M. C. Escher, Hand with Reflecting Sphere
Amicus Plato, magis amica veritas.
Aristoteles
Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen sitzen.
Wir können weiter sehen als unsere Ahnen und in dem Maß
ist unser Wissen größer als das ihrige und doch wären wir nichts,
würde uns die Summe ihres Wissens nicht den Weg weisen.
Bernhard von Chartres
Es gibt zwei gefährliche Abwege: die Vernunft schlechthin abzulegen
und außer der Vernunft nichts anzuerkennen.
Blaise Pascal
Philosophie läßt sich nicht lernen,
denn eine abgeschlossene, allgemeingültige Philosophie existiert nicht.
Man kann nur philosophieren lernen.
Immanuel Kant
Idealismus ist die Seele der Philosophie; Realismus ihr Leib;
nur beide zusammen machen ein lebendiges Ganzes aus.
F.W.J. Schelling
Natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen,
aber keine Bildung den natürlichen Verstand.
Arthur Schopenhauer
Those who cannot remember the past
are condemned to repeat it.
George Santayana
Existenz wird nur durch Vernunft sich hell;
Vernunft hat nur durch Existenz Gehalt.
Karl Jaspers
Pragmatism doesn't work for me.
Raymond Smullyan
Was ist Philosophie?
Unser europäisches Denken hebt an bei den Griechen. (…)
Dies Verhältnis der Sprache zur wissenschaftlichen Begriffsbildung lässt sich,
streng genommen, nur am Griechischen beobachten,
da nur hier die Begriffe organisch der Sprache entwachsen sind:
nur in Griechenland ist das theoretische Bewusstsein selbstständig entstanden,
(…) alle anderen Sprachen zehren hiervon, haben entlehnt, übersetzt,
das Empfangene weitergebildet.
Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes
Was wir heute "Philosophie" nennen, hat eine lange und vielfältige Geschichte. In Europa hat diese Geschichte der Philosophie vor über 2500 Jahren begonnen. Eine allgemein zustimmungsfähige Definition davon, was Philosophie in all den Jahrhunderten in Europa über viele Epochen sowie über Sprach- und Kulturräume hinweg gewesen ist, gibt es nicht. Jeder einzelne Vorschlag einer allgemeingültigen Definition würde einen bestimmten Philosophen oder eine Schule, eine Richtung oder eine Epoche in der europäischen Philosophiegeschichte bevorzugen, könnte kaum von allen Seiten akzeptiert werden und wäre deswegen auch schon selbst wieder umstritten.
Auch wenn die Länge und Vielfalt der europäischen Geschichte der Philosophie keine einheitliche Definition der Philosophie zulassen, wird man gleichwohl fündig, wenn man sich einmal an ihre geschichtlichen Anfänge in der griechischen Antike erinnert. Denn in ihren Anfängen bei den klassischen griechischen Philosophen Sokrates, Platon und Aristoteles gibt es trotz aller Differenzen in ihren unterschiedlichen Auffassungen von der Philosophie sowie in ihrer konkreten Ausübung des Philosophierens, deren schriftliche Spuren wir in ihren Werken vorfinden können, einen gemeinsamen Zugang über die Etymologie und Semantik des griechischen Wortes philosophia, auf den sich auch das deutsche Wort Philosophie immer noch zurückführen lässt.
Zumindest in der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes philosophia, die für diese drei großen Philo-sophen der griechischen Antike bestimmend gewesen ist, stoßen wir in einer ersten Annäherung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, was Philosophie ist bzw. sein kann. Diese Bedeutung ist ihnen weitgehend gemeinsam, obwohl wir annehmen müssen, dass der historische Sokrates gar nichts Schriftliches hinterlassen hat, und obwohl wir aus den Schriften von Platon und Aristoteles wissen, dass sich nicht nur deren Art des Philosophierens und deren Verschriftlichung des Philosophierten, sondern wohl auch deren Auffassung davon, was Philosophie als eine geistige Disziplin ist bzw. sein kann, in einigen Hinsichten deutlich unterschieden hat.
