kunde, wie z.B. der Homöopathie oder der Bachblütentherapie, haben auch die Verbände der Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde damit begonnen, gewisse Untersuchungen zum Nachweis ihrer Wirksamkeit anzufertigen, wenn auch nicht ganz nach den in der naturwissenschaftlichen Schulmedizin bewährten Methoden und kritischen Standards.

 

Ich habe mich hier bewusst eher auf den Vergleich der Fähigkeiten zur aktiven Wiederherstellung bzw. zur begleitenden Wiedergewinnung der Gesundheit im eingetretenen Krankheitsfall konzentriert. Denn gewisse Ratschläge und Empfeh-lungen zur Gesundheitsprävention geben beide, sowohl Heilpraktiker der sog. Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde als auch sog. Schulmediziner mit Ernährungswissenschaftlern im Hintergrund. Die größte Übereinstimmung gibt es vermutlich bei der Empfehlung von möglichst viel Bewegung an der frischen Luft,  die Vermeidung von belastendem Stress durch Arbeitsplatzverlust, schmerzhafte Scheidungen und häufige Umzüge mit Wohnortwechsel sowie die Pflege von erfreulichen und stärkenden freund(schaft)lichen Beziehungen. Die größten Unterschiede gibt es vermutlich bei den Diäten und konkreten Empfehlungen dessen, was eine gesunde Ernährung sei, wobei die Fülle der Diäten kaum noch überschaubar und ein riesengroßes Geschäft ist.

 

Abschließend scheint mir der Ausdruck "Evidenzbasierte Medizin" etwas irreführend zu sein, weil er die früheren Erwartungen älterer Patienten daran weckt, dass Ärzte ihre Patienten so behandeln, dass einer zeitaufwendigen ärztlichen Anamnese die Bekanntschaft mit ihrer derzeitigen Situation im Rahmen ihrer persönlichen Lebensgeschichte folgt, sodass Diagnose, Prognose und Therapie einem ärztlichen Wissen entspringen, das durch unmittelbare Erfahrung und leibliche Untersuchung gewonnen wurde. Das scheint jedoch immer weniger der Fall zu sein, weil gar keine Zeit mehr vorhanden ist, um so vorgehen zu können. Heutige Ärzte schauen doch weitaus länger auf ihre Computer-bildschirme mit den Patientenakten, den erhobenen Daten und Untersuchungswerten und mit den statistischen Informationen anstatt auf die äußere leibliche Erscheinung ihrer Patienten. Die Orientierung an Richt-linien, Studien

und Metastudien verdrängt zusätzlich die langjährige interpersonale Beziehung zwischen Ärzten und ihren Patienten und damit die erfahrungsbedingten Kenntnisse über individuelle Patienten in ihren konkreten Lebenslagen. Sie werden nur noch als mehr oder weniger typische Krankheitsfälle angesehen und weitgehend schematisch behandelt.

 

Passender wäre es vielleicht von "Richtlinien-Medizin", "Studienbasierter Medizin" oder "Nachweisbasierter Medizin"

zu sprechen. Aber es könnte sein, dass sie in der Praxis eher den Ärzten dazu dient, sich in sicheren Bahnen zu bewe-gen, um im Falle von allzu menschlichen Kunstfehlern oder kaum immer auszuschließenden Irrtümern rechtlich auf

der sicheren Seite zu sein, weil man dann nachweisen kann, sich an die Richtlinien und die neueren Studien gehalten

zu haben. Aber dient sie auch den Patienten?    UWD - Oktober 2022

 


 

Cochrane Deutschland repräsentiert das internationale Forschungsnetzwerk Cochrane, das durch systematische Übersichtsarbeiten Grundlagen für die evidenzbasierte Gesundheitsversorgung schafft. https://www.cochrane.de/

 

EbM-Netzwerk: Das EbM-Netzwerk vereint Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Fächer, Professionen, Sektoren und Organisationen. Hier ist der Raum für unabhängige, kritisch-wissenschaftliche Diskussionen zu allen Fragen im Zusammenhang mit einer evidenzbasierten gesundheitlichen Versorgung.  https://www.ebm-netzwerk.de/de

 

Stiftung Gesundheitswissen: Wir bieten Ihnen Gesundheitsinformationen, die folgende Kriterien erfüllen:

- unabhängig - evidenzbasiert - werbefrei - gemeinnützig - https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/