Freiheitsbegriffe

 

 

Jaspers’ Existenzerhellung der Freiheit

 

Ulrich Diehl

 

 

Abstract

 

In seiner ‘Existenzerhellung der Freiheit’ reflektiert Jaspers, das Problemfeld der Freiheit in einem Kontrast zu den Begriffen, Phänomenen und Bedingungen der Unfreiheit und der Grenzen der Freiheit. Dem Problemfeld der Freiheit kann man im Denken und Handeln nur dann gerecht werden, wenn man nicht nur zwischen den verschiedenen Begriffen und Phänomenen der Freiheit unterscheidet, sondern auch zwischen den verschiedenen Begriffen und Phänomenen von Grenzen der Freiheit, wie z.B. durch die allgemeine Naturgesetzlichkeit und die menschliche Natur, durch besondere Bedingungen in Natur, Kultur und Gesellschaft, durch gesundheitliches Befinden und individuelle Persönlichkeit, durch situative Begrenzungen, normative Forderungen und konkrete Grenzsituationen, wie z.B. von Leiden, Kampf, Schuld, Wagnis und Tod zeigen.

 

Jaspers hat sich zum Problemfeld der Freiheit sowohl in seiner Allgemeinen Psychopathologie, in seinen patho-graphischen Untersuchungen, in seiner Psychologie der Weltanschauung und in einigen seiner philosophischen Schriften geäußert. Im zweiten Band seines frühen Hauptwerkes Philosophie mit dem Titel Existenzerhellung hat er jedoch eine umfassende Abhandlung zu dem komplexen Problemfeld der Freiheit verfasst. Dort behandelt Jaspers fast alle wesentlichen Begriffe und Phänomene der Freiheit bis hin zu seiner Konzeption einer existenziellen Freiheit.

 

Jaspers geht anfangs von einem unbestimmten Begriff der Freiheit aus, dem kein bestimmtes Phänomen entspricht und der deswegen nur Illusionen erzeugen und einem ideologischem Denken dienen kann. Dann aber unterscheidet Jaspers zwischen verschiedenen Begriffen und Phänomenen der Freiheit. Dabei scheint er nicht nur wie die meisten zeitgenös-sischen Philosophen an Locke und Hume, Kant und Brentano, Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill anzuknüpfen, sondern auch an die Konzeptionen des Selbstbewusstseins bei Hegel, Fichte und Schelling. Da sich Jaspers nicht zuletzt auch mit den Schriften von Kierkegaard und Nietzsche auseinandergesetzt hat, gelangt er zu einer besonders umfangreichen und differenzierten Diskussion des ganzen Problemfeldes der Freiheit in der Moderne.

 

 

Jaspers hat jedoch nicht nur verschiedene Freiheitsbegriffe und -phänomene unterschieden, sondern er hat auch zu den überlieferten Denkweisen im Form einer existenzphilosophischen Erhellung der Freiheit Stellung genommen. Dabei hat Jaspers’ Stellungnahme anders als viele zeitgenössische Beiträge über Freiheit und Determinimus den deutlichen und bewahrenswerten Vorzug, dass sie die unverfügbare und irreduzible Subjektivität der Willensfreiheit anerkennt. Damit knüpft Jaspers an Kants Einsicht an, dass der Freiheit des menschlichen Willens und ihrer praktischen Wirksamkeit immer nur die subjektive Evidenz inneren Erlebens zukommen kann. Dies unterscheidet sie von der Wahl- und Handlungsfreiheit, die man auch in konkreten Handlungssituationen objektiv feststellen kann. Der Freiheit des menschlichen Willens kommt damit weder die Objektivität empirischer Erkenntnis noch metaphysische Notwendigkeit zu.

 

Die subjektive Evidenz des Erlebens eines freien Willens spricht nach Jaspers jedoch auch gegen einen weltanschau-lichen, methodischen oder metaphysischen Determinismus, der sie aufgrund seiner Annahme einer kausal geschlossenen Wirklichkeit leichtfertig für eine bloße Illusion hält. Eine deterministische Weltanschauung oder Philosophie kann der condition humaine zumindest dann nicht gerecht werden, wenn sie die evidente Subjektivität eines freien Willens nicht auf eine plausible Art und Weise integriert. Jaspers’ wird der potentiellen Freiheit des menschlichen Willens dadurch gerecht, dass er ihre unverfügbare und irreduzible Subjektivität versteht und akzeptiert und erst gar nicht den abwegigen Versuch macht, sie durch eine objektivierende Einstellung zu objektivieren, wissenschaftlich zu erklären oder gar zu beweisen.

 

 

Niemand ist hoffnungsloser versklavt als der,

der fälschlich glaubt, frei zu sein.

 

Johann Wolfgang von Goethe

 

 

Wer sich mit Jaspers’ Überlegungen zum Problemfeld der Freiheitsbegriffe und -phänomene auseinandersetzen möchte, tut gut daran, zwischen vier verschiedene Arten von Beiträgen zu unterscheiden, die er im Laufe seines Lebens zu diesen Fragen publiziert hat: (1.) seine psychiatrisch-theoretischen Überlegungen im Rahmen seiner Allgemeinen Psychopathologie, (2.) seine pathographischen Studien, (3.) seine psychologischen Untersuchungen in der Psychologie der Weltanschauungen und (4.) seine Reflexionen in den philosophischen Haupt- und Nebenwerken. Bisher gibt es noch keine eigenständige Monographie zu Jaspers’ Verständnis von der Freiheit, die diese vier Arten seiner Schriften angemessen berücksichtigen würde. Einen Anfang dazu hat der Oldenburger Tagungsband Philosophie der Freiheit zum einhundertsten Geburtstag von Karl Jaspers gemacht. 1 Ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einer solchen Unter-suchung ist Yusuf Örneks Monographie Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, die hauptsächlich auf dem sechsten Kapitel mit dem Titel Freiheit aus Jaspers‘ zweiten Band der Philosophie: Existenzerhellung basiert. In dieser Untersuchung werden jedoch Jaspers‘ Allgemeine Psychopathologie, seine pathographischen Schriften und seine Psychologie der Weltanschauungen kaum berücksichtigt. Jaspers‘ Philosophie insgesamt als eine „Philosophie der Freiheit“ zu bezeichnen, scheint mir aufgrund seines tiefen Verständnisses für die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit missverständlich zu sein. Jaspers kennt und versteht die verschiedenen Grenzen, die der menschlichen Freiheit immer schon durch die Realität der natürlichen Ordnungen, durch die Vielfalt der kulturellen, ökonomischen und politischen Umstände, durch die menschliche Natur, die schicksalhaften Grenzsituationen und die sittlichen Forderungen gesetzt werden. 2

 

 

1. Jaspers Schriften zum Problemfeld der menschlichen Freiheit

 

Eine Untersuchung zum ganzen Problemfeld der Freiheit bei Karl Jaspers müsste in chronologischer Reihenfolge (1.) von Jaspers’ Allgemeiner Psychopathologie als seinem umfangreichen und komplizierten psychiatrischen Hauptwerk ausgehen. 3 Jaspers ist es darin erstmals gelungen, die bis dahin noch relativ eklektische Psychopathologie als eine allgemeine Lehre von den verschiedenen Formen psychopathologischer Erkrankungen zu systematisieren. Dazu hat er die Psychopathologie methodisch reflektiert und sie als eine Humanpsychologie auf phänomenologisch-hermeneu-tischer Grundlage verstanden, die verstehende und erklärende Methoden zusammenführt. Dabei kam es Jaspers vor allem darauf an, einen naturalistischen Objektivismus und Reduktionismus zu vermeiden, der ausschließlich auf der Beobachtung und Erklärung des faktischen Verhaltens von Menschen aus der Perspektive der Dritten Person basiert. Damit hätte er nämlich nicht nur die phänomenologische Perspektive der Ersten Person des passiv erlebenden und aktiv tätigen Subjektes ausgeschlossen, das etwas Bestimmtes und Bestimmbares empfindet, fühlt, begehrt, vorstellt, meint, denkt, wünscht, hofft, überlegt, plant, will, entscheidet und handelt. Damit hätte Jaspers auch die phänomeno-logische Perspektive der Zweiten Person ausgeschlossen, also die intersubjektive Realität der Wahrnehmung des Anderen und der Interaktion mit dem Anderen, und zwar sowohl des Anderen als einem eigenständigen Subjekt, das mir begegnet, als auch des Anderen als einem anderen Subjekt, dem ich begegne.