Die etymologische und semantische Erläuterung der Bedeutung des griechischen Wortes philo-sophia, das aus zwei Bestandteilen besteht, ist: "philia" ist das griechische Wort für "Freundschaft" oder "Liebe zu" und "sophia" das griechische Wort für "Weisheit" oder "Einsicht". Deswegen wird der Etymologie zufolge "philosophia" gemeinhin mit "Liebe zur Weisheit" übersetzt, obwohl die Philosophie sich schon in der Antike, wie z.B. bei Aristoteles auch schon als Liebe zur Erkenntnis und zum Wissen verstanden hatte. Im gleichen Zug wird die ursprüngliche Bedeutung von "philo-sophos" als "Freund der Weisheit" oder "Freund der Einsicht" übersetzt. Bei dieser Übersetzung dürfen wir jedoch auch die Bedeutung "Freund der Erkenntnis und des Wissens" mitdenken.
Ein Philosoph war demzufolge jemand, der die Weisheit als die Tugend einer umfassenden Einsicht bzw. eines um-fassenden Wissens liebt und deswegen nach ihr bzw. ihm strebt. D.h. ausdrücklich nicht, wie schon der platonische Sokrates in der Apologie des Sokrates mit Bezug auf sich selbst erklärt, dass der Philosoph schon weise ist und sich selbst für weise hält, sondern nur dass er sich in allen Lebenslagen darum bemüht, weiser zu werden und sich weise zu verhalten. Nach Sokrates, Platon und Aristoteles kann dies auch gar nicht anders sein, da sie Weisheit für die höchste menschliche Tugend oder die beste seelisch-geistige Einstellung eines Menschen halten. Für alle drei Philosophen ist Weisheit zwar der Inbegriff aller einzelnen Tugenden oder guten persönlichen Einstellungen, weil sie für ein gutes und gelingendes Leben unverzichtbar ist. Aber für alle drei Philosophen gilt auch, dass Weisheit im vollen und höchsten Sinne alleine Gott zukommt, aber keinem sterblichen Menschen.
Seit Cicero geht das Gerücht um, dass Sokrates von sich gesagt habe: "Ich weiß, dass ich nichts weiß." Indem sie sich auf diese angebliche Selbstaussage berufen, berufen sich (absolute) Skeptiker und denkfaule Misologen (d.h. Leute, die philosophische Diskussionen, Gesprächen und Unterredungen hassen oder zumindest von der vernünftigen Rede und von der Vernunft insgesamt wenig halten) fälschlich auf Sokrates als den Initiator der rationalen Philosophie im antiken Griechenland. Zum Glück ist es heute zumindest unter Kennern der antiken Philosophie und insbesondere der Schriften Platons bekannt, dass Sokrates nie von sich gesagt hat, dass er gar nichts weiß.
Es handelt sich bei dieser angeblichen Selbstaussage des Sokrates, dasser wisse, gar nichts zu wissen, nämlich nur um ein verfälschtes Zitat aus der platonischen Schrift Apologie des Sokrates. Dort behauptet Sokrates nämlich nur, dass er nicht wisse und damit auch nicht mit Bestimmtheit sagen könne, was Weisheit sei. Diese Aussage schließt nicht aus, dass er viele Dinge wissen, an denen er keinen Grund finden können, zu zweifeln. Sokrates weiß selbstverständlich, wie er heißt, dass er ein Mensch, ein Mann, ein Athener, ein Grieche, etc sei, dasser mit Xanthippe verheiratet sei und Kinder habe, dass er als Soldat gekämpft habe und nun vor Gericht angeklagt worden sei und vieles mehr. Sokrates weist mit seiner Aussage, dass er nicht weiß, was Weisheit sei, jedoch das Gerücht zurück, das in dem aktuellen Gerichtsverfahren gegen ihn zitiert wurde, dass das Orakel von Delphi von ihm ausgesagt habe, dass er der weiseste Mann von Athen sei. Damit will er deutlich machen, dass er nicht so eitel ist, diesem Orakelspruch zu glauben und sich für den weisesten Mann von Athen zu halten. Vielmehr nimmt er nur für sich in Anspruch mit seinem öffentlichen Philosophieren hinter der Weisheit herzujagen, um herauszufinden, was einen Menschen weise mache.
