Humanmedizin und Menschenbild


 

 

Humanmedizin und Menschenbild. Philosophische und historische Anmerkungen

 

 

Laplace’s (wrong) view that all matters of our experience

can ultimately be explained in terms of physics and chemistry

prevails today in science and beyond science.

It is the current scientific view of the universe.

 

It is absurd to claim that
the sentience of animals and the experience of consciousness in general

can be accounted for by the laws of physics and chemistry.

 

Life transcends the domain of physics and chemistry.

 

Michael Polanyi

 

 

Hinter den auch in Deutschland und Europa immer noch anhaltenden Kontroversen zwischen der naturwissen-schaftlich fundierten und evidenzbasierten "Schulmedizin" und der alternativen und intuitiven "Erfahrungs-medizin" oder "Naturheilkunde", stehen nicht nur verschiedene methodische Ansätze und theoretische Konzepte, sondern meistens auch verschiedene Menschenbilder. Daher handelt es sich um ein Thema von öffentlichem Interesse, bei dem eine philosophische Aufklärung und eine historische Erinnerung über weit verbreitete Vor-urteile und Mißverständnisse hilfreich sein kann.

 

1. Ähnlichkeiten und Unterschiede

 

Die sog. Schulmedizin schöpft ihr medizinisches Wissen und therapeutisches Können aus wissenschaftlichen Studien, die sich nicht nur an den subjektiven Überzeugungen und persönlichen Intuitionen der involvierten Ärzte und Patienten orientieren, sondern an den objektiven Erkenntnissen der medizinisch Forschenden. Zwar haben auch medizinisch Forschende anfangs subjektive Überzeugungen und persönliche Intuitionen, aber diese werden im Laufe der Forschung gerade kritisch infrage gestellt und methodisch geprüft, um sachliche Fehler zu minimie-ren, da sie eine mögliche Fehlerquelle für therapeutische Behandlungen darstellen. Das Endziel der medizinischen Forschung sind objektiv nachweisbare und methodisch belastbare Resultate, die eine Schwächung der Zuver-lässigkeit der Resultate aufgrund von subjektiven Neigungen (bias) und persönlichen Vorurteilen (prejudice) un-wahrscheinlicher machen sollen.

 

Die Schulmedizin ist eine der größten Errungenschaften der Epoche der Aufklärung mit ihrem berechtigten Vertrauen in die kumulativen Entdeckungen und rationalen Methoden der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Auf diese Errungenschaften wieder zu verzichten, wäre sicherlich kein Gewinn, sondern ein schwerer Verlust, denn die wissenschaftlichen Fortschritte und therapeutischen Erfolge der Schulmedizin sind kaum ernsthaft zu bezweifeln, wenn man etwas davon versteht und nicht aufgrund von esoterischen, religiösen und romantischen Vorstellungen irrationale Vorurteile gegen sie hegt. Aber wie alles menschliche Handeln und wie jede menschliche Technik erzeugt natürlich auch die Schulmedizin bestimmte Risiken und Nebenwirkungen, die zwar nicht direkt intendiert werden, die jedoch bei pragmatischen Risikoabwägungen und ethischen Folgeneinschätzungen in Betracht gezogen werden sollten.

 

Viele der Vorurteile gegen die wissenschaftliche Schulmedizin gehen auf das relativ große Gefälle zwischen dem wissenschaftlichen Wissen und ärztlichen Können der Ärzte und der Unwissenheit und Ohnmacht der Pa-tienten zurück. Hinzu kommen natürlich immer wieder auch eigene Erfahrungen hinzu sowie mediale Berichte über spektakuläre Fälle von ärztlichem Versagen, von therapeutischen Kunstfehlern, von den profitorientierten Machenschaften prominenter Ärzte und mächtiger Pharmakonzerne und von Fehlern bei der Regulierung der medizinisch-therapeutischen Märkte durch die staatlichen Kontrollbehörden. Aber all das gibt es bei der Erfah-rungsmedizin und Naturheilkunde ebenfalls und, wenn man es einmal ehrlich und ausgewogen einschätzt, mindestens im gleichen Ausmaß, wenn nicht sogar noch viel häufiger und noch viel mehr.

 

Die ärztliche Erfahrung und Intuition spielt bei den sog. Schulmedizinern zwar auch eine gewisse Rolle, aber erst in der therapeutischen Beziehung zwischen Ärzten und Patienten, aber nicht bei der Erfindung und Entwick-lung, kritischen Prüfung, Zulassung und Vermarktung von Medikamenten und therapeutischen Verfahren. Die Anhänger der alterna-tiven und intuitiven "Erfahrungsmedizin" oder "Naturheilkunde" neigen dazu, das zu ver-gessen, wenn sie behaupten, dass ärztliche Erfahrung und intuition in der Schulmedizin gar keine Rolle spielen würden und darin einen wichtigen Makel erkennen wollen.

 

Die eigentlichen und wichtigen Unterschiede zwischen der naturwissenschaftlichen "Schulmedizin" und der traditionellen "Erfahrungsmedizin" und "Naturheilkunde" liegen also nicht so sehr in der Arzt-Patienten-Bezie-hung und ihrer Qualität aufgrund von ärztlicher Ausbildung in der Theorie und therapeutischer Anwendung mit hinreichendem Zeitaufwand in der Praxis als vielmehr in der vorherigen und unabhängigen kritischen Püfung der Medikamente und therapeutischen Methoden: Während die moderne "Schulmedizin" ihre Medikamente und therapeutischen Methoden durch aufwendige empirische Versuchsreihen unter standardisierten Versuchs-bedingungen und Doppelblindversuchen testet, um bloße Placebo-Effekte und ähnliche Verzerrungen auszu-schließen, verlässt sich die traditionelle "Erfahrungsmedizin" und "Naturheilkunde" nur auf die ungeprüfte Autorität alter naturheilkundlicher Traditionen, wie z.B. das Kneippen und Schröpfen, Großmutters Hausmittel-chen und Tantes Kräutergarten, aber auch Hahnemanns Homöopathie und Steiners anthroposophische Medizin, das indische Ayurveda oder die sog. Traditionelle Chinesische Medinzin (TCM). TCM und Ayurveda sind hierzu-lande jedoch meistens gar nicht original chinesisch bzw. indisch, sondern speziell für die naturheilkundliche An-wendung und Vermarktung im Westen ausgewählt und aufbereitet.