 

Sodann müsste man (2.) seine pathographischen Studien als diagnostische Anwendungen und Erprobungen der in der Allgemeinen Psychopathologie erläuterten Begriffe, Konzeptionen und Methoden anhand von Einzelfallanalysen auf-fassen. Zwar finden wir in diesen Studien keine allgemeine psychopathologische Konzeption der menschlichen Fähigkeit zur Willensbildung, die immer nur mehr oder weniger frei, weil mehr oder weniger psycho-physisch gesund ist. Statt dessen finden wir dort diagnostische Überlegungen zur individuellen Entwicklung von psychisch gefährdeten Künstlern, wie z.B. von Strindberg oder van Gogh, d.h. zu ihren idiographischen Verhaltensmustern und persönlichen Gewohn-heiten sowie zu ihren wichtigen Lebensentscheidungen, soweit sie sich auf dem Hintergrund der Kenntnis ihrer Lebensgeschichte und ihrer Persönlichkeitsstruktur rekonstruiert ließen. 4

 

Was in pathographischen Einzelfallbetrachtungen und Diagnosen dem Subjekt als situatives Moment und psycho-logisches Resultat einer freien Entscheidung erscheint, wird dann jedoch von einem gewissenhaften Pathographen möglichst objektiv als eine lebensgeschichtlich situierte und persönlichkeitsbedingte Wahl zwischen Alternativen charakterisiert. Ein Akteur hat zumindest solange den persönlichen Eindruck, aus freien Stücken zwischen verschie-denen Alternativen wählen zu können, als seine zukünftige Entscheidung und Handlung noch ansteht und von daher auch für den Zuschauer noch offen bleibt, welche der beiden Alternativen er wählen wird. Sobald ein bestimmter Akteur jedoch in einem als gegenwärtig erlebten Moment seine Entscheidung getroffen und seine Handlung ausgeführt hat, wird sie gleichsam zu einem unwiederholbaren Faktum. Daraufhin können sowohl der Akteur selbst – aus der Perspektive der ersten Person – als auch andere Zuschauer und Interpreten – aus der Perspektive der dritten Person – retrospektiv seine getroffene Entscheidung und ausgeführte Handlung im Lichte der in seiner vergangenen Lebens-situation faktisch vorhandenen Alternativen beschreiben und erklären, indem sie nach den persönlichen Motiven und bewusst erwogenen Gründen fragen, die mutmaßlich die Entscheidung und Handlung bestimmt haben. Allerdings kann es sich bei solchen idiographischen Pathographien immer nur um möglichst fundierte hypothetische Rekonstruktionen vergangener Situationen und um hypothetische Diagnosen früherer Persönlichkeiten handeln, die auf einer gewissen-haft interpretierten Sammlung von biographischem Materialien heraus präpariert werden müssen. In dieser Hinsicht befinden sich Pathographen in einer ähnlichen epistemischen Situation wie Kriminalkommissare, die herausfinden müssen, welche Interessen und Motive sowie welche Überlegungen und Gründe für eine bestimmte Tat entscheidend waren.

 

Aber selbst dann, wenn der epistemische Zugang zur Entscheidung und Handlung eines Akteurs direkter und damit auch meistens zuverlässiger ist, können Selbst- und Fremdinterpreten retrospektiv auch nur von der relativen Wahl-freiheit des Akteurs zwischen subjektiv wahrgenommenen und objektiv nachweisbaren Alternativen sprechen. Denn für das Verstehen und Erklären der relativen Wahl- und Handlungsfreiheit eines Akteurs unter den faktischen Bedingungen der vergangenen Situation, ist es vergleichsweise gleichgültig, ob jemand als Selbstinterpret oder als Fremdinterpret der faktisch gewordenen Entscheidung und Handlung des Akteurs auftritt. In beiden Fällen kann es nämlich zu gewissen Täuschungen kommen, d.h. entweder zu Selbst- oder zu Fremdtäuschungen, und in beiden Fällen können die Inter-preten der faktischen Entscheidung und Handlung des Akteurs – entweder als sich selbst interpretierende Akteure oder als interpretierende Zuschauer – überlegen, recherchieren und vermuten, welche relevanten Motive und Gründe für die getroffene Entscheidung und ausgeführte Handlung als Ausgangsbedingungen notwendig und als entscheidende Impulse hinreichend gewesen sind. Das gilt sowohl (a.) im Falle von objektiven Interessen und unbewussten Motiven als auch (b.) im Falle einer zweckrationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen jenseits von objektiven Interessen und unbewussten Motiven sowie schließlich (c.) im Falle einer willentlichen Selbstbestimmung im Anschluss an eine normative Reflexion über subjektive sittliche Maximen oder über intersubjektive moralische oder rechtliche Ideale, Prinzipien, Normen und Werte. Für die Willensfreiheit jedoch kann man im Unterschied zur Wahl- und Handlungsfreiheit kaum mit Fug und Recht behaupten, dass der Wechsel von der Perspektive der ersten Person zur Perspektive der dritten Person epistemisch nicht relevant wäre.

 

Weiterhin enthält (3.) Jaspers’ Psychologie der Weltanschauungen (PW) ebenfalls kaum allgemeine Aussagen zum philosophischen Problemfeld der Willensfreiheit und den damit verbundenen Themen. 5 Da diese Weltanschauungs-psychologie eine systematische Darstellung, geisteswissenschaftliche Deutung und philosophische Erläuterung verschiedener Typen von psychologischen Einstellungen, Weltanschauungen und Mentalitäten darstellt, taucht in ihr das Phänomen der menschlichen Fähigkeit zu einer mehr oder weniger freien Willensbildung fast nur als ein bestimm-ter Inhalt eines weltanschaulichen Glaubens oder einer menschenbildlichen Überzeugung auf, die nach Jaspers vor allem für die psychologische Einstellungen des enthusiastischen Typus sowie für die philosophischen Weltanschau-ungen vom idealistischen Typus charakteristisch ist. 6

 

In seiner Psychologie der Weltanschauungen (PW) unterscheidet Jaspers im Kapitel I mit dem Titel Die Einstellungen zunächst zwischen (a.) einer gegenständlichen Einstellung, (b.) einer selbstreflektiven Einstellung und (c.) einer enthusiastischen Einstellung der Hingabe, der Liebe, des Verstehens, des Kampfes und des Schaffens. Ausführlicher behandelt Jaspers das Thema der Freiheit des Willens und der Freiheit des Menschen als Inhalt eines menschen-bildlichen Glaubens und eines weltanschaulichen Ideals weder im Kapitel I über Die Einstellungen noch im Kapitel II über die Weltbilder, sondern vielmehr in Kapitel III über Das Leben des Geistes. Aber auch hier diskutiert Jaspers den Glauben an die Existenz eines freien Willens und an das dadurch ermöglichte Freiheitsbewusstseins des Menschen erst im Anschluss an seine weltanschauungs-psychologische Diskussion (i.) der gegensätzlichen Haltungen von Optimismus und Pessimismus, (ii.) des menschlichen Umganges mit den Grenzsituationen von Leiden, Kampf, Tod, Zufall und Schuld sowie (iii.) des weltanschaulichen Skeptizismus und Nihilismus. 7

