Positionen im Streitgespräch

 

 

 

Charles Webb, Schachpartie
Charles Webb, Schachpartie

 

 

 

Positionen der Philosophie im Streitgespräch


‘Positionen der Philosophie’ nennen wir die Gesamtkonzeptionen des philosophischen Denkens, die außergewöhnliche und hervorragende Philosophen als schriftliche Resultate ihres langjährigen Nachdenkens über die Situation des Menschen in der Welt hinterlassen haben. Aus pragmatischen Gründen der begrenzten Kenntnisse und Lebenszeit sowie der sprachlichen und kulturellen Voraussetzungen zu einem angemessenen Verständnis des außereuropäischen Denkens werde ich nur die europäische Tradition des Philosophierens berücksichtigen.

Eine wirklichkeitsgemäße Erfassung der Situation des Menschen in der Welt betrifft jedoch nicht nur (1.) die ontologischen Grundstrukturen der Welt, also eine systematische Bestandsaufnahme alles dessen, was es in der raum-zeitlichen Welt der natürlichen und kulturellen Gegenstände, Ereignisse und Prozesse, der Pflanzen, Tiere und Menschen wirklich gibt, sondern auch (2.) was darüber hinaus von Menschen als geistigen Inhalten des Intelligiblen (Ideale, Prinzipien, Normen, Werte, Fiktionen, etc.) gedacht werden kann, und schließlich (3.) wie sich die Menschen zu diesen beiden Sphären der raum-zeitlichen Realität und der weitgehend sprachlich vermittelten Intelligibilität verhalten.

Philosophisches Denken würde immer unvollständig bleiben, wenn es nicht auch über die Sonderstellung des Menschen auf der Erde, die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Wahrnehmung, des sprachlichen Urteilens und des logischen Schließens, des sachhaltigen Erkennens und des spekulativen Nachdenkens selbst nachdenken würde. Logische, epistemologische und ontologische Fragen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen sich wechselseitig. Es gibt kein absolutes Primat der Logik, der Erkenntnistheorie oder der Ontologie. Alle drei Arten von Fragen sind voneinander abhängig und aufeinander bezogen.

Deswegen muss im philosophischen Denken immer auch über das Verhältnis von Wahrnehmen und Erkennen, Denken und Sein, Gott und der Welt nachgedacht werden, d.h. alles Denkbare überhaupt und nicht nur das Wahrnehmbare und Erkennbare muss einbezogen werden. Dabei ist es ganz gleich, wie die Funktion, Bedeutung und Reichweite der Wahrnehmung und des logischen Denkens und Schließens eingeschätzt wird, ob die vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Existenz von Gott und der Welt akzeptiert wird und wie die jeweilige systematische Reichweite des philosophischen Reflektierens im Unterschied zum empirischen Erkennen der Einzelwissenschaften selbst beurteilt wird.

Aus der Geschichte der europäischen Philosophie kennen wir verschiedene Philosophie, die sich gegenseitig ausschließen und miteinander rivalisieren. Da es ähnlich Arten von Positionen auch im chinesischen und indischen Denken gibt, dürfen wir annehmen, dass es universale Möglichkeiten und Muster des menschlichen Denkens gibt, die immer wieder in neuen kulturspezifischen Varianten auftauchen. Das bedeutet jedoch nicht, dass sie allesamt gleich gültig sind. Manche sind in sich selbst logisch widersprüchlich und andere nicht. Denn manche lassen sich epistemologisch durchhalten und andere nicht. In der bisherigen Geschichte der europäischen Philosophie wurden sie nicht nur gedanklich entwickelt, sondern auch kritisch diskutiert und damit geprüft. Manche Positionen haben sich theoretisch und praktisch bewährt, andere hingegen nicht.

Die überlieferten Positionen der Philosophie, die sich nicht bewährt haben, kann man zwar aus historischem Interesse und aus theoretischer Neugier immer noch als kuriose Produkte des menschlichen Geistes betrachten. Man kann sie historisch genau untersuchen und das ist die wichtige Aufgabe der Philosophiegeschichte als Geschichtsschreibung der Entstehung, Diskussion und des Wandels der philosophischen Positionen. Diese Forschung ist für das tiefere Verstehen des philosophischen Denkens unerlässlich, denn ohne die Kenntnis der Geschichte der Philosophie läuft man Gefahr, die Vielfalt der Möglichkeiten des menschlichen Denkens falsch einzuschätzen sowie die zahlreichen Denkfehler und Fallstricke des Denkens zu kennen, sodass man die Fehler aus der Vergangenheit wiederholt.