 

Solche kulturfremden Exportschlager und alten heilkundlichen Dauerbrenner umgibt von jeher eine gewisse

Aura des Exotischen und Geheimnisvollen und verschafft ihnen in gewissen Kreisen von Leuten, die weniger rational und pragmatisch als vielmehr emotional und intuitiv denken und handeln, eine geradezu psycho-magnetische Macht, von der sich viele Patienten gerne anziehen und einlullen lassen, obwohl sie dadurch leichter von geschäftstüchtigen Anbietern manipuliert und getäuscht werden können. Meistens ist dabei jedoch auch ein gerüttelt Maß an "selbstverschuldeter Unmündigkeit" und abergläubischer Selbsttäuschung im Spiel. Denn wenn sie von einer heilkundlichen Anwendung enttäuscht sind, probieren sie sofort die nächste aus. Aber immer schwören sie auf diejenige Methode, die sie gerade neu entdeckt haben. Auf diese Weise bleibt das bunte Karussell der heilkundlichen Methoden am Laufen. Das gelingt vor allem dadurch, dass sie sich wie religiös Auserwählte und kultisch Eingeweihte fühlen, was ihre narzisstischen Bedürfnisse befriedigt, nicht nur von Anderen anerkannt zu sein, sondern etwas Besonderes zu sein.

 

Dass Schulmediziner jedoch zu wenig Zeit haben, ihre Patienten in der Anamnese anzuhören und gründlich kennen zu lernen, liegt weniger an ihren universitären Ausbildungen und naturwissenschaftlich fundierten Theorien, als vielmehr an ihren vorgeschriebenen Berechnungsweisen, die den zeitlichen Aufwand limitieren und den engen Zeittakt diktieren. Denn in Privatpraxen sieht es meistens schon viel besser aus als in kassenärztlichen Praxen. Im Übrigen bringt auch eine zeitlich aufwendigere Anamnese zwar mehr ärztliche Zuwendung zu den Patienten mit gewissen Placeboeffekten, die die Selbstheilungskräfte unterstützen können, garantiert aber keineswegs die Qualität der Medikamente und der Methoden. Die durch ausführlichere Gespräche häufig stärkere emotionale Bindung an die Erfahrungsmediziner und naturheilkundlichen Heilpraktiker kann außerdem die Patenten gerade auch blind und unkritisch machen, gerade wenn sie sich z.B. als Krebspatienten "an den letzten Strohhalm" klammern und ihre eigenen Heilungschancen sowie Chancen und Risiken einer standardi-sierten therapeutischen Maßnahme falsch einschätzen.

 

Aber auch jenseits der Ähnlichkeiten und Unterschiede in der medizinisch-therapeutischen Praxis im Kontext der Arzt-Patienten bzw. Heilpraktiker-Klienten-Beziehung, gibt es wesentliche Unterschiede im Hinblick auf das ganzheitliche bzw. personalistische Menschenbild einerseits und das reduktionistische Menschenbild des zeit-genössischen Naturalis-mus bzw. Szientismus. Aber nicht nur naturheilkundliche Heilpraktiker, sondern auch schulmedizinische Ärzte können ein eher ganzheitliches bzw. personalistisches Menschenbild haben und die reduktionistischen Überzeugungen des ziemlich weit verbreiteten naturalistischen oder szientistischen Welt-

und Menschenbildes ablehnen. Ein ganzheitliches bzw. personalistisches Menschenbild ist daher nicht not-wendigerweise ein Vorzug der "Erfahrungsmedizin" bzw. der "Naturheilkunde", wie oft angenommen wird.

 

2. Das Problem des gelegentlichen Reduktionismus in der Schulmedizin

 

Nicht alle Schulmediziner sind methodische Reduktionisten oder denken selbst reduktionistisch. Naturwissen-schaftlich und evidenzbasiert ausgebildete Schulmediziner können ganz genau so gut wie erfahrungs-medizinische oder naturheilkundliche Heilpraktiker zumindest glauben und vielleicht sogar wissen, dass sich seelische und geistige Einstellungen und Phänomene von Menschen (Psychologie) grundsätzlich nicht auf physiologische und organische Strukturen und Zustände, Prozesse und Ereignisse (Biologie) zurückführen lassen. Ausnahmen wie psychologische Veränderungen oder kognitive Schädigungen durch mechanische oder organi-sche Hirnläsionen (wie z.B. in Folge von Unfällen oder ischämischen Schlaganfällen durch Blutgerinnsel im Gehirn) sind nämlich kein Beweis für die grundsätzliche und allgemeine Reduzierbarkeit von seelischen und geistigen Einstellungen und Phänomene von Menschen (Psychologie) auf physiologische und organische Strukturen und Zustände, Prozesse und Ereignisse (Biologie), sondern nur für deren funktionale Abhängigkeit der seelischen und geistigen Einstellungen und Phänomene von Menschen auf der psychologischen Ebene von der Funktions-tüchtigkeit der physiologischen und organischen Strukturen und Zustände, Prozesse und Ereignisse auf der biologischen Ebene.

 

Außerdem gibt es auch eine Irreduzibilität des Lebendigen als Forschungsfeld der Biologie auf das bloß Materielle als Forschungsgebiet der Physik und Chemie. Denn es gilt erst recht, dass sich physiologische und organische Strukturen und Zustände, Prozesse und Ereignisse (Biologie) nicht auf chemische oder gar physika-lische Strukturen und Zustände, Prozesse und Ereignisse (Physik und Chemie) reduzieren lassen. Denn wie der Chemiker und Philosoph Michael Polanyi immer wieder gezeigt hat, lassen sich noch nicht einmal der mecha-nische Aufbau, die technischen Organisationsprinzipien und der funktionale Zweck, wie z.B. einer mechanischen Uhr, einer mechanischen oder elektrischen Schreibmaschine oder eines elektrischen Telefons auf ihre verwend-eten physikalischen und chemischen Materialie und die in ihnen wirkenden physikalischen und chemischen Naturgesetze zurückführen.

 

Daher hat Polanyi zurecht darauf hingewiesen, dass sich organische Lebewesen wie Pflanzen und Tiere erst recht nicht auf die physikalischen und chemischen Materialien und die in ihnen wirkenden physikalischen und chemischen Naturgesetze reduzieren lassen. Das liegt jedoch nicht an einer nur gefühlten, aber unbekannten und verborgenen Kraft, an einer ominösen "Lebenskraft" (Vis vitalis, Chi oder Kundalini), wie Vitalisten meinten, oder nur an der größeren Komplexität von organischen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren im Vergleich zu diesen einfachen, von Menschen erfundenen, geplanten und gebauten Maschinen.