Mit seinem persönlichen Bekenntnis, nicht zu wissen, was Weisheit sei, behauptete Sokrates nur, dass er kein diskursives oder propositionales Wissen (knowing-that) über die ethischen Tugenden und das sittlich Gute besäße. Das schließt jedoch nicht aus, dass er über ein gewisses intuitives und persönliches Verständnis (knowing-how) von den ethischen Tugenden und vom sittlich Guten hatte. Daher behauptete er nur, dass er niemanden explizit lehren könne, was Weis-heit sei, sondern es nur in philosophischen Unterredungen erörtern könne. Sokrates beanspruchte daher auch nur ein Freund der Weisheit (philosophos) zu sein, der sich darum bemüht, zu verstehen, was weise sei und was nicht, aber er beanspruchte ausdrücklich nicht, dass er bereits weise sei.
Doch seine Gegner haben Sokrates gründlich mißverstanden und ihm unterstellt, dass er eben auch nur ein Sophist sei, der mit seinen skeptischen Fragen in der Öffentlichkeit zur Gottlosigkeit bzw. zur Unfrömmigkeit (Asebie) anstifte, die Jugend verführe und neue Götter (Daimonion) einführe. Daher klagten sie ihn an und zogen ihn vor Gericht. Denn es gab damals in Athen noch keine Religionsfreiheit, sondern die Unterwerfung unter die in Athen ansässige Verehrung der Götter war eine allgemeine und öffentliche, sittliche und politische Pflicht. Die Unterscheidung von geistlicher und weltlicher Autorität als Anfang der Gewaltenteilung geht auf die jüdische Trennung von Tempel und Palast und die christliche Trennung von Kirche und Staatswesen zurück.
Diese etymologische und semantische Erklärung des aus dem Griechischen stammenden Wortes philosophia mag für den Anfang als eine erste Antwort auf die Frage "Was ist Philosophie?" hilfreich sein. Gleichwohl erlaubt sie auch noch keine inhaltliche oder methodische Bestimmung dessen, was Philosophie für Sokrates, Platon und Aristoteles en detail gewesen ist. Um das zu verstehen, müssen wir uns ausführlich und intensiv mit deren philosophischen Werken aus-einandersetzen. Zu einem geringeren Preis ist ein tieferes Verständnis davon, was Philosophie in der klassischen griechischen Antike gewesen ist, nun einmal nicht zu haben. Denn obwohl wir es hier mit den klassischen Anfängen unserer eigenen, europäischen Tradition von Philosophie zu tun haben, erscheint sie uns doch aufgrund der geschicht-lichen und kulturellen Distanz sowie aufgrund der für uns recht fremden Sprache und Denkweise erst einmal schwer zugänglich. Die Anfänge der europäischen Philosophie scheinen uns heute fast so fremd zu sein wie die geistigen Traditionen einer anderen und fremden, außereuropäischen Kultur. Und doch gibt es zahlreiche Spuren, die in unsere Gegenwart hineinführen.