Im Studium der Geschichte der Philosophie kann man anhand überlieferter Quellen (meistens in schriftlicher Form) erforschen, wie und unter welchen Umständen die verschiedenen überlieferten Positionen entstanden sind, wer sie warum entwickelt hat und wie sie sich gegenseitig beeinflusst haben. Man kann auch gründlich erforschen, wie sie ursprünglich und bis in die Gegenwart hinein oftmals immer noch mit dem religiösen Bewusstsein zusammenhängen und wie sie bisher vom methodischen Forschen und theoretischen Denken der Einzelwissenschaften herausgefordert wurden und immer noch herausgefordert werden.


Von der Philosophiegeschichte zum Streit um die beste Position

Dennoch ist es nur eine historisch interessante Aufgabe, die überlieferten Positionen der Philosophie gut zu kennen und zu verstehen. Das ist Ziel und Aufgabe der Philosophiegeschichte. Es ist jedoch eine ganz andere und für das menschliche Leben existenziell wichtige Aufgabe, (1.) ihre logische Richtigkeit (Kohärenz), (2.) ihre inhärente Glaubwürdigkeit (Plausibilität), (3.) ihre inhärente Überzeugungskraft (rhetorische Stärke) und (4.) ihren inhärenten Wahrheitsgehalt (umfassende Wahrheit) angemessen zu beurteilen und zu bewerten. Das ist Ziel und die Aufgabe der systematischen Philosophie.

Beide Studiengebiete, nämlich die Geschichte und die Systematik der Philosophie lassen sich weder in der Rezeption und Didaktik der Philosophie noch in der Kenntnisnahme und Diskussion der überlieferten Positionen der Philosophie trennen. Trotzdem muss man sie in der Beurteilung und Bewertung der Positionen der Philosophie unterscheiden können. Denn der Philosophiehistoriker kann sich hinsichtlich der Beurteilung und Bewertung überlieferter Positionen des philosophischen Denkens zurückhalten und muss dies um der historischen Erforschung und des angemessenen Verstehens willen auch meistens tun. Das verbindende Glied zwischen der historischen Erforschung der Geschichte der Philosophie und dem aktuellen Studium der Systematik der Philosophie ist die Hermeneutik der Philosophie, also die Kunst des angemessenen Verstehens des philosophischen Denkens anhand der überlieferten Positionen und des Streites zwischen ihnen in der Vergangenheit und Gegenwart.

In der systematischen Betrachtung der Positionen der Philosophie verhalten sich philosophische Positionen zueinander nicht so wie sich verschiedene Tänze oder Stile oder Moden zueinander verhalten. (Ernst Tugendhat) Jemand kann verschiedene Tänze als eine Abfolge von Schritten und Bewegungen lernen. Zwar kann niemand verschiedene Tänze gleichzeitig ausführen, aber eben doch nacheinander in einer zeitlichen Reihenfolge. Picasso konnte nicht nur in einem Stil, sondern in ganz verschiedenen Stilen malen und darin bestand seine hohe Kunst; es war Zeichen seiner künstlerischen Begabung und seiner seltenen Genialität. So hatte er nach seiner akademischen Schulung im Stile alter Meister eine rosa Phase und eine blaue Phase, eine kubistische Phase und eine expressionistische Phase, etc.

Auch Moden kommen und gehen, aber sie widersprechen sich nicht in einer logischen Art und Weise so wie eine Behauptung, wie z.B. eine Zeugenaussage vor Gericht, und ihre Verneinung durch einen Anderen, d.h. logisch durch ihr kontradiktorisches Gegenteil. Verschiedene Moden vertragen sich nur insofern nicht miteinander als sie sich im Sinne einer bestimmten emotionalen Ausdruckweise und des dadurch ausgedrückten Lebensgefühls nicht gut vereinbaren lassen. Sie stehen nämlich nur miteinander in einem ästhetischen Spannungsverhältnis, aber nicht in einem sich wechselseitig ausschließenden logischen Widerspruchsverhältnis.