 

Es liegt vielmehr an der ontologischen Differenz von Form und Stoff bzw. von Funktion und Material. Diese erstmals von Aristoteles formulierte ontologische Differenz ist nämlich noch viel grundlegender als der unter-schiedliche Grad von Komplexität. Denn ob etwas eine Uhr, eine Schreibmaschine oder ein Telefon ist, liegt weder nur an den physikalischen Materialien oder chemischen Stoffen, aus denen diese Geräte gebaut wurden, noch nur an dem Grad der Komplexität ihres Aufbaus und ihrer internen Mechanismen, sondern an der operativen Funktionstüchtigkeit für bestimmte Zwecke, wie normale Smartphones und Personal Computer zeigen, die nicht nur Telephone und Schreibmaschinen sind, sondern auch Uhren, weil sie beide die Uhrzeit anzeigen können.

 

Doch obwohl es die Funktionen und Zwecke und nicht die Materialien und Stoffe sind, die etwas zu bestimmten Geräten wie Uhren, Schreibmaschinen und Telefonen machen, sind noch lange nicht alle beliebigen Materialien und Stoffe dafür geeignet, ein bestimmtes Gerät, wie eine Uhr, eine Schreibmaschine oder ein Telefon zu bauen. Flüssig-keiten und Gase kommen zum Beispiel als Materialien oder Stoffe nicht in Frage; auch nicht alle Arten von Erde, sondern nur bestimmte Metalle und seltene Erden. Doch obwohl es die Funktionen und Zwecke und nicht die Materialien und Stoffe sind, die etwas zu einem bestimmten Gerät wie Uhren, Schreibmaschinen und Telefo-nen machen, könnten diese Geräte kaum aus organischem Materialien und Stoffen statt aus anorganischen Stoffen hergestellt werden.

 

Das Umgekehrte gilt auch: Die beiden Tatsachen, dass sich eine Pflanze, wie z.B. eine Sonnenblume, selbsttätig nach dem Sonnenlicht ausrichten kann, um mehr Licht aufzunehmen, und dass ein empfindungsfähiges Lebe-wesen, wie z.B. ein Frosch, sich selbsttätig zu einem Teich bewegen kann, um dort zu laichen, beschreiben spezi-fisch teleologische Vitalfunktionen dieser Lebewesen, die im untergeordneten Bereich der Physik und Chemie einfach nicht vorkommen. Zwar  können menschliche Ingenieure auch heute schon Maschinen bauen, die sich auch aufgrund von photomechanischen Lichtdetektoren tagsüber nach dem Sonnenlicht ausrichteten, aber nicht um dort ihre Sonnenblumenkerne reifen zu lassen. Zwar können menschliche Ingenieure Roboter bauen, die sich auch aufgrund von elektrochemischen Wasserdetektoren einen Teich in der Nähe finden könnten, aber kaum, um dort mit ihren eigenen Eiern laichen zu können.

 

Das zeigt, dass menschlichen Ingenieuren natürliche Grenzen gesetzt sind, bei dem, was sie von den vielen hochkomplexen Funktionen und Zwecken von natürlich entwickelten organischen Lebewesen nachbauen können. Das liegt jedoch nicht etwa nur an ihrem begrenzten physikalischen, chemischen und biologischen Wissen. Das liegt vor allem an der höheren Komplexität der meisten organischen Lebewesen mit ihren vitalen Funktionen und Zwecken. Das liegt aber noch viel mehr an der Tatsache, dass sich organische Lebewesen grundsätzlich nicht aus anorganischen Materialien oder Stoffen nachbauen lassen und dass selbst nicht einmal alle organischen Materia-lien oder Stoffe aus anorganischen Materialien oder Stoffen hergestellt werden können.

 

Der materialistische und szientistische Reduktionismus ist normalerweise kein methodisches Vorurteil von seriösen naturwissenschaftlich und evidenzbasiert, theoretisch und praktisch ausgebildeten Schulmedizinern, sondern nur von naturalistischen und szientistischen Intellektuellen, die aber eigentlich keine Ahnung von und keine Erfahrung mit echter wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung haben. Daher sollten gerade Schulmediziner ihren anti-reduktionistischen vorwissenschaftlichen Intuitionen mehr vertrauen als den reduktio-nistischen Dogmen und Überzeugungen von materialistischen und szientistischen Ideologen, auch wenn sie als prominente Philosophen gelten und an anerkannten Elite-Universitäten, z.B. in den USA, forschen und lehren.

 

3. Das Problem des gelegentlichen Spiritualismus in der Erfahrungsmedizin 

 

Der spiritualistische Glaube an die angebliche Allmacht des menschlichen Geistes (Spiritualität) entspringt einer überschwänglichen Fantasie, die nicht hinreichend durch persönliche Selbstkritik und wissenschaftliches Denken gezügelt wurde.  Dass Menschen gewohnheitsmäßig durch Einübung und Disziplin ihre seelischen Ein-stellungen und Phänomene (Psychologie) und ihre (psycho-)somatischen (physiologischen und organischen) Strukturen und Zustände, Prozesse und Ereignisse (Biologie) kontrollieren und optimieren können und sollten,

ist ein weit verbreitetes Vorurteil der esoterischen Welt- und Menschenbilder, denen einige, vielleicht sogar viele, aber nicht alle erfahrungsmedizinische oder naturheilkundliche Heilpraktiker anhängen. Der esoterische Glaube an die angeblich heilende Allmacht des Geistes (wie z.B. in der Theosophie und in der Anthroposophie) entspringt -- zumindest aus psychoanalytischer Sicht -- einer Aufrechterhaltung des kindlichen und jugendlichen Narzissmus, der die unvermeidlichen Ohnmachtsgefühle einer realistischen, erwachsenen und reifen Einstellung zu den Gren-zen des eigenen leiblichen, seelischen und geistigen Könnens und insbesondere zur eigenen Vulnerabilität und Sterblichkeit verdrängt.