Die Schwierigkeit des Zuganges zu einem tieferen Verstehen besteht im Übrigen nicht nur für die griechische und römische Antike, sondern auch noch für das Mittelalter und die Renaissance bis in die frühe Neuzeit und die Epoche der Aufklärung hinein. Sie besteht in verschiedenem Ausmaß für fast alle alle Epochen und Traditionen, Philosophen und Richtungen der europäischen Geschichte der Philosophie. Wenn nun aber die europäische Philosophie schon alleine in ihren klassischen Anfängen so schwer zugänglich ist, wie steht es dann mit der anderen, der sog. außereuropäischen Philosophie? Die sog. außereuropäische Philosophie ist für uns Europäer aufgrund der fremden Kulturen, die uns in ihr begegnen, sowie aufgrund der noch fremden Sprachen, in der sie auftritt und zuhause ist, trotz aller gelungenen Über-setzungsversuche noch viel schwerer zugänglich. Viele Übersetzungen ins Deutsche oder Englische, die uns gegen-wärtig vorliegen, täuschen bei näherem Hinsehen jedoch über die eigentlichen Schwierigkeiten beim Übersetzen hinweg. Meistens werden einem diese Schwierigkeiten erst dann wirklich und nachhaltig bewusst, wenn man sich einmal auf die uns fremde Sprache und Kultur tiefer eingelassen hat und die eigentümlichen Schwierigkeiten der Anfertigung einer zuverlässigen und gelungenen Übersetzung kennen gelernt hat.
Wenn man von der indischen oder chinesischen "Philosophie" spricht, handelt es sich dabei meistens schon um eine eher unzulängliche, weil eurozentrisch geprägte Betrachtungsweise, die anderen und fremden Denktraditionen der Heiligen, Weisen und Gelehrten gewisser Epochen Indiens bzw. der alten chinesischen Dynastien, einen eher euro-päischen Begriff überstülpt, ohne sich dabei der Andersheit und Fremdheit dieser eigentümlichen Denktraditionen gewahr zu werden. Deswegen wäre es fragwürdig und unangemessen, an Instituten und Seminaren für (europäische) Philosophie auch die alten indischen und chinesischen Denktraditionen lehren oder studieren zu wollen. Denn um sie auf eine angemessene Art und Weise zu studieren, braucht man auf jeden Fall gründliche Kenntnisse der jeweiligen Sprache, Kultur und Geschichte, worüber gewöhnlich nur gut ausgebildete Geistes- und Kulturwissenschaftler, wie z.B. Indologen oder Sinologen verfügen.
Über eine solche gründliche Ausbildung und Bildung muss man aber auch verfügen, wenn man sich für die verschie-denen Epochen und Traditionen, Philosophen und Richtungen der europäischen Philosophie interessiert und sie stu-dieren will. Deswegen sind die meisten Professoren und Dozenten für Philosophie auch philosophisch Forschende, die entweder bestimmte Epochen und Traditionen, Philosophen und Schulen, Richtungen und Methoden der Geschichte der europäischen oder amerikanischen Philosophie untersuchen. Dazu konzentrieren sie sich in der Regel entweder auf das Studium von philosophischen Schriften und Büchern, Abhandlungen und Untersuchungen, also auf Resultate des Philosophierens, die in schriftlicher Form vorliegen, in denen wir die lange und vielfältige Geschichte der überlieferten philosophischen Probleme und Lösungsversuche in Form von Analysen von Begriffen und Ausdrücken, Thesen und Argumenten, Konzeptionen und Theorien vorfinden können. Oder sie konzentrieren sich als philosophisch Forschende, auf bestimmte zeitgenössische Probleme der Philosophie, wobei das ebenfalls in Form der Untersuchung und Behand-lung von Analysen von Begriffen und Ausdrücken, Thesen und Argumenten, Konzeptionen und Theorien geschieht. Nicht wenige von ihnen versuchen beides, das Studium der Geschichte der Philosophie und die Beteiligung an gegen-wärtigen Debatten zu verbinden.