Philosophische Positionen bestehen jedoch aus allgemeinen Behauptungen, die sich nicht nur wie empirische Aussagen auf einzelne konkrete Sachverhalte in der Welt beziehen, sondern auf das menschliche Dasein in der Welt sowie auf das Dasein Gottes, das geglaubt, geahnt, anerkannt, angezweifelt oder geleugnet wird. Die Behauptungen des philosophischen Denkens stehen zu anderen Behauptungen in einem bestimmten logischen Verhältnis. Eine bestimmte philosophische Behauptung kann bejaht oder verneint werden. Man kann bestimmte Behauptungen aus anderen zu folgern versuchen. Manchmal gelingt das, ein anderes Mal nicht. Dies hängt nicht nur von dem Können der jeweiligen Menschen ab, wie bei den Künstlern und Modeschöpfern, sondern von den jeweiligen logischen Beziehungen zwischen den Gedanken selbst. Es gibt nun einmal Gedankengänge, die logisch schlüssig sind und andere, die das nicht sind. Dabei handelt es sich um bestehende Sachverhalte, die man erkennen und nachweisen kann, und nicht nur um ästhetische Sachverhalte, die eine Frage des guten Geschmacks sind oder um psychologische Einstellungen und Emotionen, die selbstverständlich von Mensch zu Mensch und von Situation zu Situation variieren können.

 

 

Versuche der Fundierung und Selbstrechtfertigung philosophischer Positionen

Philosophen haben immer wieder versucht, ihre Behauptungen nicht nur durch rhetorische Ausführungen in Form eines Plädoyers zu bekräftigen, damit sie an Plausibilität gewinnen und sie als Philosoph zu mehr Autorität gelangen können. Einige Philosophen, wie z.B. Spinoza, haben versucht, ihre Behauptungen und Überzeugungen in Form strenger Beweises nach Art der Geometrie (more geometrico) zu fundieren. Durch diese Methode wollte Spinoza seinem neo-stoischen Denken insbesondere wegen heftigen Angriffen von Seiten seiner jüdischen Gemeinde in Amsterdam als besonders luzide, d.h. distinkt in den Definitionen von Grundbegriffen, klar in der Formulierung von Axiomen oder ersten Grundsätzen und als logisch schlüssig und transparent in den Folgerungen aus diesen Grunsätzen ausweisen. Der Frühaufklärer Christian Wolff hatte ähnliches versucht, aber in Anlehnung an die logisch-mathematischen Methoden von Gottfried Wilhelm Leibniz die Auswahl und Anzahl der Grundsätze radikal minimiert. Das hat seine immanenten Grenzen, wie wir nach der Frühaufklärung von anderen Philosophen und Logikern, wie z.B. von Kant und Brentano, Frege und Husserl, Russell und Wittgenstein lernen konnten.

 

Immanuel Kant und Franz Brentano haben sich in ihren Philosophien sowohl mit dem naturalistischen Skeptiker David Hume, dem dogmatischen Empiristen John Locke, dem dogmatischen Idealisten Bishop Berkeley und dem methodi-schen Skeptiker und problematischen Idealisten Rene Descartes als auch mit den rationalistischen Dogmatikern Spinoza, Leibniz und Wolff auseinandergesetzt. Kant kam auf diese Weise zur erfolgreichen Synthese seiner kritischen bzw. transzendentalphilosophischen Position; Brentano kam auf diese Weise zu seiner inspirierenden evidenz-analytischen und psychologisch fundierten neo-aristotelischen Philosophie. Damit wurden beide Philosophen zu den paradigmatischen Denkern und Herausforderern zweier Hauptströmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, der logisch-analytischen Philosophie, im Anfang des logischen Empirismus des Wiener und des Berliner Kreises, und der evidenz-analytischen Phänomenologie im Anschluss an die Brentano-Schüler Carl Stumpf Edmund Husserl. Aber auch der Amerikanische Pragmatismus (Peirce, James, F.C.S. Schiller und Dewey) geht auf die Auseinandersetzung mit diesen beiden paradigmatischen Philosophien und die Beiträge ihrer Schüler zurück.