 

Was "ganzheitliche" Schulmediziner oft etwas modisch und kommerziell als "neue Medizin" anpreisen, scheint mir eher eine Anknüpfung an die ältere Psychosomatik (Viktor von Weizsäcker und Thure von Üexküll) zu sein, die ihre Vorläufer in der noch älteren Tradition der romantischen Medizin hat. Daher die häufige Verbindung von Glaube und Medizin, der Primat des Idiopathischen vor dem Nomothetischen, der Ausgang beim Verstehen der Erkrankung des Einzelnen aus der Lebensgeschichte und Persönlichkeit statt bei der Diagnose und Erklärung des Einzelfalls anhand von allgemeinen Krankheitsbildern und kausalen Erklärungsmustern, die größere Akzeptanz von Placeboeffekten und heilkundlicher Pragmatik statt der methodischen Skepsis hinsichtlich der Frage nach den wissenschaftlich nachweis-baren bzw. wahrscheinlichen kausalen Effekten von wiederholbaren Behandlungs-weisen oder Typen und Dosen von kausal wirksamen Medikamenten.

 

Doch die sog. Schulmedizin hat auch ihre bewährten Vorteile in der leichteren Lehrbarkeit und Erlernbarkeit unabhängig von besonderen Begabungen für ärztliche Gesprächsführung und Intuition, Einfühlung und Empathie. Wenn man in einem größeren Land den durschnittlichen Bedarf der medizinischen Versorgung möglichst vieler Regionen mit Praxen und Kliniken abdecken will und eine möglichst kostengünstige Grundver-sorgung der Bevölkerung erreichen will, dann muss man dafür sorgen, dass auch durchschnittlich gute Ärzte und Ärztinnen ein möglichst zuverlässige Medizin praktizieren können, bei der sie sich im ärztlichen und klinischen Alltag auf evidenzbasierte Studien und bewährte und empfohlene Behandlungsschemata verlassen können. Das kann und konnte die romantische Medizin jedoch noch nie leisten, weswegen auch die Psychosomatik kein Para-digma für die ganze Humanmedizin, sondern vielmehr nur für ein bestimmtes Fachgebiet für bestimmte Krank-heiten mit bekannten und starken psychogenen Faktoren geblieben ist.

 

Außerdem läuft die Psychosomatische Medizin in ihrer verallgemeinerten Form der romantischen Tradition immer Gefahr, menschliches Kranksein zu psychologisieren oder gar zu spiritualisieren und damit schuldhaft

nicht nur auf den  ungesunden Lebenswandel der Patienten zurückzuführen. Das mag in den heidnischen und schamanistischen Heilkundekulturen sowie auch noch in der alttestamentarischen Tradition noch das übliche Vorverständnis gewesen sein, wurde jedoch schon lange vor der Entstehung der modernen wissenschaftlichen Schulmedizin gerade durch die christliche Medizintradition in der Orientierung am Beispiel des Heilungshandelns Jesu überwunden. Das ärztliche Ethos wurzelt im neuzeitlichen Christentum und in der Moderne gerade in einem humanen Ethos der ärztlichen Hilfestellung und Behandlung, das sich von ethisch-moralischen oder gar religiösen Schuldzuweisungen befreit hat.

 

4. Das modische Gereede von der ganzheitlichen Medizin

 

Die beliebten Schlagwörter der ganzheitlichen oder holistischen Medizin werden ebenfalls oft gegen die vorwiegend naturwissenschaftlich und evidenzbasierte Schulmedizin benutzt. Als ein sehr altes, aber vages vorwissenschaftliches Konzept wird es jedoch gerne dazu benutzt, um ganz verschiedene vorwissenschaftliche Denkmuster archaischen oder schamanistischen Ursprunges bis hin zu verschiedenen Vorstellungen der roman-tischen Medizin im Umlauf zu erhalten.

 

Der gemeinsame Kerngedanke ist dabei die (an und für sich genommen) zutreffende Idee, dass jeder Mensch

in seinem Lebenskontext als eine individuelle Einheit oder eben als eine Ganzheit aus Leib, Seele und Geist aufgefasst werden kann. Diese Idee sollte jedoch muss nicht so verstanden werden, dass es sich dabei um zwei oder drei verschiedene Substanzen handelt. Selbst Renė Descartes, der einen ontologischen Dualismus vertreten hat, der davon ausging, dass es zwei ganz verschiedene Arten von Substanzen in der Welt gibt, nämlich ausge-dehnte physische Entitäten (res extensa) und unausgedehnte psychische Entitäten (res cogitans), nahm an, dass Menschen intelligente Lebewesen sind, in denen Körperliches (corpus), Seelisches (anima) und Geistiges (mens)

auf eine ganz besondere Art und Weise "vermischt" sind, also irgend eine Art von Einheit bilden. Er hat also nicht gedacht, dass es sich wirklich um drei verschiedene Elemente oder Stoffe handelt.

 

Diese Idee einer Ganzheit aus Leib, Seele und Geist dient jedoch oft der persönlichen Distanzierung von einer rational und methodisch vorgehenden Schulmedizin. Dabei wird wie schon in der früheren romantischen Medizin nicht nur die je eigene persönliche Willkür gegen die selbstkritische Autorität der modernen Schulmedizin stark gemacht, sondern auch gegen das rationale und kritische Denken überhaupt, wie z.B. auch in den Naturwissen-schaften und Sozialwissenschaften, in der Ökonomie und Jurisprudenz oder auch in der Philosophie und Theo-logie. Die persönlichen Zufälle spontaner Einfälle und gewohnter Vorurteile verbinden sich mit der Betonung der Subjektivität und Individualität, der spontanen Emotionalität und der angeblich inkommensurablen Relativität der Kulturen und Mentalitäten, die keine  universale Vernunft zulässt. Diese persönliche Selbstbehauptung ersetzt dabei jedoch nur allzu oft die geistige Offenheit und die persönliche Bereitschaft zur Selbstkritik und zu neuen Lernprozessen.