 

Wer nach Jaspers seinen letzten weltanschaulichen „Halt im Begrenzten“ der ideologischen „Gehäuse“ sucht und findet, wird wahrscheinlich eher zu einem geschlossenen Weltbild der allgemeinen und lückenlosen Kausalität in der Natur und damit zu einem allgemeinen, d.h. physikalischen, biologischen und psychologischen Determinismus neigen. Wer hin-gegen zur phänomenologischen Offenheit und damit zum „Halt im Unendlichen“ neigt, dem scheint der lebendige und tätige Geist in sich selbst unendlich weit, unauslotbar tief und weitgehend frei zu sein. Insofern es sich bei diesen beiden Möglichkeiten jedoch nur um allgemeine Persönlichkeitstypen handelt, lassen sie sich nur bedingt auf individuelle Persönlichkeiten der lebensweltlichen Begegnung und der fiktionalen Betrachtung anwenden. 8

 

Solche Betrachtungen und Diagnosen über idealtypische Konstellationen menschlicher Mentalitäten sagen kaum etwas über die existenzielle Frage aus, ob jemand (ich, du, er sie, es, etc.) als ein ganz bestimmter Mensch N.N. zu einem bestimmten Zeitpunkt t* und in einer bestimmten Situation S* in seinem früheren Leben wirklich frei gewesen ist, sodass er auch hätte anders entscheiden und handeln können, als er de facto entschieden und gehandelt hat. Wir werden nämlich kaum eine Biographie oder Pathographie finden, in der wir seine konkrete Situation und Persönlichkeit so genau und vollständig gespiegelt finden, dass wir auf diese existenzielle Frage eine eindeutige Antwort erhalten könnten. Eine vollständige Spiegelung wäre nicht einmal in der sorgfältigen Autobiographie eines authentischen Autors möglich, da auch sie manche täuschungsanfälligen Erinnerungen und Selbstdeutungen enthalten würde, die selbst bei einer gewissenhaften Auseinandersetzung mit zuverlässigen Fremddeutungen und Erinnerungen Anderer immer noch manche blinden Flecken und manche Selbsttäuschungen enthalten würde. 9

 

Um in einem objektiven oder gar wissenschaftlichen Sinne wirklich zu wissen, ob es sub specie aeternitatis überhaupt so etwas wie eine persönliche Schuld gibt, müsste jemand das ganze innere und äußere Leben eines einzelnen Menschen kennen. Dies ist jedoch nicht einmal für diesen einzelnen Menschen selbst möglich, geschweige denn für andere Menschen. Aber auch, wenn sich diese metaphysische Frage nach der persönlichen Schuld sub specie aeternitatis nicht beantworten bzw. entscheiden lässt, können wir kaum in Abrede stellen, dass es sub specie societatis sowohl subjektiv als auch objektiv angemessene Schuldgefühle und Schuldurteile gibt. Denn solche Schuldgefühle und Schuldurteile, die sich auf bestimmte Absichten, Entscheidungen und Taten beziehen, gehören zweifelsohne zu einer interpersonalen Moral und einer positiven Rechtsprechung sowie zu einem möglichst friedlichen, gerechten und gedeihlichen menschlichen Zusammenleben in einer jeden zivilisierten Gesellschaft. 10

 

Jaspers’ weltanschauungspsychologische Betrachtungen über idealtypische Konstellationen menschlicher Mentalitäten sagen auch kaum etwas über die allgemeine Frage der philosophischen Anthropologie aus, ob und inwieweit „der Mensch“ als Gattungswesen einem lückenlos determinierenden Kausalzusammenhang einzeln genommen notwendiger und zusammen genommen hinreichender Bedingungen unterworfen ist. Selbst eine aufmerksame Lektüre vieler in sich schlüssiger Pathographien, die zumindest aus methodischen Gründen eine durchgängige psychologische Determination voraussetzen (müssen), wird nicht mehr als eine psychologische Denkgewohntheit in Sinne einer induktiven Verallgemeinerung rechtfertigen, aber keine philosophische Begründung der allgemeinen und notwendigen Gültigkeit des Prinzips der Universalität der Kausalität liefern können. Diese Einsicht haben wir der philosophischen Aufklärung des kausalen Denkens und Urteilens durch Hume und Kant zu verdanken. Deswegen scheint ein allgemeiner und strenger Determinismus, der auf die für den ganzen Menschen relevante Gebiete des Physischen, Organischen, Psychischen und Mentalen angewandt wird, zumindest prima facie die Realmöglichkeit einer faktischen, wirksamen und täuschungsfreien Freiheit des Willens auszuschließen. Dies gilt zumindest dann, wenn ein solcher Determinismus implizieren würde, dass Willensfreiheit nur dann möglich wäre, wenn dem persönlichen Willen überhaupt keine konkreten Motive und Überlegungen vorausgegangen dürften, die den psychischen Prozess der Willensbildung eines Akteurs hinreichend bestimmt haben. Bei unserem gewöhnlichen und alltäglichen Verstehen und Erklären willentlicher Entscheidungen und Handlungen erwarten wir jedoch keine solche Abwesenheit von Motiven und Gründen.

 

Philosophisches Vorbild für einen solchen allgemeinen und strengen Determinismus, wie er der Newton‘schen Mechanik zugrunde lag und damit auch noch für Kants physikalisches Naturverständnis paradigmatisch wurde, ist der Laplace‘sche Determinismus, demzufolge man idealiter einen jeden x-beliebigen Zustand Zx eines mechanischen Systems Sm zu einem bestimmten Zeitpunkt t* durch Berechnungen anhand der bekannten naturgesetzlichen Prinzipien P1 - Pn voraussagen kann, wenn man nur alle relevanten Ausgangsbedingungen A 1-n dieses Systems Sm kennt und von allen irrelevanten Randbedingungen R 1-n abstrahiert. Aus der Perspektive eines solchen allgemeinen und strengen Determinismus bliebe dann prima facie nur noch die nicht nur denkbare, sondern auch erfahrbare Realmöglichkeit einer scheinbaren Als-Ob-Freiheit des Willens im Sinne des Neukantianers Hans Vaihinger bestehen. 11

 

Schließlich müsste man (4.) Jaspers’ philosophischen Haupt- und Nebenwerke durchforsten, um die Entwicklung seines philosophischen Denkens zum Thema der Freiheit des Willens und des Menschen zu untersuchen. Dabei müsste man zuerst klären, was es für Jaspers überhaupt heißt, nicht nur die Willensfreiheit, sondern auch alle anderen Begriffe und Phänomene der Freiheit weder im einzelwissenschaftlichen Rahmen einer Studie zur empirischen Wissenschaft der psychiatrischen Psychopathologie noch im psychopathologischen Rahmen einer diagnostischen Kunst der patho-graphischen Analyse und Interpretation noch im vorphilosophischen Rahmen einer verstehenden Psychologie der Weltanschauungstypen zu behandeln, sondern in dem sicher etwas freieren gedanklichen Spielraum der philo-sophischen Reflexion. In diesem gedanklichen Spielraum des philosophischen Denkens müssen bestimmende und reflektierende Urteilskraft kooperieren, um zu einem den Phänomenen angemessenen Verständnis der theoretischen, praktischen und poietischen Potentiale der menschlichen Intelligenz zu gelangen, die in Sinnlichkeit und Verstand, Urteilskraft und Vernunft enthalten sind.