Ganz gleich, ob man nun die Geschichte der Philosophie erforscht oder ob man an zeitgenössischen philosophischen Problemen arbeitet, verstehen sich die meisten Philosophen heute als Forscher und Wissenschaftler, die an einer geisteswissenschaftlichen Disziplin teilhaben. In dieser Disziplin bearbeiten sie bestimmte verstehbare Inhalte, die sich jedoch anders als in den Einzelwissenschaften weder durch einen bestimmten Gegenstandsbereich noch durch eine bestimmte Methode definieren lässt. Diese verstehbaren Inhalte lassen sich jedoch trotz ihrer unausweichlichen Angewiesenheit auf eine sprachliche Formulierung und schriftliche Fixierung im Wesentlichen als eine philosophische Analysen von Begriffen und Ausdrücken, Thesen und Argumenten, Konzeptionen und Theorien bestimmen.
In erster Annäherung können wir also zunächst vier Thesen festhalten:
1. Philosophie ist eine alte geistige Disziplin, die zumindest in Europa eine lange und vielfältige Geschichte von über 2500 Jahren hat und bis heute fort besteht. Seit ihren klassischen Anfängen handelt es sich bei der Philosophie in lebens-philosophischer Hinsicht um die persönliche Suche nach Weisheit bzw. Einsicht als einer für ein gutes und gelingendes Leben wichtigen Tugend oder charakterlichen Einstellung. Philosophie ist weiterhin in schulphilosophischer Hinsicht eine geisteswissenschaftliche Disziplin, die sich nicht zuletzt auch selbst zum Problem machen kann und muss, weil sie anders als alle Einzelwissenschaften weder über einen bereits festgelegten Gegenstand noch über eine bestimmte und gemeinhin anerkannte Methode verfügt.
2. Über Ziel und Aufgabe der Philosophie gibt es ein in der langen und vielfältigen Tradition begründetes Einverständ-nis davon, dass sie eine geistige Disziplin ist, die verschiedene philosophische Themen und Probleme der Vergangenheit oder Gegenwart behandelt, indem sie philosophische Untersuchungen von sprachlich formulierten Begriffen und Aus-drücken, Thesen und Argumenten, Konzeptionen und Theorien durchführt und auf dem Wege der Reflexion und Dis-kussion einer weitgehend anerkannten Lösung zuzuführen versucht. Wie Kant das zutreffend beschrieben hat, ist die Philosophie unvermeidlich damit beschäftigt, ähnlich wie der Abenteurer und Seefahrer Odysseus auf dem langen Weg zurück in sein heimatliches Ithaka wagemutig zwischen der Skylla des Skeptizismus und der Charybdis des Dogmatis-mus hindurch zu schiffen und den verlockenden Sirenengesängen zu widerstehen, die ihn von diesem Lebensziel ab-lenken könnten.
3. Philosophie gilt in lebensphilosophischer Hinsicht auch heute noch als das persönliche Bemühen um philosophische Bildung sowie als die geistige Aneignung von philosophischem Bildungswissen. Beide können ganz einfach dazu dienen, ein bisschen klüger zu werden oder sich in einem bestimmten Problemkreis auszukennen, sich auf das öffentliche Berufsleben vorzubereiten oder sich auf das öffentliche Leben als ein engagierter Staatsbürger oder als ein aktiver Politiker vorzubereiten. Gleichwohl geht echte philosophische Bildung als ein umfassendes Bildungsziel immer über alle denkbaren Anwendungen und konkreten Zwecksetzungen hinaus und ragt hinein in eine persönliche Dimension nahe-zu zeitlos gültiger Ideale, die sich allen konkreten Lebenszwecken und kontingenten Zwecksetzungen in der raum-zeit-lichen Lebenswelt entziehen.