 

Dabei ist es jedoch auch vielen Schulmedizinern gar nicht fremd, ihre Patienten als einheitliche Personen auch in vielfältigen Beziehungen und in verschiedenen lebensweltlichen Zusammenhängen zu verstehen. Auch be-trachten sie doch ihre Patienten nicht immer nur als objektiv erforschbare Organismen oder bloß als physische Körper, sondern auch als Menschen mit einer individuellen leiblichen Persönlichkeit (Leib) mit emotionalen, motivationalen und kognitiven Fähigkeiten (Seele) sowie mit einer bestimmten Mentalität (Geist). Daher können auch wissenschaftlich ausgebildete Schulmediziner bei ihrer ärztlichen Behandlung in Diagnose, Therapie und Prognose die Einheit und die Interaktion von Körper, Seele und Geist berücksichtigen. Dabei können sie zu-mindest im Falle einer langjährigen Vertrautheit zwischen Arzt und Patient die Ideale und Wertvorstellungen ihrer Patienten, ihre Lebensweise (Arbeit, Bewegung, Ernährung und Stress), ihre soziale Lebenswelt mit ihren wichti-gen Beziehungen (Partner, Familie, Beruf, Mitmenschen), ihre natürliche Umwelt (Wasser, Boden, Luft, Klima), ihre kulturelle Lebenswelt (Stadt, Wohnraum, Arbeitsplatz, Technik) und sogar ihre jeweilige Spiritualität (Glaube, Lebensphilosophie, Religion, Konfession) berücksichtigen.

 

Auch für die rationale und methodische Schulmedizin sind Menschen nach ihrem alten, ursprünglich aristo-telischen oder später kantianischen Verständnis immer mehr als die Summe ihrer Teile, Glieder oder Organe und bilden erst durch deren funktionales und kontinuierliches Zusammenspiel ein lebendes Ganzes. Dabei ist Konti-nuität nicht nur räumlich und zeitlich zu verstehen, sondern als ein stetiger, lückenloser kausaler und teleo-logischer Zusammenhang. Der gesunde Organismus ist übrigens auch in der hippokratischen Tradition der europäischen Medizin eine Ganzheit, deren Teile keinen Bruch an Kontinuität aufweisen. Die jeweilige Krankheit zeigt sich danach in körperlichen oder seelischen Wunden als Folge einer physischen oder seelischen Verletzung dieser organischen Kontinuität als einer Aufhebung oder zumindest Störung der Einheit in der Vielheit.

 

Dass Krankheiten seelischen und geistigen Konflikten entspringen können, ist eine seit der Antike bekannte und verbreitete intuitive Vorstellung, die zum Erfahrungskonzept einer Störung oder Unterbrechung der funktionalen Kontinuität dazu gehört. In diesem Zusammenhang werden oft vorwissenschaftliche Vorstellungen bemüht, dass menschliche Gesundheit eigentlich eine leiblich-seelische Harmonie sei und dass menschliche Krankheit nur eine Folge von oder ein Andauern von leiblich-seelischer Disharmonie aufgrund von emotionalen oder kognitiven Konflikten. Dem menschlichen Geist kommt dabei ähnlich wie bei David Hume nur eine dienende Fuktion zu und zwar zur Selbsterhaltung des Menschen und zur Erhaltung der Gesundheit als einer harmonischen Einheit von Leib und Seele.

 

Solche ästhetisierenden Vorstellungen kamen ursprünglich aus dem Bereich des indischen Yoga und Ayurveda, waren aber auch schon in der griechischen und römischen Antike bekannt. Dabei wird der einzelne Mensch jedoch nicht nur nach dem modernen, westlichen und wissenschaftlichen Verständnis, sondern auch nach dem älteren jüdischem, christlichen und islamischen Verständnis allzu sehr als eine in sich eingeschlossene und beziehungslose Monade verstanden bzw. als ein sich selbst genügender Mikrokosmos, der eher durch den symbolischen Makrokosmos der Astrologie oder eines polytheistischen Pantheons bestimmt wird als durch seine natürliche, kulturelle und soziale Lebenswelt. Andere Faktoren, die ebenfalls die Gesundheit schädigen können, wie Gene und Familie, Traumatisierungen in der Kindheit und Jugend, Alter und Arbeit, Unfälle und Umwelt werden dabei zwangsläufig ausgeblendet. 

 

Gesundheitliche Probleme können nach Auffassung der ganzheitlichen Medizin jedoch immer nur in ihrem jeweiligen Zusammenhang und in ihren verschiedenen Verbindungen von Leib, Seele und Geist erkannt und verstanden, erklärt und therapiert werden. Ziel und Aufgabe ist die umfassende Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte der Krankheit und der Gesundheit. Patienten sollen nicht nur als ein bloßes Objekt ärztlicher Technik behandelt werden, sondern im Sinne des Protagoras als "Maß aller Dinge" wahrgenommen und be-handelt werden. Das führt jedoch nicht selten zu einer ideologischen Verharmlosung der existenziellen Abhängig-keit und leiblichen und seelischen Vulnerabilität der Patienten und nicht selten wie bei der spiritualistischen Über-höhung der angeblichen Macht des Geistes zu archaischen Schuldzuweisungen, sodass Patienten unterstellt wird, aufgrund ihrer nicht "ganzheitlichen" Denk- und Lebensweisen an ihren Erkrankungen selbst schuld zu sein.

 

Bei der sog. ganzheitlichen Medizin handelt es sich jedoch gewöhnlich nur um ein modisches Schlagwort, das

in die Umgangssprache eingegangen ist. Daher können ihm x-beliebige angebliche Heilkünste und Heilmethoden zugeordnet werden, deren methodische und kritische Überprüfung meistens fehlt und deren therapeutische Wirksamkeit und Zuverlässigkeit oft höchst zweifelhaft bleibt, sodass geldgierige Abzocker und dubiose Scharla-tane damit leicht ihr lukratives Spiel treiben und hilfsbedürftige Patienten ausnehmen können, da meistens keine wissenschaftlich geprüften und dann erst staatlich anerkannten Kriterien ihrer therapeutischen Wirksamkeit und Zuverlässigkeit zugrunde liegen. Das gilt insbesondere für kulturell fremde, aber wegen ihrer Exotik beliebten ganzheitlichen Heilverfahren, wie die sog. traditionelle chinesische Medizin (TCM), das indische Ayurveda oder auch die esoterisch angehauchte anthroposophische Medizin.

 

5. "Ganzheit" als populäres Schlagwort

 

Das Gerede über Ganzheit und ganzheitliche Medizin ist weltanschaulicher und nicht philosophischer Art. Es gibt keine maßgeblichen und immer noch wichtigen Philosophen, die dieses populäre Schlagwort verwendet haben. Martin Heidegger hat das schon zu seiner Zeit modische Gerede über Ganzheit verspottet. Aber im Banne des Führerkultes hatte er selbst von Hitlers angeblich so schönen Händen geschwärmt. Das könnte nicht zuletzt daran liegen, dass er im Anschluss an Friedrich Nietzsches keine rationale Ethik und keine universalen Menschenrechte akzeptierte. Gegen Ende seines Lebens musster er vielmehr gestehen, dass Nietzsche ihn "kaputt gemacht" habe.