 

Während nach Kant die reflektierende Urteilskraft zumindest im Falle der Beurteilung des Schönen und Erhabenen in Natur und Kunst ganz regelfrei und ohne apriorische Prinzipien zur Urteilsbildung kommen soll, kann dies jedoch kaum für die reflektierende Urteilskraft im freieren Spielraum des philosophischen Denkens gelten. Denn dort kann man auf keine Weise über die apriorischen Vorgaben der menschlichen Intelligenz nachdenken, ohne sich immer schon ihrer logischen und begrifflichen, kategorialen und methodischen Vorgaben zu bedienen. Philosophisches Denken als ein ergebnisoffenes Denken der reflektierenden Vernunft kann sich deswegen immer nur dadurch realisieren, dass es gewissen logischen und begrifflichen, kategorialen und methodischen Vorgaben genüge leistet. Dies gilt auch und gerade dann, wenn es solche normativen Vorgaben selbst thematisiert und diskutiert. 12

 

Auch für Jaspers scheint die philosophisch reflektierende Urteilskraft im Denken, Urteilen und Reflektieren nicht ganz und gar frei von solchen begrifflichen, kategorialen und methodischen Vorgaben zu sein. Denn eine unbegrenzte Freiheit im Denken, Urteilen und Reflektieren kann nur zu einer skeptizistischen und relativistischen Beliebigkeit des Denkens führen, aber nicht zu einem besonnenen Philosophieren mit Sinnlichkeit und Verstand, Urteilskraft und Vernunft. Zwar hat es von den antiken Sophisten und Skeptikern angefangen bis hin zu den neuzeitlichen Skeptikern und modernen Dekonstruktivisten in der europäischen Philosophie immer wieder auch ein anarchisches Denken, Urteilen und Reflektieren gegeben. Jaspers bemühte sich jedoch um eine intellektuell anspruchsvolle Vernunft-philosophie und bezeichnete deswegen ab Ende der 30er Jahre sein Philosophieren auch ganz bewusst nicht mehr als eine Existenzphilosophie, die sich bloß mit dem lebensgeschichtlich Zufälligen und Bruchstückhaften eines aphoristischen Denkens zufrieden gibt. Weil ein solches Denken jedoch gar nicht zu einem tieferen Verständnis der Würde und Bürde der menschlichen Existenz führen kann, verfallen nicht wenige Existenzphilosophen in ihrer Lebenspraxis wieder irgendeiner unreflektierten Ideologie, wie z.B. dem Marxismus oder der Psychoanalyse, irgendeinem sturen Traditionalismus oder auch nur dem jeweiligen Zeitgeist. 13

 

Mit seinem Bekenntnis zum klassischen Denken einer sich selbst transzendierenden Vernunft grenzt sich Jaspers sowohl von Kierkegaard ab, der meinte, wegen seines christlichen Glaubens dem Paradoxen zustimmen zu müssen, als auch von Nietzsche, der in seiner prometheischen Selbstbehauptung meinte, seiner eigenmächtigen Willkür den Vorrang vor den impliziten Anforderungen des Common Sense geben zu müssen. Da der Common Sense jedoch in einer allge-meinen Subjektivität gründet, kann sich kein besonnenes Philosophieren von den logischen Prinzipien der Vernunft oder von den methodischen Kategorien des Verstandesgebrauches im Umgang mit den gegenständlichen Phäno-menen des Alltagslebens und der wissenschaftlichen Praxis dispensieren, ohne damit auch die seelische und geistige Gesundheit des Menschen zu gefährden, von dessen psychosomatischer Verfassung sie abhängig ist. 14

 

2. Das Problemfeld der Freiheit auf dem Hintergrund der europäischen Philosophie

 

Unter seinen philosophischen Hauptwerken 15 und Nebenwerken 16 ist es vor allem der Zweite Band des frühen Hauptwerkes Philosophie mit dem Titel Existenzerhellung, der wohl am ausführlichsten das Problemfeld der menschlichen Freiheit behandelt. Im Unterschied zu den begrifflichen Unterscheidungen von Hume, Kant, Wilhelm von Humboldt, John Stuart Mill und Franz Brentano, die in die philosophischen Lexika und Enzyklopädien für Philosophie und Wissenschaftstheorie eingegangen sind, geht es bei Jaspers’ Versuch einer „Existenzerhellung der Freiheit“ nicht nur um die Phänomene der Freiheit, die durch die bekannteren philosophischen Freiheitsbegriffe (1.) der Willensfreiheit (WiF), (2.) der Wahlfreiheit (WaF) und (3.) der Handlungsfreiheit (HF), (4.) der Willkürfreiheit (WkF) und (5.) der sittlichen Freiheit (SF), sondern auch um (6.) den metaphysischen Begriff der absoluten bzw. „transzendentalen Freiheit“ (AF), dem zwar kein Phänomen in der wirklichen Welt entspricht und der anders als bei Hume, Brentano und Mill, zumindest bei Kant, Fichte und Hegel eine gewisse Rolle spielt. Die Berücksichtigung dieser besonderen, vom menschlichen Intellekt abhängigen Freiheit führt dazu, dass Jaspers, die mit ihr verbundenen geistigen Potentialitäten (7.) des persönlichen Freiheitsbewusstseins (FB), (8.) des Freiheitsbewusstseins der sittlichen Autonomie (FSA) sowie schließlich (9.) der existenziellen Freiheit (EF) einbeziehen kann. Das unterscheidet seinen Denkansatz nicht nur von den logischen Empiristen der analytischen Philosophie, wie z.B. von Ludwig Wittgenstein, Bertrand Russell und George Edward Moore, sondern auch von Phänomenologen wie Martin Heidegger, Max Scheler oder Maurice Merleau-Ponty. Auf die beiden Wegbereiter der Phänomenologie Franz Brentano und Edmund Husserl trifft dies jedoch nicht zu, da Brentano in seinen Schriften zur Ethik auch eine „sittliche Freiheit im eminenten Sinne“ kennt und da Husserl in seinen Untersuchungen zur Ethik auch einige Gedanken aus Fichtes Theorie des Selbst- und des Freiheitsbewusstseins aufgenommen hat. 17

 

Den fundamentalen Begriff der Handlungsfreiheit (HF), unter dem man gewöhnlich seit Aristoteles die äußeren Bedingungen subsumiert, die menschliches Handeln durch reale Widerstände, Umstände und Wirkkräfte einschränken und erzwingen können, diskutiert Jaspers zwar nicht explizit, wohl aber der Sache nach in seinem Abschnitt über Freiheit und Notwendigkeit. Im selben Abschnitt finden wir zwar auch einige Bemerkungen zum Begriff der politischen Freiheit (PF) (liberty), mit dem man die sozialen und politischen Phänomene der freiwilligen Assoziation und Separation, Kommunikation und Kooperation, aber auch das antagonistische Zusammenspiel der vielfältigen Konflikte zwischen Menschen und Bürgern in den Gemeinschaften und Verbänden eines bestimmten Staates bezeichnet. Da Jaspers die politische Freiheit jedoch ausschließlich im Anschluss an Hegel diskutiert, fehlt ihm dabei noch der normative Begriff der (FR) der Freiheitsrechte (liberties) als einem wesentlichem Bestandteil der Bürger- und Menschenrechte, die in moder-nen Rechtsstaaten zumindest formell garantiert werden. 18