4. In schulphilosophischer Hinsicht gibt es die Philosophie auch als ein universitäres Studienfach sowie als akademi-sches Forschungsgebiet, in dem zum einen die Geschichte der europäischen Philosophie in ihren Epochen und Traditio-nen, Figuren und Denkschulen studiert und gelehrt sowie erforscht und untersucht wird. Als eine geisteswissenschaft-liche Disziplin muss sich die Philososphie jedoch immer wieder auch gegen die Angriffe der zahlreichen und übermächti-gen materialistischen und naturalistischen, positivistischen und szientistischen, utilitaristischen und nihilistischen Welt-anschauungen und Ideologien zu Wehr setzen, die ihren ursprünglichen Bildungszielen zuwiderlaufen und in die nicht wenige Menschen in Deutschland, Europa und der ganzen Welt verstrickt sind.
Seit ihren klassischen Anfängen kennt die europäische Philosophie bestimmte maßgebende Modelle des Philo-sophierens, die zu vier Grundmustern der europäischen Philosophie geführt haben, die von da in verschiedenen diskursiven Differenzierungen und dialektischen Synthesen zu immer neuen Variationen und Kompositionen geführt haben. Diese vier maßgebenden Modelle sind: das sokratische, das platonische, das aristotelische und das ciceronische Modell des Philosophierens.
Alles europäische Philosophieren bewegt sich bis zum heutigen Tage mehr oder weniger deutlich in den durch diese vier Grundmuster des Philosophierens geschaffenen Spielarten des philosophischen Denkens. Die durch diese Grundmuster vorgegebenen Denkmöglichkeiten kann man nur um den Preis des geistigen Rückfalls hinter ein bereits zuvor erreichtes Niveau des Denkens verlassen und aufgeben. Denn: "Wer sich an die Vergangenheit nicht erinnern kann, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen." (George Santayana)
Philosophie ist angesichts dieser vier Grundmuster des europäischen Philosophierens dann jedoch nicht nur "Arbeit an den Begriffen", wie Hegel meinte. Sie ist auch nicht bloß Arbeit an den logischen Verhältnissen und sprachlichen Funktionen von Sätzen und Ausdrücken, wie Russell und Wittgenstein, Carnap und Quine sowie viele andere sprach-analytische Philosophen meinten. Philosophie ist nicht nur Reflexion auf Sprache und Begriffe, sondern auch Nach-denken über wahrheitsfähige Thesen, Konzeptionen und Theorien über das Dasein des Menschen in der Welt sowie über die ontologischen Grundstrukturen dieser Welt. Philosophen formulieren und prüfen solche wahrheitsfähigen Thesen, Konzeptionen und Theorien, indem sie die Plausibilität und Kohärenz von Gründen und Argumenten für ihre Thesen, Konzeptionen und Theorien zur Diskussion stellen. Sie ist zumindest als theoretische Philosophie vor allem Reflexion und Diskussion über solche Wahrheits- und Geltungsansprüche, Erkenntnis- und Wissensansprüche.
Philosophie ist jedoch nicht nur theoretisches Nachdenken über Thesen und Theorien über unsere Erfahrung von der Struktur der Welt, sondern auch Nachdenken über die Ideale und Prinzipien, Normen und Werte der lebenspraktischen Orientierung in der Welt sowie über die intelligible Qualität und Praktikabilität dieser Orientierungen. Sie ist als praktische und poietische Philosophie vor allem Reflexion und Diskussion über das menschliche Denken und Fühlen, Wollen und Handeln im Lichte theoretischer, praktischer und poietischer Wahrheits- und Geltungs-, Erkenntnis- und Wissensansprüche. Deswegen ist Philosophie eigentlich vernünftige Reflexion und Diskussion über die Grundprobleme des menschliche Dasein in der Welt.