 

Der Hinweis auf die Hände als Ausdrucksorgan des menschlichen Geistes ist also keineswegs neu und lässt sich zumindest bis in die Renaissance (z.B. Raffaels Schule von Athen) zurückverfolgen. Gesten mit der Hand konnten zwar Vieles bedeuten, aber sie wurden damals noch nicht als Bekenntnis zum Relativismus oder Subjektivismus verstanden. In Deutschland wurden Gesten mit der Hand in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts als politi-sche Bekenntniszeichen populär. Die Sozialisten erhoben ihre linke Faust im prometheischen Zorn gegen den Himmel, die Faschisten reckten ihren rechten Arm nach oben, um ihren unerbittlichen Willen zur Macht und ihre Loyalität zum Führer auszudrücken. Hitler sprach gerne von den "Arbeitern der Stirn" und den "Arbeitern der Faust". Aber nicht nur die Nazis, sondern auch die Sozialisten gefielen sich dabei, den Menschen auf das Körper-liche zu reduzieren und die Vernunft und den Geist abzuwerten. Auf diese Weise versuchten sie die Intellektuellen zu diskreditieren, weil sie wie die Schriftsteller und Künstler die meisten Dissidenten hervorbrachten.

 

Aber alle diese "ganzheitlichen" Bekenntnisgesten haben eines gemeinsam: sie entspringen dem pseudo-religiösen Glauben, dass es eine rettende Wahrheit und eine einfache Lösung für komplexe Probleme gibt, die man mit einem einzigen Zeichen oder mit einer einzigen Geste ausdrücken kann. Das Bedürfnis nach Reduktion von Komplexität und nach einem einfachen Glauben ist gerade in unübersichtlichen modernen Gesellschaften und in Krisenzeiten nur allzu verständlich. Aber oft entspringt es auch einem magischen Denken und einer Art

von gestischen Abwehrzauber und verbindet sich dann mit einer kollektivistischen Einstellung, die das Individuum in der Masse verschwinden lässt.

 

Die Menschen möchten sich sozusagen kollektiv unter eine Fahne stellen und gemeinsam "auf der richtigen Seite der Geschichte" stehen. Dazu treibt sie die Furcht vor der Freiheit des Einzelnen, vor ihrer eigenen Verantwortung in den Grenzsituationen und vor der Unübersichtlichkeit der Welt, die nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Aber so verständlich die modische Verehrung der Hand und des Händischen als pragmatischer Aufruf zum Be-greifbaren und Behandelbaren auch sind, ist das Wesentliche im Leben gerade nicht begreifbar und behandelbar. Es entzieht sich dem Machbaren und Verfügbaren sowie dem egozentrischen Wunsch nach rationaler Kontrolle über das eigene Leben.

 

Durch das geschickte Ausweichen in anschauliche Anspielungen und ambivalente Zeichen als soziale Codie-rungen einer imaginierten Weltanschauungsgemeinschaft ist jedenfalls nichts gewonnen. Denn nur allzu oft steht dahinter das regressive "ozeanische Gefühl" einer mystizistischen Auflösung des selbstbewussten Ich und seiner kritischen Urteilskraft in der gleichgeschalteten Masse. Nicht von Ungefähr wird für dieses ozeanische Lebens-gefühl oft das Bild von einem Tropfen bemüht, der sich im Meer auflöst. Situationen in ihrer Lebenswelt werden nur noch als bloßes Schauspiel oder als "Film" erlebt. Die Welt wird ganz zur bloßen Vorstellung (Maya) jenseits von Raum und Zeit. Eine solche mystizistische Selbstauflösung des Ichs und der kritischen Urteilskraft gefällt natürlich nationalistischen Einheitsparteien, mächtigen Autokraten und übermächtigen Diktatoren sozialistischer oder nationalistischer Provenienz.

 

Der unglaubwürdige Versuch einer ästhetizistischen Reduktion des Ethischen und Religiösen auf Ästhetisches, die Umgehung der sprachlichen Selbstreflexion und des sprachlichen Verstehens der biblischen Schriften als Wort Gottes und der christlichen Theo-Logie (Logos) sowie die (k)indische Bevorzugung von Bildern, bildlichen Vor-stellungen, von Zeichen und Symbolen ist keineswegs harmlos, weil sie das kritische Denken umgeht und sich besser zur psychischen und geistigen Manipulation eignet. Die Ästhetisierung des Politischen und die sich daran anschließende Politisierung des Ästhetischen (in Architektur, Film, Kunst, Literatur, usw.) ist charakteristisch für alle totalitären politischen Systeme, wie man sie gegenwärtig immer noch in Nordkorea, in Russland und in der Volks-republik China beobachten kann. Dass Xi Jingping immer so freundlich mit seiner rechten Hand winkt ( wie eine vietnamesische Winkekatze) ändert nichts am diktatorischen und imperialen Charakter seiner Regierung. Die digitalen Bildmedien des 21. Jahrhunderts erleichtern und beschleunigen allerdings noch die Fähigkeiten zur ideologischen Steuerung der Massen nicht nur durch autoritäre politische Regime, sondern auch durch die mächtigen IT-Giganten (Amazon, Apple, Facebook, Google und Co.).

 

Für das philosophische und theologische Denken ist das modische Gerede über Ganzheit jedoch zu viel vage und zu vieldeutig, zumal es meistens einem schwärmerischen und geistlosen östlichen Mystizismus des solipsistischen Selbst entspringt. Da seit der Corona-Epidemie körperliche Nähe, leibliche Berührungen und gegenseitige Be-grüßungen durch einen Handschlag in der Öffentlichkeit aus hygienischen Gründen gemieden wurden, haben sich manche Politiker mit der indischen Grußgeste (Namaste) begrüßt. Solche Anleihen aus der indischen Kultur sind jedoch nicht neutral oder wertfrei, sondern drücken eine gewisse Verschiebung von Einstellungen und Werten aus. Die indische Kultur und Mentalität kennt nämlich keine fundamentale Gleichheit der Menschen vor Gott oder im Rechststaat wie die europäische Kultur mit ihren Wurzeln im Judentum und Christentum, der grie-chischen Demokratie und dem römischen Recht. Gedankenlose und modische Anleihen aus der indischen Kultur können daher zu einer Erosion der spezifisch europäischen Trias von Demokratie, freiheitlichem Rechtsstaat und sozialer Marktwirtschaft führen.