 

In der nachkantischen Periode des Deutschen Idealismus in seiner Jenaer Periode nach 1800 haben einige Philosophen, wie Fichte, Schelling, Reinhold, Fries und Hegel in Auseinandersetzung mit dem radikalen antiken Skeptizismus von Pyrrho von Elis und Sextus Empiricus das philosophische Problem des absoluten Anfangs bzw. eines unerschütterlichen Fundaments und des imposanten, aber sicher nicht realisierbaren Versuchs einer absoluten Grundlegung des ganzen philosophischen Wissens aus dem individuellen Ich bzw. Selbst sehr ernst genommen. Im Wesentlichen ging es dabei, das Problem des Skeptizismus, ob ich bzw. jemand überhaupt etwas mit Gewissheit erkennen und wissen kann, und das Problem des Solipsismus, ob ich bzw. jemand überhaupt etwas mit Gewissheit außer seinen unmittelbaren Emotionen (Affekten, Empfindungen, Gefühlen, Stimmungen, etc.) und auftauchenden momentanen Gedanken erkennen und wissen kann, zu lösen bzw. zu überwinden.

Philosophische Positionen können aufgrund der in ihnen enthaltenen Behauptungen und Folgerungen miteinander unvereinbar sein und wenn sie wirklich verschieden sind, dann sind sie es auch. Dies hat nicht nur in der Vergangenheit zu langwierigen, aber überaus fruchtbaren Streitigkeiten zwischen den unvereinbaren Positionen geführt. Auch heute noch streiten verschiedene Positionen und Schulen miteinander, leider nicht immer nur mit ihren Thesen und Antithesen, Argumenten und öffentlichen Wettbewerben, sondern nur allzu oft auch mit Strategien der Macht und des Marktes. Dies ist nicht allzu verwunderlich, weil es sich bei den meisten Philosophen nun eben nicht um Heilige des guten Willens handelt, wie Jesus von Nazareth, oder um Märtyrer der Wahrheit, wie Sokrates aus Athen, sondern um nur allzu fehlbare, manchmal recht mittelmäßige und bisweilen sogar uneinsichtige Menschen handelt, die sich in den Medien zur Schau stellen oder an Hochschulen, Universitäten und Akademien mit ihren ganz gewöhnlichen Interessen an einer bürgerlichen Existenz behaupten und durchsetzen wollen.


Die Rolle der formalen Logik im Streit der Positionen

Aus den Streitigkeiten zwischen verschiedenen philosophischen Positionen sind in der Geschichte der Philosophie nicht nur glänzende Sieger und schmachvolle Verlierer hervorgegangen. Auch sind die angeblichen Sieger, an die man sich immer noch erinnert, nicht immer die Philosophen mit den besten Positionen. Manchmal geraten Philosophen mit den besseren Positionen allzu sehr in Vergessenheit (Brentano), während andere wegen ihrer allzu monströsen Spekulationen (Fichte), wegen ihrer rhetorischen Begabung (Dilthey) oder sogar wegen ihrer skandalösen politischen Verirrungen (Heidegger) erinnert werden. Solche hochfliegenden Spekulationen können manchen Leuten immer noch ihren gesunden Menschenverstand rauben, die rhetorische Begabung mancher Philosophen vermag einige Menschen immer noch zu blenden und die politischen Verirrungen können eine dunkle Faszination ausüben.

Bei den Streitigkeiten zwischen philosophischen Positionen handelt es sich jedoch meistens nicht um ein kompliziertes Nullsummenspiel wie beim Schachspiel. In einem Nullsummenspiel gibt es immer einen klaren Sieger und einen eindeutigen Verlierer, es sei denn eine Partie geht einmal patt aus, was selbst beim Schachspiel eher selten vorkommt. Während es sich beim Schachspiel um ein Brettspiel mit einem genau vorgegebenen Spielfeld von Feldern und Figuren mit spezifischen Funktionen und bestimmten Zügen geht, die nach bestimmten Regeln erlaubt, verboten oder im Einzelfall sogar geboten sind, handelt es sich bei dem Streit zwischen Philosophen um ein offeneres System der Thesen und Antithesen, Positionen und Argumente, die mehr offene Spielräume für die Gedankengänge erlauben. Das kommt daher, dass anders als beim Schachspiel die Geltung bestimmter  Regeln, wie vor allem die Regeln der formalen Logik selbst wiederum thematisiert und problematisiert werden kann.