© Ulrich W. Diehl, Juni 2009
Zur Geschichte der europäischen Philosophie
Brentano, F., Geschichte der griechischen Philosophie, Hamburg: Meiner 1988
Brentano, F., Geschichte der Philosophie der Neuzeit, Hamburg: Meiner 1987
Gadamer, H.-G., Der Anfang der Philosophie, Stuttgart: Reclam 1996
Gadamer, H.-G., Der Anfang des Wissens, Stuttgart: Reclam 1999
Hösle, V., Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München: Beck 2006
Hösle, V., Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München: Beck 2013
Röd, W., Der Weg der Philosophie - von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert. 2 Bände, München: C.H. Beck 1994
Russell, B., Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung,
Zürich: Europaverlag 1950
Russell, B., Denker des Abendlandes. Eine Geschichte der Philosophie, München: DTV 1991
Einführungen in die Philosophie
Jaspers, K., Einführung in die Philosophie, München: Piper 1960
Jaspers, K., Kleine Schule des philosophischen Denkens, München: Piper 1974
Nohl, H., Einführung in die Philosophie, Frankfurt a.M.: Klostermann 1998
Kolakowski, L., Was fragen uns die großen Philosophen? Leipzig: Reclam 2006
Kutschera, F.v., Die Teile der Philosophie und das Ganze der Wirklichkeit, Berlin: de Gruyter 1998
Kutschera, F.v., Die großen Fragen, Berlin, de Gruyter 2000
Zur geistigen Lage der Philosophie in der Gegenwart
Jaspers, K., Die geistige Situation der Zeit (1932), Berlin / New York: de Gruyter 1979
Haag, K.-H., Der Fortschritt in der Philosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985
Hösle, V., Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München: Beck 1991
Hösle, V., Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie, München: Beck 1997
Kutschera, F.v., Die falsche Objektivität, Berlin: de Gruyter 1993
Kutschera, F.v., Jenseits des Materialismus, Paderborn: mentis 2003
Picht, G., Wahrheit - Vernunft - Verantwortung. Philosophische Studien (1967), Stuttgart: Klett & Cotta ³2004
Nachtrag
Dass hier nur von einer europäischen Philosophie die Rede ist, hat sehr gute Gründe. Denn die Rede von arabischer, chinesischer und indischer Philosophie ist eurozentrisch und interkulturelle Philosophie ist auch ein neueres westliches Konstrukt, aber selten echter Dialog mit den Repräsentanten außereuropäischer Denkschulen. Ob man außer-europäische Denkweise und Denkschulen überhaupt auch als "Philosophie" bezeichnen kann, ist zumindest umstritten.
Um außer-europäische Denkweisen und Denkschulen kennen und verstehen zu lernen, muss man wie Arabisten, Sinologen oder Indologen die fremden Sprachen, Kulturen und Religionen lange und gründlich studieren. Dann erst kann jemand verstehen, wie schwer es ist, die anderen Begriffe und fremden Denkweisen angemessen zu verstehen und kennt die Probleme der Übersetzbarkeit ihrer Schriften in europäische Sprachen. Die arabischen, chinesischen und indischen Denkschulen basierten früher meistens auf der lehrhaften Aneignung der Denkweisen von maßgeblichen Autoritäten und Schriften, nicht selten sogar auf dem bloßen Auswendiglernen ohne die Ausbildung und Schulung der eigenen Urteilskraft.
Nicht nur der Name der "Philosophie", sondern auch die Sache des selbsttätigen und gemeinsamen Philosophierens stammt daher aus der Tradition der griechischen Antike, die nach den spekulativen Weltanschauungen der Vorsokra-tiker von Sokrates gegründet wurde. Die genuine Methode der rationalen und dialektischen Untersuchung von philo-sophischen Grundfragen jenseits der empirischen Erforschung der Natur (Physis) und der sozialen Normen (Nomos),
die maieutische Befragung von einzelnen Schülern, um herauszufinden, was sie nicht nur beiläufig meinen und spontan sagen wollen, sondern auch aufgrund von zureichenden Begründungen wirklich wissen, ist weltweit einzigartig und grundlegend für die europäische Philosophie.