 

Wollte man die Rede von der Ganzheit des Menschen begrifflich verstehen, müsste man zuerst einmal genauer prüfen, in welchen verschiedenen möglichen Bedeutungen dieser Ausdruck verwendet wird. Aber dann würde sich wohl nur allzu oft die durch die Alltagserfahrung gewonnene Vermutung bestätigen, dass es sich nur um

eine leere Worthülse handelt, die ganz nach aktuellem Bedarf mit verschiedenen, nur allzu oft widersprüchlichen Gedanken aufgefüllt wird. Aber weder körperliche Gesundheit noch leibliche Harmonie im Ausdruck der Bewe-gungen und des Verhaltens noch persönliche Flexibilität und Resilienz sagen etwas darüber aus, "wes' Geistes Kind" jemand ist und welche ethisch-moralische oder auch spirituell-religiöse Gesinnung jemand hat, die sich insbesondere in ethischen und moralischen Konfliktsituationen im Verhalten und Handeln zeigen.

 

6. Fazit

 

Da es sowohl in der sog. Schulmedizin als auch in der sog. Erfahrungsmedizin oder Naturheilkunde immer wieder auch nur allzu menschliche Irrtümer und Selbsttäuschungen sowie Geldmacherei und Betrügerei gibt, ist es auf jeden Fall ratsam, um der eigenen Gesundheit willen und um der Gesundheit seiner Mitmenschen willen skep-tisch zu bleiben, alle prophylaktischen und therapeutischen Angebote mit seinem gesunden Menschenverstand zu prüfen und pragmatisch vorzugehen.

 

Aber wissenschaftliche Methoden sind eben eine wertvolle Ergänzung, Erweiterung und Vertiefung des gesunden Menschenverstandes mit intersubjektiv überprüfbaren Methoden. Daher werden eben seit einigen Jahren auch an Fachhochschulen und Universitäten die alternativen Methoden der Erfahrungsmedizin und Naturheilkunde (so weit und so gut wie möglich) mit experimentellen Methoden geprüft. Deshalb ist eine pragmatische Einstellung, eine integrative Vorgehensweise gepaart mit einer guten Portion Skepsis, mit gesundem Menschenverstand und ergänzt durch wissenschaftliche Methoden auf Dauer wohl der beste Weg für die Humanmedizin, für Leib und Leben, Seele und Geist zu sorgen. Auf das modische Schlagwort der Ganzheit oder Ganzheitlichkeit sollte man dabei besser ganz verzichten.

 

Allerdings gibt es verschiedene Orientierungen für eine neue integrative Medizin, die in Diagnose, Prognose und Therapie primär schulmedizinisch und evidenzbasiert vorgeht, aber auf den Wunsch von Patienten und Ange-hörigen hin sowie auf Initiative des ganzen Teams von Pflegenden und Ärzten hin in konkreten Situationen die Behandlung der Patienten um passende erfahrungsmedizinische und naturheilkundliche Maßnahmen ergänzt.

 

Zu diesen Orientierungen für eine neue integrative Medizin gehören zumindest:

  • Aufrechterhaltung der angemessenen Unterscheidung zwischen Humanmedizin und Veterinärmedizin
  • Aufwertung der Pflegeberufe durch höhere Löhne und Erhöhung des Personalstandes (politische Reformen!)
  • Mehr Zeit für Gespräche zwischen Ärzten und Patienten, Pflegenden und Patienten (politische Reformen!)
  • Erforschung und Erprobung von (neuen) Medikamenten und Therapien an Männern, Frauen und Kindern
  • Anamnese und Berücksichtigung der biographischen Vorgeschichte und der aktuellen Lebenslage
  • Ergänzung der herkömmlichen pathogenetischen durch eine salutogenetische Betrachtungsweise
  • Entpathologisierung von Schwangerschaft und Geburt zu Beginn des menschlichen Lebens
  • Keine vollständige Freigabe von Abtreibungen ohne medizinische oder psychiatrische Indikationen
  • Keine irreführenden Informationen und keine profitable Werbung von Frauenärzten für Abtreibungen
  • Keine "wertfreie" Verharmlosung der Folgen der Abtreibungen für die Frauen, Familien und die Gesellschaft
  • Enttabuisierung von Sterben und Tod am Ende eines Lebens als unausweichlicher Folge des Lebens
  • Verbot der (geschäftsmäßigen) aktiven Sterbehilfe (unter dem euphemistischen Namen der "Euthanasie")
  • Förderung humanen Sterbens, aber keine ärztliche Beihilfe zum assistierten Suizid
  • Ausbau und Förderung der Hospize, der Palliativmedizin und der geistlichen Seelsorge (spiritual care)
  • Abschaffung der Hirntoddefinition, denn der sog. Hirntod ist nicht der Tod des leiblichen Menschen
  • Humanisierung der martialischen, lukrativen und technizistischen Transplantationsmedizin

Diese Auflistung von Neuorientierungen hat natürlich nur eine heuristische Funktion und beansprucht daher keine Vollständigkeit. Sie kann und darf insbesondere in einzelnen Fachbereichen um weitere sinnvolle Orientie-rungen ergänzt werden. UWD

 








 

Gesundheit und Krankheit aus evangelischer Sicht:

 

https://www.ulrich-walter-diehl.de/evangelische-theologie/krankheit-und-gesundheit/

 


 

Das Schreddern von männlichen Küken öffentlich zu zeigen und es dann zu verbieten, ist eine tiermedizinisch ange-messene, tierethisch nachvollziehbare und tierrechtlich verantwortliche Entscheidung gewesen. Aber es ist absurd, wenn zugleich, das empathielose Abtreiben und inhumane "Entsorgen" von menschlichen Embryonen ohne eine medizinische oder psychiatrische Indikation erlaubt sein soll.

 

Auch Bilder und Filme über grausame Abtreibungen von wehrlosen kleinen Menschenkindern mit ihren kleinen Händ-chen und Füßchen und ihren noch entstehenden Gesichtern, die nach der Abtreibung in speziellen "Mülltonnen" für organische Abfälle "entsorgt" werden, können aufklärend wirken. In den USA sind exklusive und spezialisierte Abtrei-bungskliniken mittlerweile sogar zu einem lukrativen Industriezweig geworden.