Es gibt also in der Philosophie nicht nur die formale Logik als das eine allgemein gültige System der Regeln des Philosophierens und des Streites zwischen den Philosophien in Analogie zu den Regeln des Schachspiels, die vom Internationalen Schachverband für verbindlich erklärt wurden. Sicher gibt es einige Philosophen, die gerne so tun, als ob die formale Logik bereits eine endgültige und nicht weiter bestreitbare Form gefunden hätte. Diese Auffassung widerstreitet jedoch der Vielfalt der philosophischen Positionen mit ihrem verschiedenen Verständnis von der Rolle und dem Kerngehalt der formalen Logik in ihrer Relevanz für die philosophischen Positionen und für den Streit zwischen den philosophischen Positionen.

Von der Bewertung der Bedeutung und Rolle der Formalen Logik für das philosophische Denken und den philosophischen Diskurs hängt nun aber auch die Möglichkeit ab, ob und wie der Streit zwischen den Positionen nach der Art von Spielregeln des Denkens und Argumentierens ausgetragen werden kann. Denn wenn es sich bei den philosophischen Positionen nur psychologisch oder gar ästhetisch betrachtet um verschiedene Denkstile oder gar denkerische Moden handeln würde, dass wäre ein Streit nach gemeinsamen verbindlichen Regeln in einem offenen Wettbewerb, dessen Verlauf und Ergebnis von kompetenten Außenstehenden als Schiedsrichtern beurteilt werden könnte, kaum noch durchführbar. Deswegen hängt es vor allem von der angemessenen Einschätzung der Bedeutung der Formalen Logik und anderer gemeinsamer Strukturen des gesunden Menschenverstandes ab, ob und inwieweit man die Philosophie für eine methodisch durchführbare Disziplin hält.


Skeptiker der philosophischen Erkenntnis

Skeptiker der philosophischen Erkenntnis, also nicht nur Skeptizisten, die alles oder fast alles Erkennen und Wissen infrage stellen, sondern auch Empiristen und Nominalisten sowie Sophisten und Nihilisten hat es von Anfang an in der europäischen Philosophie gegeben, wie wir aus den platonischen Dialogen wissen. Einige Skeptiker neigen nicht nur im Hinblick auf die Erkenntnismöglichkeiten der Philosophie, sondern auch in Bezug auf die Möglichkeit objektiver Erkenntnis in den Wissenschaften und Künsten zu einer zweifelnden oder ablehnenden Einstellung. Skeptische Naturalisten, Materialisten und Szientisten nehmen dabei meistens nur die Naturwissenschaften aus, während sie jenseits der exakten Naturwissenschaften gegenüber den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften an der realen Möglichkeit objektiver Erkenntnisse zweifeln. Diese Einschränkungen betreffen dann jedoch unweigerlich auch die öffentlichen Diskurse über die das Gemeinwohl in der Politik, über das Gerechte im Rechtstaat und über den Erfolg in der Wirtschaft.

Mit Skeptikern der philosophischen Erkenntnis ist sozusagen “kein Staat zu machen” und also auch kein moderner Rechtsstaat, der sich aufgrund seiner Einsicht in Ideale, Prinzipien, Normen und Werte dazu verpflichtet hat, die Grund- und Menschenrechte einer bestimmten Verfassung zu schützen. Dazu muss man nämlich zumindest davon überzeugt sein, dass es sich dabei nicht nur um eine zufällige und willkürliche Auswahl von beliebig konstruierten Rechtsansprüchen handelt, die historisch zufällig entstanden sind und aufgrund glücklicher Umstände durchgesetzt wurden. Wenn es so wäre, dann würde es sich beim modernen Rechtsstaat sowie den grund- und Menschenrechten nicht um etwas handeln, was unbedingt existieren soll und was man so gut wie eben möglich realisieren, erhalten und schützen sollte. Es würde sich vielmehr nur um eine Frage der bloßen politischen Meinungen und des erfolgreichen Durchsetzungswillens handeln, aber um keine gültige Einsicht in sittliche Ideen, Prinzipien, Normen und Werte.

Für konsequente Skeptiker der philosophischen Erkenntnis, wie z.B. für Empiristen, Naturalisten, Materialisten und Szientisten kann es jenseits moralischer Emotionen weder im Ethischen und Moralischen noch im Rechtlichen und Politischen eine Einsicht bzw. Erkenntnis des Guten und Bösen bzw. des Richtigen und Falschen geben. Es kann für sie nur die reine Faktizität geben, also das, was ist und was passiert. Ihrer Weltanschauung und Lebensweise zufolge, schwimmen sie selbst nur im unaufhörlichen Strom der wandelbaren Ereignisse (pantha rei), als ob es kein menschliches Schicksal gäbe, das sich anbahnt und das sich aus der Vorgeschichte ihrer Taten und Unterlassungen, ihrer Mängel und Schwächen, Verfehlungen und Verschuldungen ergibt.