 

Der normative Begriff der politischen Freiheit (PF) setzt zwar den deskriptiven Begriff der äußeren Handlungsfreiheit (HF) voraus, aber nicht unbedingt einen bestimmten Begriff von innerer Willensfreiheit (WiF). So kannte z.B. Aristoteles (2.) den Begriff der Handlungsfreiheit als Freiheit der Tätigkeit (praxis) eines Akteurs von äußeren Einschränkungen und Zwängen und der freien Bürger im Unterschied zu Sklaven, Frauen und Kindern, aber keinen Begriff der inneren Willens-freiheit, sondern nur den Begriff der praktischen Überlegung (boulesis) eines Akteurs im Vorfeld einer Handlung sowie den Begriff von der praktischen Wahl oder Entscheidung (prohairesis) eines Akteurs, die in einer Handlung mit Frei-willigkeit (hekousion) resultiert. Deswegen konnte ein ontologischer Materialist wie Thomas Hobbes und ein psychologischer Determinist wie Baruch de Spinoza über die vertragstheoretischen Bedingungen eines Staates nachdenken, der ein bestimmte Maß an eingeschränkter Religionsfreiheit (religious tolerance) und an Freiheit des Philosophierens (libertas philosophandi) gewährt, ohne anzunehmen, dass es wirklich einen freien Willen gibt, der mehr ist als die bloß intellektuelle Einsicht in die Notwendigkeit des stärksten Motivs oder Affektes, die in einem Menschen ein bestimmtes Verhalten herbeiführen.

 

Jaspers diskutiert im Sechsten Kapitel zum Thema Freiheit des zweiten Bandes seiner Philosophie mit dem Titel Existenz-erhellung (Ph II) solche naturalistischen Positionen unter dem Stichwort naturalistische Ethik und stellt sie einer heroi-schen Ethik gegenüber. 19 Ob es sich dabei um eine geschickte Wortwahl handelt, kann man streiten. Jedenfalls ist zumindest ein assoziativer Zusammenhang zwischen dem Glauben an die psychologische Realität der Willensfreiheit und einem heroischen Ethos sowie einem politischen Pathos der Freiheit im Sinne des Engagements für Freiheitsrechte (liberties) nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn Philosophen wie Kant und Fichte, Wilhelm von Humboldt und John Stuart Mill, die anders als Platon und Aristoteles nicht nur eine äußere und öffentlich wahrnehmbare Handlungsfreiheit (HF) kennen und anders als Hobbes und Spinoza nicht alles menschliche Verhalten mechanistisch oder affektlogisch auf verborgene Triebkräfte zurückzuführen versuchen, sondern auch das Vermögen einer inneren und nur subjektiv wahrnehmbaren Willensfreiheit (WiF) kennen und sie für eine psychologische Realität und nicht nur für eine bloße Fiktion oder Illusion halten, tendieren in der Regel auch zu einer größeren Wertschätzung der politischen Freiheit (PF) und der Freiheitsrechte (FR), die zu einem liberalen Ethos und modernen rechtsstaatlichen Denken gehören. Der anti-deterministische Glaube an die Potentialität der Willensfreiheit (WiF) disponiert – zumindest im Sinne eines produktiven Missverständnisses – eher dazu, auch das Ideal der politischen Freiheit (PF) hochzuhalten und die rechtsstaatliche Garantie von Freiheitsrechten (FR) zu verteidigen. Deterministen hingegen, die den freien Willen nur für eine Fiktion oder gar Illusion halten, neigen in der Regel eher zu einem weltanschaulichen Stoizismus und Fatalismus sowie zu einem politischen Konservatismus, der organistisch dem Gemeinwillen (volonté général) oder utilitaristisch dem Wohlergehen (welfare) der Nation einen praktischen Vorrang vor den Interessen und Rechten der individuellen Bürger und Menschen einräumt und von daher meistens dem Primat der Erhaltung der Stabilität der rechtlichen und politischen Ordnungen zustimmt. 20

 

Das Ethische und Politische spielt jedoch in Jaspers’ philosophischer Existenzerhellung der Freiheit nur eine vergleichs-weise untergeordnete Rolle. Weitaus stärker dominieren im zweiten Abschnitt Dasein und Freisein dann die onto-logische Frage nach der Realität der Willensfreiheit (WF), die erkenntnistheoretische Frage nach der Beweisbarkeit der Willensfreiheit (WF) und die genealogische Frage nach dem Ursprung des Freiheitsbewusstseins (FB); im dritten Abschnitt Freiheit und Notwendigkeit die ontologische Frage nach der Realität der Willensfreiheit (WF) angesichts der Erfahrung des Widerstandes des Notwendigen, die psychologische Frage nach der Funktion einer bloßen Idee der absoluten Freiheit (AF) und die metaphysische Frage nach einer eventuellen kosmischen Einheit von Freiheit und Notwendigkeit sowie schließlich im vierten Abschnitt Freiheit und Transzendenz die religionshilosophischen Fragen nach dem Zusammenhang von Freiheit und Schuld, nach dem Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit von einem höchsten Wesen, wie z.B. von Gott, sowie nach der Beziehung zwischen dem Freisein und der Transzendenz. 21

 

3. Jaspers’ Beitrag einer Erhellung existenzieller Freiheit

 

Grundlegend für Jaspers’ originären Beitrag einer Existenzerhellung der persönlichen Freiheit ist der Erste Abschnitt Erhellung existenzieller Freiheit, in dem verschiedene Probleme eines angemessenen Verständnisses der potentiellen Freiheit des menschlichen Willens erörtert werden. Aufgrund seiner akademischen Herkunft aus der klinischen Psychiatrie, der phänomenologisch-hermeneutischen Psychopathologie und der verstehenden Psychologie der Weltanschauungen ist sich Jaspers deutlicher bewusst als seine Vorgänger Hume und Kant, Brentano und Mill, dass es sich bei der potentiellen Freiheit des menschlichen Willens um eine persönliche Fähigkeit handelt, die nicht nur von einer allgemeinen menschlichen Natur, sondern auch von konkreten lebensgeschichtlichen Ermöglichungs-bedingungen und bestimmten psychologischen Entwicklungsstufen einer individuellen Persönlichkeit abhängt. Diese psychologische Abhängigkeit betrifft jedoch vorwiegend die faktische Genese, aber nicht die jeweilige Aktualisierung dieser Potentialität, denn wo diese Fähigkeit erst einmal erworben wurde und ausgeübt werden kann, ist es dann in vielen Hinsichten auch wieder gleichgültig, auf welchem Wege sie einmal zustanden gekommen ist.

 

Anders als sein anfänglicher Wegbegleiter und späterer Gegenspieler Martin Heidegger hat Karl Jaspers verstanden, dass allgemeine und abstrakte Thesen über die Freiheit oder die Unfreiheit des menschlichen Willens von vorne herein zum Scheitern verurteilt sind. Sie nehmen nämlich auf die konkrete psychologische Genese der Fähigkeit zur Willens-bildung und die konkreten Freiheitsgrade individueller Persönlichkeiten gar keine Rücksicht. In Heideggers seltsam zeitloser, abstrakter und entwicklungsblinder Rede vom „Dasein“ schlechthin wird nämlich von allen konkreten Realbedingungen der psychologischen Entwicklung im wirklichen Leben eines jeden Menschen abgesehen. Das ist umso erstaunlicher, als doch gerade dieses Denken mit einigem sprachlichen Pomp dazu angetreten war, die unausweichliche Zeitlichkeit des menschlichen Daseins zu bedenken. Dazu hatte Heidegger sogar die von Platon entdeckte und auch noch bei Kant bewahrte Einsicht verworfen, dass ganz gewöhnliche Menschen, wie z.B. der ungebildete Sklave Menon, trotz der Zeitlichkeit und Endlichkeit ihres irdischen Lebens durchaus gewisse zeitlose und evidente Wahrheiten des Logischen und Mathematischen sowie des Ethischen und Ontologischen verstehen können.