 

Die politische Entscheidung, das schützenswerte Leben von heranwachsenden Hühnern höher zu bewerten und stärker zu schützen als das mit einer angeborenen und unveräußerlichen Würde ausgestattete Leben von noch ganz besonders verletzlichen menschlichen Embryonen vor ihrer Geburt, entspringt einem verkehrten naturalistischen und reduktionis-tischen Welt- und Menschenbild, dem auch schon die Nazis, Stalinisten und Maoisten anhingen.

 

In der medialen Öffentlichkeit kann man immer wider die popularwissenschaftliche und szientistische Begründung hören, dass Menschen und Menschenaffen 98% ihrer DNA-Sequenzen teilen würden. Selbst wenn das zutrifft, handelt es sich bloß um einen quantifizierenden Vergleich. Aber es kommt doch offensichtlich auf das Potenzial der restlichen

2 % der Gene an, die die enorme qualitative Differenz zwischen Menschen und Menschenaffen ausmachen, die der Sprach- und Vernunftbegabung zugrunde liegen und bei einer günstigen Entwicklung ein freies, verantwortliches und schöpferisches Denken und Handeln ermöglichen, das Pflanzen und Tieren nun einmal nicht möglich ist.

 

Die unter irdischen Realbedingungen einzigartige Würde des Menschen basiert auf einer genetisch fixierten natürlichen Differenz, die jedoch einen erheblichen qualitativen Unterschied ausmacht, weil das Natürliche und Physische zum Seelischen und Geistigen hin transzendiert wird. Das zu leugnen hat inhumane und unmoralische Konsequenzen. Das T4-Vernichtungsprogramm der Nationalsozialisten zur Ermordung von seelisch-geistig behinderten Menschen durch Psychiater sollte uns gelehrt haben, wohin das unter ungünstigen ökonomisch-politischen Bedingungen führen kann. Dem Nationalsozialismus nahe stehende Psychiater hatten nämlich in ihren Experimenten Menschen mit gesunden Affen verglichen und dann seelisch-geistig behinderte Menschen zur Vernichtung bestimmt, wenn ihnen diese Affen in einigen technischen Problemlösungen überlegen waren. Denn sie hatten nur ein empiristisch-naturalistisches Ver-ständnis von instrumenteller Intelligenz und blendeten wie der östliche Mystizismus die sprachliche Intelligenz des menschlichen Geisteslebens aus.

 

Aber schon alleine aufgrund seiner angeborenen Fähigkeit zum Erlernen von Sprache und Denken haben Menschen am Seelischen und Geistigen anteil und können das Natürliche, das Soziale und das Kulturelle transzendieren. Die bewußte Leugnung der unter irdischen Realbedingungen einzigartigen Würde des Menschen hätte über die dadurch ermöglich-ten Verbrechen an einzelnen Menschen hinaus aber auch noch bedenkliche Konsequenzen, weil das auch wieder zu einem Rückfall hinter die modernen zivilisatorischen Errungenschaften von Demokratie, Rechtsstaat und sozialer Markt-wirtschaft führen könnte, die wie die Grund- und Menschenrechte der Achtung der einzigartigen menschlichen Würde entspringen. Allerdings ist die Demokratie alleine kein Allheilmittel, da jede Demokratie ohne die Orientierung und Zügelung durch Elitenbildung, Meritokratie und Rechstaatlichkeit auch auf dem legitimen Weg von freien Wahlen zu einer technokratischen Autokratie oder zu einer nationalistischen oder sozialistischen Diktatur führen kann.

 

Außerdem waren im 20. Jahrhundert der Naturalismus und Szientismus im Welt- und Menschenbild schon einmal die ideologischen Einfallstore für ideologische Massenbewegungen, die zu einem Weltkrieg zwischen den politischen Totalitarismen der Moderne führten. Es gibt leider keinen vernünftigen Grund, anzunehmen, dass sich diese ideo-logischen Schleusen nicht wieder öffnen könnten und wieder zu einem inhumanen Sozialdarwinismus des brutalen Kampfes ums nackte Dasein führen könnten. Daher muss sich ein wehrhafter freiheitlich-demokratischer Rechtstaat nicht nur gegen linke und rechte Extremisten wehren, sondern auch gegen grenzenlose Liberalisierungen, die seine kulturellen und geistigen Grundlagen aushöhlen und unterwandern. UWD

 


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Beate Jakob, Christus Medicus. Ein Arzt ist uns gegeben.
Difäm e.V., Deutsches Institut für Ärztliche Mission e.V.
Jakob, Christus Medicus 2008.pdf
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Ulrich Diehl, Gesundheit – hohes oder höchstes Gut? Über den Wert und Stellenwert der Gesundheit
in: H. A. Kick, (Hg.) Gesundheitswesen zwischen Wirtschaftlichkeit und Menschlichkeit. Münster: LIT Verlag 2005, S. 113-135
Diehl, U., Gesundheit.pdf
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Keine Lizenz zum Töten: https://www.youtube.com/watch?v=z50SzJGWN2s

 





 

Thomas Sören Hoffmann & Marcus Knaup

Was heißt: In Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens

Berlin: Springer 2015

Aktuell werden Themen wie die gesetzliche Regelung der ärztlichen Suizidbeihilfe oder die Euthanasie immer wieder ins Zentrum gesellschaftlicher Debatten gerückt. Unterschiedliche Medien greifen die Frage der Suizidbeihilfe auf und diskutieren, wie ein "selbstbestimmtes Sterben" aussehen kann. Welche medizinischen, rechtlichen, ethischen, philo-sophischen und theologischen Aspekte gilt es zu berücksichtigen? Dieses Buch macht die Frage der ärztlichen Suizid-assistenz zum Thema. Experten unterschiedlicher Fachdisziplinen beleuchten kritisch die in der Sterbehilfe-Debatte vorgebrachten Argumente und beantworten die Frage, wie ein würdiges Sterben aussehen könnte.

Mit Beiträgen von Benedict Maria Mülder, Susanne Kummer, Axel W. Bauer, Günther Pöltner, Markus Rothhaar, Christian Hillgruber, Marcus Schlemmer, Andreas S. Lübbe, Christian Spaemann, Ulrich Eibach, Manfred Spieker, Marcus Knaup, Thomas Sören Hoffmann.