Viele Skeptiker verhalten sich von daher eher wie misstrauische und ungeduldige, eifernde und gewinnsüchtige Menschen, die das gemeinsame Schachspiel umstoßen, wenn sie nicht gewinnen können. Sittliche Ideale und Prinzipien, Normen und Werte sind für sie bloße Spielregeln, die nur zum Schein gelten und in der Notlage aufgehoben und gebrochen werden. Skeptiker werden leicht zu egoistischen Spielverderbern, weil sie davon ausgehen müssen, dass es immer nur eine Frage der Zeit ist, wer zuerst die willkürlich gesetzten Spielregeln aufgibt, um sich durchzusetzen. Sie sind wegen ihrer skeptischen Einstellung geschickte Nullsummenspieler ohne feste und verbindliche Ideale, Prinzipien, Normen und Werte, weil sie selbst Recht und Moral für bloß zufällige soziale Spielregeln halten, die nur unter günstigen Bedingungen zum bloßen Schein gelten und hinter denen das nackte Grauen der Machtkämpfe auf Leben und Tod droht.

Skeptiker der philosophischen Erkenntnis halten sich jedoch gerade in der Moderne paradoxerweise für die eigentlichen Realisten. Nur wenige von ihnen bemerken selbst die Widersprüchlichkeit ihrer eigenen Position, Einstellung und Überzeugung. Wo sie die inneren Widersprüche ihres Denkens bemerken, halten sie diese für unerheblich, weil es im wirklichen Leben gar nicht auf das Ideal der Widerspruchsfreiheit ankommt, sondern nur auf den eigenen Erfolg, auf die Durchsetzung von selbst gesetzten Zielen sowie auf die Selbsterhaltung und Selbstbehauptung. Trotz ihrer angeblichen Skepsis meinen sie dann doch Vieles zu wissen, auch in Bezug auf das Ethische: Des Einen Sieg ist des Anderen Niederlage. Des Einen Gewinn ist des Anderen Verlust. Es gibt für sie keine echten Win-Win-Situationen und auch keine guten Kompromisse, keine sinnvollen gemeinsamen Unternehmungen und keine bewahrenswerten Konventionen, Traditionen und Institutionen. Für sie wirklich wichtig sind am Ende doch nur sie selbst mit ihren Interessen. Die Anderen sind eigentlich immer nur potentielle oder wirkliche Feinde eigener Interessen.

Skeptiker der philosophischen Erkenntnis sind jedoch weder aus einem Mangel an Intelligenz noch aus einem Mangel an Wohlwollen so skeptisch, wie sie erscheinen und tatsächlich auch sind. Im Gegenteil können sie selbst sogar sehr gutmütig und wohlwollend sein. Ihre Skepsis hat meistens tiefere psychologische Gründe in ihrer Persönlichkeit und Lebensgeschichte, die sie selbst gar nicht zu verantworten haben. Trotzdem können auch sie sich durch ernsteres Philosophieren und durch tiefere Selbsterkenntnis auf die Schliche kommen. Denn niemand wird als ein Skeptiker geboren und keiner muss es sein Leben lang Skeptiker bleiben.

Es gibt einen für alle Menschen gangbaren Weg zur philosophischen Erkenntnis, der von den skeptischen Positionen weg und zu kritisch-realistischen Positionen hinführt, die sowohl ein Erkennen und Wissen über empirisch prüfbare Sachverhalte in der Welt als auch sittliche Einsichten über ethische, moralische und rechtliche Probleme anerkennen. Aber bei dem Weg von der philosophischen Skepsis zur philosophischen Einsicht handelt es sich eher selten um einen rein philosophischen Denkweg. Meistens handelt es sich zumindest auch um einen biographisch reflektierten Lebensweg. Philosophisches Nachdenken und biographische Reflexion müssen zusammenwirken, so wie im Laufe der Lebensgeschichte die menschliche Natur, die menschliche Psyche und der menschliche Geist auf eine hoch komplexe und kaum durchschaubare Art und Weise zusammen wirken.