 

Kein Mensch muss ewig leben, um einige zeitlos gültige Wahrheiten erkennen zu können. Heideggers trotziger Kult der Endlichkeit und der Sterblichkeit des Menschen basiert nämlich auf dem groben Fehlschluss von der offensichtlichen Endlichkeit des Menschen auf eine kaum verständliche Leugnung der Existenz und Erkennbarkeit zeitlos gültiger Wahrheiten. Bis heute gibt es immer noch einige Intellektuelle, die aufgrund ihrer blinden Verehrung dieses be-schwörenden Denkers diesen allzu simplen Fehlschluss weder bemerken noch aufzeigen, um damit ein wenig vom natürlichen Licht der Vernunft in Heideggers dunkle Hütte zu tragen. Eine sachliche Kritik an Heideggers Kampf gegen den sog. Platonismus steht immer noch aus. Erst dann würde es wieder möglich werden, sowohl Husserls berechtigte Kritik am empiristischen Psychologismus in der Logik und Mathematik als auch Kants Entdeckung der besonderen Bedeutung und Gültigkeit synthetisch-apriorischer Prinzipien des Logischen und Mathematischen sowie des Moralischen und Rechtlichen ihre angemessene Würdigung zu verschaffen. 22

 

Aber auch Jean-Paul Sartres existenzphilosophische These, dass der Mensch zur Freiheit verurteilt bzw. verdammt sei: „L'homme est condamné à être libre.“ konnte Jaspers kaum zustimmen. Zuerst muss man sich angesichts der spätestens seit Hume, Kant und Brentano deutlich unterschiedenen Freiheitsbegriffe fragen, zu welcher Art von Freiheit er denn überhaupt verurteilt sein sollte. Sodann muss man sich fragen, von wem bzw. von welchem Richter er denn verurteilt oder verdammt sein sollte. Da Sartre als Atheist weder wie Pascal an den sich selbst offenbarenden Gott „Abrahams, Issaks und Jakobs“ glaubt noch wie Anselm von Canterbury, Descartes oder Hegel von der Beweisbarkeit des Gottes der Philosophen überzeugt ist, gibt es für ihn gar niemand, der den Menschen zu der einen oder anderen Art von Freiheit verurteilt haben könnte. Dann ist und bleibt es aber auch unsinnig, von einer Verurteilung oder gar Verdammung zu sprechen. Denn eine Verurteilung oder Verdammung des Menschen oder eines bestimmten Menschen setzt irgendeine Person voraus, die zu dem intentionalen juridischen Akt einer Verurteilung oder Verdammung in der Lage ist. Einem unpersönlichen Sein, dem Kosmos oder der Natur können wir eigentlich keinen solchen juridischen Akt zuschreiben. Diese kaum zu verhehlende Fragwürdigkeit von Sartres berühmten Diktum bleibt jedoch meistens unbemerkt. 23

 

Aber auch für die philosophische Anthropologie und Psychologie ist der empirische Beitrag der modernen Entwick-lungs- und Persönlichkeitspsychologie ein radikales Novum, das bis in unsere Gegenwart hinein von den meisten Diskussionsbeiträgen über Willensfreiheit und Determinismus immer noch weitgehend ignoriert wird. Dies gilt seltsamerweise auch für die sog. Philosophy of Mind, die aufgrund ihrer Herkunft aus dem Logischen Empirismus des Wiener Kreises doch eigentlich gegenüber den Erkenntnissen der empirischen Wissenschaften aufgeschlossen sein sollte. Dass es an einer solchen Aufgeschlossenheit jedoch lange Zeit fehlte, zeigt sich z.B. daran, wie lange W.V.O. Quine am methodischen Behaviorismus (B.F. Skinner und J.B. Watson) und an der atomistischen Sinnesdatentheorie der Wahrnehmung (G.E. Moore und B. Russell) festhielt, ohne die überzeugenderen wissenschaftlichen Erfolge der Gestalt- und Kognitionspsychologie innerhalb der zeitgenössischen Humanpsychologie zu berücksichtigen. 24 Obwohl sich Quine in seinen letzten Lebensjahren den Auffassungen der zeitgenössischen Kognitionspsychologen und Psycho-linguisten anschließen und seinen früheren methodologischen Behaviorismus zugunsten der "mentalistischen" Gestalt- und Kognitionspsychologie aufgeben musste, hat er sich dabei nur an die Entwicklungen in der Psychologie angepasst und änderte seien Auffassung nicht durch philosophisches Nachdenken. Ein solches Verhalten ist jedoch charakteris-tisch für einen Naturalisten und Szientisten, der die Autorität der modernen Naturwissenschaften über die philosophi-sche Reflexion stellt, anstatt die Praktiken, Methoden und Theorien der Naturwissenschaften selbst zu reflektieren. 25

 

Anders als Karl Jaspers fallen jedoch auch die meisten Philosophen im akademischen Mainstream der Analytischen Philosophie mit ihren Beiträgen über ‘Willensfreiheit und Determination’ bzw. ‘Determinismus und Indeterminismus’ hinter zwei wesentliche Resultate des philosophischen Denkens und der psychologischen Forschung zurück:

 

Philosophisch fallen nicht wenige hinter Kants kritische Überlegungen über die logischen und kognitiven Bedingungen der Möglichkeit einer philosophischen Erkenntnis zurück. 26 Das führt einerseits zu einem naiven Realismus in der Erkenntnistheorie ohne eine kritische Reflexion auf die unaufhebbare Differenz zwischen einem menschlichem Urteil in einer bestimmten sprachlichen Form und einer eigenständigen und strukturierten Realität, die zumindest prima facie kein sprachliches Form hat. Das führt andererseits zu einer vorkritischen spekulativen Metaphysik ohne ein reflektiertes Bewusstsein von den logischen, semantischen und epistemologischen Vorgaben der erkennenden menschlichen Subjekte. 27 Dabei ist es sekundär, ob diese vorkritische Metaphysik dann einen naturalistischen bzw. materialistischen Zuschnitt hat, der das eigenständige und selbstbewusste philosophische Denken torpediert, oder ein religionsphilo-sophisches Format, das persönliche Glaubensüberzeugungen einer bestimmten Offenbarungsreligion voraussetzt, die jedoch nicht immer explizit gemacht werden. 28

 