Vom Mittelalter bis zum Humanismus und der Reformation ist diese ursprünglich sokratische Tradition teilweise auch wieder in Vergessenheit geraten, weil es üblich wurde, nur zu lernen, was die damals maßgeblichen Autoritäten Platon und Aristoteles, die Kirchenväter Augustinus und Thomas von Aquin und andere Autoritäten gelehrt hatten. Erst seit der frühen Neuzeit vor allem durch Descartes und seit der Aufklärung vor allem durch Kant und den deutschen Idealismus, aber auch durch Brentano, Husserl und Hartmann wurde die gewissenhafte Suche nach philosophischen Einsichten und nach einem genuin philosophischen Wissen wieder aufgenommen und vertieft.
Aber im 19. und 20. Jahrhundert haben die allzu wissenschaftsgläubigen Weltanschauungen des Naturalismus, des Positivismus und des Szientismus die sokratischen Motive der europäischen Philosophie errneut verdrängt. Seit dem grausamen 20. Jahrhundert verdecken popular-freudianische und vulgär-marxistische Denkschablonen zusätzlich das genuine philosophische Denken. Daneben gibt es jedoch auch noch einige philosophisch Gebildete, die sich nicht nur nach der vermeintlichen Homogenität und Sicherheit der metaphysischen Gehäuse der römisch-katholischen Kirche
des Mittelalters zurücksehnen, sondern die auch wie der Romantiker Novalis wieder von einem christlichen Abendland träumen, das es so harmonisch wie in ihren Träumen weder gegeben hat noch wiederhergestellt werden kann.
Die Zahl derer, die noch verstehen, worum es beim authentischen Philosophieren im sokratischen Sinne der euro-päischen Tradition eigentlich gegangen ist, scheint kleiner zu sein, als uns lieb sein kann. Die sog. "Weltphilosophie"
von Karl Jaspers und einige andere Versuche einer "Weltgeschichte der Philosophie" im 20. Jahrhundert waren leider hermeneutisch und epistemologisch ziemlich naiv und viel zu harmonisierend im Hinblick auf tiefgreifende Differenzen, auf starke Abhängigkeiten von lebensweltlichen Bedingungen, auf gewisse Grenzen der Verstehbarkeit und sogar der Übersetzbarkeit von abstrakten Grundbegriffen. Ohne die Widerständigkeiten der Wirklichkeit, die Handwerker und Naturwissenschaftler nur allzu zu gut kennen, kommt es leider nur allzu oft zu einer narzisstischen Selbstbespiegelung und Selbtbeweihräucherung als weitläufig, weltoffen und tolerant. Man meint fremde Denkweisen zu verstehen, wäh-rend man eigentlich nur an der Oberfläche kratzt oder gar schwärmerisch in bloßen Worten schwelgt.
Viele amerikanische und europäische Akademiker, die sich mit der sog. interkulturellen Philosophie befassen, kennen oft ihre eigenen europäischen Traditionen gar nicht gründlich genug und machen sich daher auch oft nur scheinbar ein adäquates Bild von den außer-europäischen Denkweisen, da ihnen nur allzu oft die Grundkenntnisse von Arabisten, Sinologen oder Indologen über die jeweiligen fremden Sprachen, Kulturen und Religionen fehlen. So bewegen sie sich gewissermaßen in den seichten Gewässern von unverbindlichem Gerede ohne konkreten Sach- oder Textbezug und daher ohne handfeste Kriterien der Überprüfbarkeit von intendiertem Gehalt. Außereuropäische Denkweisen lassen sich nicht konsumieren wie exotische Gerichte in westlichen Schnellrestaurants.
© Ulrich W. Diehl, September 2021
Chinesische Philosophie: https://zh.wikipedia.org/wiki/%E4%B8%AD%E5%9B%BD%E5%93%B2%E5%AD%A6
Islamische Philosophie: https://ar.wikipedia.org/wiki/%D9%81%D9%84%D8%B3%D9%81%D8%A9_%D8%A5%D8%B3%D9%84%D8%A7%D9%85%D9%8A%D8%A9