Die Seltenheit der Einsicht in philosophische Erkenntnis

Skeptiker aller Varianten gibt es immer noch zuhauf. Dabei mag es kaum noch überzeugte radikale Empiristen geben, weil es sich kaum noch verdrängen lässt, dass man die Prinzipien von Logik und Mathematik nicht durch Wahrnehmung und Erfahrung begründen kann. Auch gibt es nur noch wenige überzeugte Materialisten, weil heute selbst der harte Kern der exakten Naturwissenschaften, also von Physik, Chemie und Biologie sich selbst nicht mehr materialistisch verstehen lassen. Vermutlich die Mehrheit der sog. Analytischen Philosophen sind logische Empiristen, die ontologisch gesehen Naturalisten oder Szientisten sind, d.h. sie bezweifeln, dass es wirkliche Erkenntnis und Wissen außerhalb der formalen Wissenschaften von Logik und Mathematik sowie außerhalb der modernen Naturwissenschaften gibt. Naturalisten meinen, dass alles, was es überhaupt gibt, die irdische und kosmische Natur ist und alles, aus dem diese Natur besteht. Die Begriffe, Regeln und Prinzipien der Logik und Mathematik sind nur menschliche Konstrukte, die der Ordnung des Denkens über die menschliche Erfahrung von der Natur dienen. Szientisten meinen, das alles, was es in der Welt wirklich gibt, das und nur das ist, was uns die Naturwissenschaften über die Welt sagen und erklären. Die sittlichen Wertprobleme von Ethik und Moral, Recht und Politik gehören für sie jedenfalls nicht dazu. Sittliche Wertfragen unterscheiden sich demnach nicht wesentlich von subjektiven ästhetischen Wertfragen, die von der biographischen Herkunft und persönlichen Prägung abhängen, aus denen emotionale Reaktionen auf sinnliche Präsentationen hervorgehen.

Dass es philosophische Erkenntnis in Bezug auf Ethisches und Moralisches, Rechtliches und Politisches gibt, ist jedoch nicht erst seit der Neuzeit und Moderne umstritten, sondern es war teilweise auch schon am Anfang der europäischen Philosophie umstritten. Diese philosophiegeschichtliche Tatsache scheint prima facie für die Skeptiker der philosophischen Erkenntnis zu sprechen. Die bloße Vielfalt der philosophischen Positionen und die lange Geschichte des Streites um die beste philosophische Position nähren selbst den starken Zweifel der Skeptiker an der Möglichkeit und Wirklichkeit philosophischer Einsicht und Erkenntnis.

Angesichts der anhaltenden Vielfalt der philosophischen Meinungen und der Dauer der Streitigkeiten scheint es nahe zu liegen, dass die Philosophen die verschiedenen Positionen immer nur kennen gelernt, interpretiert, studiert und diskutiert haben, aber dass man dabei an kein wirkliches Ende kommen und keinen Streit aus guten Gründen schlichten kann. Wenn das wirklich so wäre, dann würde es um die Philosophie als Suche nach Wahrheit und als Streit um die bessere Position ziemlich schlecht stehen.

Aber so scheint es nur aus der Distanz der Anfänger und Zaungäste, die das Philosophieren nur vom sog. Hörensagen kennen und die oftmals eine nur oberflächliche Kenntnis von der Geschichte der Philosophie haben und meistens auch keine vertiefte Kenntnis vom systematischen und methodischen Philosophieren selbst haben. Das Hauptproblem der Skepsis an philosophischer Einsicht und Erkenntnis ist also der meistens nur halbwegs informierte Zweifel an der bloßen Möglichkeit philosophischer Erkenntnis und die weit verbreitete Ahnungslosigkeit, wie philosophische Erkenntnis methodisch überhaupt möglich ist.


Copyright: Ulrich W. Diehl, Heidelberg 2017
 

 


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Interview mit Karl Popper, Wege der Wahrheit
Dieses Interview über Wissen und Wissenschaft, Intuition und Erkenntnis, über die Theorien von Darwin, Marx und Freud, über Demokratie, Offene Gesellschaft und Wohlfahrtsstaat, etc. gab Sir Karl Popper im Februar 1982 der französischen Wochenzeitschrift L’Express.
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