Psychologisch verkennt man oftmals die empirischen Ergebnisse der modernen Entwicklungspsychologie, der zufolge das psychische Vermögen bzw. die personale Fähigkeit zu einer mehr oder weniger freien Willensbildung keine bloß angeborene, sondern eine erworbene Kompetenz des Menschen ist, die nur unter mehr oder weniger günstigen lebensgeschichtlichen Bedingungen realisiert werden kann. 29 Insofern können erwachsene Menschen im Gegensatz zu kleinen Kindern und unreifen Jugendlichen immer nur insofern für ihr eigenes Tun und Lassen moralisch verant-wortlich sein und rechtlich zur Verantwortung gezogen werden, als sie diese Kompetenz zu einer mehr oder weniger freien Willensbildung unter vergleichsweise günstigen Bedingungen erworben haben. Wo das jedoch nicht der Fall gewesen ist und es an den notwendigen Lernbedingungen für eine mehr oder weniger freie und gesunde Willens-bildung fehlte, kann zumindest bei einer zuverlässigen Kenntnis ungünstiger Bedingungen genetischen Mitgift, der Geburt, der Entwicklung, der Erziehung, der Ausbildung und der Bildung sowohl die moralische als auch die rechtliche Verantwortung nur eingeschränkt zugesprochen werden. Diese entwicklungspsychologischen Kenntnisse, die eigentlich allen Eltern und Erziehern mit gesundem Menschenverstand zugänglich sind, haben mit der radikalen Infragestellung der bloßen Möglichkeit eines freien Willens von Seiten eines neurowissenschaftlichen Determinismus oder dogma-tischen Naturalismus gar nichts zu tun. Die personale Fähigkeit zu einer freien Willensbildung muss nämlich auch dann erst einmal lebensgeschichtlich erworben werden, wenn sich irgendwann herausstellen sollte, dass sie auf der subpersonalen Ebene auf einer kausal geschlossenen „Regie des Gehirns“ basieren sollte. 30

 

Ein bestimmter Erwachsener, der z.B. an einer bestimmten Sucht- oder Zwangserkrankung leidet, ist zwar anders als ein Erwachsener ohne eine solche Persönlichkeitsstörung in seiner personalen Fähigkeit zur Willensbildung sicher weniger frei und stärker beeinträchtigt. Aber in beiden Fällen, sowohl im Falle der Krankheit als auch im Falle der Gesundheit, ist auf der subpersonalen Ebene ihr jeweiliges Gehirn auf die eine oder andere Weise physiologisch strukturiert und neuronal disponiert. Wenn psychiatrisch forschende Neurowissenschaftler in der Lage sind oder sein werden, die jeweiligen graduellen Unterschiede in der personalen Fähigkeit zur Willensbildung auf bestimmte neurophysiologische und neuronale Differenzen im Gehirn und Nervensystem zurückzuführen und damit zu erklären, dann werden sie in beiden Fällen voraussetzen, dass es auf der subpersonalen Ebene bestimmte physiologische Strukturen, neuronale Zusammenhänge und kausale Wechselwirkungen gibt, die als notwendige und hinreichende Bedingungen den jeweiligen Grad der personalen Fähigkeit oder Unfähigkeit verursachen. 31

 

Was die lebensgeschichtliche Bedingtheit des Erwerbs einer weitgehend gesunden bzw. zumindest nicht schwer eingeschränkten personalen Fähigkeit zur Willensbildung angeht, ist kein Mensch ohne irgendwelche determinierende Faktoren. Was die biologische, neurophysiologische und informationelle Organisation des menschlichen Gehirns sowie die individuelle Strukturierung des Gehirns und Nervensystems eines bestimmten Menschen betrifft, ist nicht nur die personale Fähigkeit zur Willensbildung, sondern überhaupt keine personale Fähigkeit und keine Persönlichkeitsstruktur, wie z.B. von Haltungen, Einstellungen und Gewohnheiten, Temperament, Charakter und Tugend ohne eine bestimmte biologische, neurophysiologische und informationelle Basis. Keine menschliche Persönlichkeit ist unabhängig von ihrer jeweiligen lebensgeschichtlichen Prägung und dispositionalen Inkarnierung in einem bestimmten menschlichen Organismus. Etwas anderes zu erwarten, wäre zumindest irgendwie seltsam. Es würde bedeuten zu meinen, dass jemandes Persönlichkeit eigentlich gar keine menschliche Persönlichkeit ist, sondern irgendwie ohne eine irdische Vorgeschichte „vom Himmel gefallen ist“ bzw. ganz zufällig aus dem Nichts entstanden ist. 32

 

4. Bestimmungsgründe von Jaspers’ Erhellung existenzieller Freiheit

 

Jaspers’ Versuch einer philosophischen Existenzerhellung der Freiheit ist immer noch von großer Bedeutung, weil das philosophischen Denken über die Formen und Grenzen der menschlichen Freiheit gegenwärtig von zwei fragwürdigen Tendenzen dominiert wird: auf der einen Seite von vorschnellen weltanschaulichen Extrapolationen aus den anfäng-lichen und interpretationsbedürftigen Resultaten neurowissenschaftlicher Forschungen sowie auf der anderen Seite von der anachronistischen Rehabilitation einer dogmatischen Humanpsychologie. Diese Psychologie reproduziert entweder den anthropologischen Naturalismus des 18. und 19. Jahrhunderts, dem die emergenten, qualitativ autonomen und irreduziblen Strukturen der menschlichen Kognition unverständlich bleiben müssen, oder aber sie versucht, diesen kruden Naturalismus durch eine dualistische Psychologie zu überwinden, die die faktische Abhängigkeit aller psychi-schen und mentalen Funktionen von bestimmten neurophysiologischen Ermöglichungsbedingungen im Gehirn und Nervensystem des Menschen nicht hinreichend berücksichtigt. Wenn beide Tendenzen fragwürdig sind, dann bleibt eigentlich nur noch die dritte Option einer nicht-reduktionistischen Psychologie der Personalität und Persönlichkeit, die akzeptiert, dass weder die auf der Sprachkompetenz basierenden kognitiven Funktionen des Denkens, Urteilens und Handelns noch die auf der menschlichen Sinnesphysiologie basierenden Qualitäten des Bewusstseins in Form von Emotionen, Wahrnehmung und Phantasie auf verschiedene neurophysiologische Vorgänge in Gehirn und Nerven-system reduziert werden können, obwohl sie zweifelsohne auf deren Funktionen als dispositionale Ermöglichungs-bedingungen angewiesen sind. 33

 

Jaspers’ Existenzerhellung der Freiheit behandelt jedoch einige Themen und Probleme, die in den gegenwärtigen anthropologischen Diskussionen über Determinismus und Indeterminismus gar nicht vorkommen, weil sie gerade nicht mit der allgemeinen Verfasstheit der menschlichen Natur, sondern vielmehr mit der besonderen Eigenart individueller Persönlichkeiten zu tun haben. So diskutiert Jaspers z.B. im ersten Teil „Erhellung existenzieller Freiheit“ verschiedene Fragen, die das sich seiner selbst bewusste Wissen von der eigenen Wahlfreiheit (WaF) betreffen, ohne das es an-scheinend weder eine subjektiv erlebte Willensfreiheit (WiF) noch ein zuverlässiges Freiheitsbewusstsein (FB) geben kann.

 

(§ 1) Freiheit als Wissen, als Willkür, als Gesetz

 

Von besonderer Bedeutung für Jaspers’ Existenzerhellung der Freiheit sind die beiden epistemologischen Fragen, ob es eine Willensfreiheit ohne Wissen von ihr geben kann und ob es eine Wahlfreiheit ohne Wissen von ihr geben kann. Die Antworten auf diese beiden Fragen haben nämlich Konsequenzen für die Fremdzuschreibung der Wahl- und Willens-freiheit zu Kindern verschiedener Alterstufen, Erwachsenen mit Persönlichkeitsstörungen und Demenzerkrankungen. Jaspers formuliert drei wichtige Thesen, denen bei seinen weiteren Überlegungen eine Schlüsselrolle zukommen wird:

 

1. These: “Ich bin im Wissen noch nicht frei, aber ohne Wissen ist keine Freiheit.” (S. 177)

 

2. These: “Weil ohne Gehalt, ist Willkür noch nicht Freiheit; aber ohne Willkür ist keine Freiheit.” (S. 178)

 

3. These: Wie es ohne die Freiheit des Wissens und die Freiheit der Willkür keine eigentliche Freiheit geben kann, “so gilt: keine Freiheit ohne Gesetz.“ (S. 178).

 

(§ 2) Freiheit als Idee

 

Von großer Bedeutung für die Moralpsychologie sind dann vor allem die beiden Fragen, wie sich die Willkürfreiheit (WkF) als genealogischer Ursprung der Willensfreiheit zur sittlichen Freiheit (SF) verhält, und warum es keine sittliche Freiheit ohne Gesetz, d.h. ohne ein Bewusstsein von verbindlichen Forderungen moralischer und rechtlicher Normen geben kann. Wer solche Normen als bloße Störungen seiner eigenen Willkür erlebt, bezeichnet und von sich weist, der muss in seiner normalen Persönlichkeitsentwicklung auf der Schwundstufe einer egozentrischen Zweckrationalität stehen bleiben, denn dann kann jedes gemeinschaftliche Ethos nur noch als eine heteronome Leistungsanforderung verstanden werden. Dabei ist es sekundär, ob diese Normen psychoanalytisch als bloße Implantate des Über-Ich verstanden werden, die der freien Selbstverwirklichung des Es im Sinne der psycho-somatischen Einheit des eigenen Leibes hinderlich sind. Solange diese Normen dem denkenden und urteilenden, wertenden und handelnden Ich innerlich fremd bleiben und keine intrinsische Zustimmung der Persönlichkeit finden, muss die vollständige Entfaltung der sittlichen Persönlichkeit verkümmern und authentische Humanität verfehlt werden.

 

Jaspers geht deswegen ganz zurecht mit Kant und Brentano über Hume, Mill und Freud hinaus und diskutiert die höherstufige psychologische Potentialität eines sittlichen Freiheitsbewußtseins (SFB), das nicht nur die widerspruchs-freie Denkmöglichkeit, sondern auch die mutmaßliche Realmöglichkeit und Wirksamkeit der sittlichen Freiheit voraussetzt. Dabei bleibt es zunächst offen, ob er eher Kants oder Brentanos Verständnis von sittlicher Autonomie zuneigt. Es könnte auch sein, dass sich Jaspers, in dem, was er als ‘existenzielle Freiheit’ bezeichnet, an Gedanken von Fichte oder Husserl angenähert hat. Fraglich bleibt jedoch, wie Jaspers selbst einer bloß pragmatischen Bewältigung alles dessen entkommen kann, was von außen an ihn herangetragen wird, um zu einer überzeugenden Ethik und Rechtsphilosophie zu gelangen, die über eine bloße Pragmatik hinausgeht. Denn er schreibt:

 

Ich werde frei, indem ich unablässig meine Weltorientierung erweitere, Bedingungen und Möglichkeiten des Handelns ohne Grenze mir zum Bewusstsein bringe, und indem ich alle Motive mich ansprechen und in mir zur Geltung kommen lasse. (S. 179)

 

(§ 3) Freiheit als Wahl (Entschluß)

 

Ausschlaggebend für Jaspers’ Existenzerhellung der Freiheit, ist dann auch die psychologische Frage, welche Rolle die metaphysische Idee einer absoluten Freiheit (AF) für das menschliche Bewusstsein spielen könnte, obwohl ihr doch kein einziges Phänomen im zeitlichen Strom der Bewußtseinsphänomene entsprechen kann und obwohl ihr auch kein Gegenstand und kein Ereignis in der zeitlichen Ordnung der Wirklichkeit zugeordnet werden kann. Jaspers akzeptiert nämlich Kants schwierige Überlegungen zur allgemeinen Struktur des menschlichen Selbstbewusstseins, wenn er darlegt, dass das Bewusstsein von der Wahlfreiheit meines eigenen Entschlusses sowohl mit einem subjektiven Bewusstsein von einer zeitlichen Ordnung der inneren Phänomene des eigenen Bewusstseins als auch von einem objektiven Bewusstsein von einer zeitlichen Ordnung der äußeren Phänomene in der gegenständlichen Welt einhergehen muss. Dieser strukturelle Zusammenhang konstituiert nämlich überhaupt erst die Fähigkeit willensfähiger menschlicher Subjekte zur Einbettung ihrer eigenen lebensgeschichtlichen und existenziellen Situation in die kontingente Zeitlichkeit der lebensweltlichen Wirklichkeit, ohne die es kein authentisches Selbstsein geben kann.

 

Bei diesem strukturellen Zusammenhang handelt es sich dann nicht zuletzt auch um eine humanpsychologische Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis sowohl vom authentischen Selbstsein in dem Sinne, dass mein So-Sein als ein So-geworden-Sein akzeptiert wird, als auch von der Anerkennung des Anderen in dem Sinne, dass auch sein So-Sein als ein anderes So-geworden-Sein akzeptiert werden kann. Jaspers charakterisiert existentielle Freiheit (EF) von daher auf folgende Art und Weise:

 

Dann aber mache ich die Erfahrung, dass diese zeitlich bestimmte Wahl nicht nur das unvermeidlich Negative und Unfreie ist, das ohne Vollendung der Idee notgedrungen vollzogen werden muß, sondern in dieser Wahl bin ich mir erst der Freiheit bewusst, welche ursprüngliche Freiheit ist, weil ich erst in ihr mich eigentlich als mich selbst weiß. Alle anderen Momente der Freiheit scheinen von hier ausgesehen wie Voraussetzungen, damit diese tiefste, existenzielle Freiheit sich zum Tage bringe. Diese ist jeder Vergegenständlichung und Verallgemeinerung entrückt. Nachdem ich die früheren Momente, sie anerkennend, zu eigen gemacht habe, öffnet sich erst jetzt die Grenze, wo ich entweder verzweifelnd mir bewusst werde, gar nicht zu sein oder eines ursprünglichen Seins inne werde. Wer er selbst ist, wählt in seiner geschichtlichen Einmaligkeit, darin sich selbst und der anderen Existenz offenbarend: … (S. 180)

 

Im Folgenden erläutert Jaspers, was es mit einer solchen existenziellen Wahl seiner selbst auf sich hat, die weder objektivierbar noch berechenbar noch ableitbar ist.

 

Vielmehr ist das Entscheidende der Wahl, dass ich wähle. (S. 180)

 

Für wen oder für was ist es jedoch entscheidend, dass ich wähle, wenn ich wähle? Was man trotz der Betonung rein formal-logisch betrachtet, für eine bloße Tautologie halten könnte, nämlich dass ich wähle, wenn ich wähle, gehört für denjenigen, der von mir ein eheliches Ja-Wort empfängt, ein freundschaftliches Treueversprechen erhält, einen geschäftlichen Zuschlag bekommt oder einen rechtskräftigen Arbeitsvertrag empfängt, gerade zum Wesentlichen. Durch einen solchen performativen Sprechakt kommt eine neue Verbindlichkeit in die Welt, die zuvor nicht existiert hat, und überhaupt erst durch die Worte eben dieser Menschen gestiftet wurde. Gleichwohl entsteht sie nicht aus einem bloßen Nichts oder einer absoluten Freiheit, sondern folgt bestimmten sprachlichen Handlungsmustern, Konventionen und Traditionen. 34

 

Bei Jaspers führt das Thema der existenziellen Selbstwahl dann jedoch auch zum Thema der existenziellen Wahl des Anderen (S. 181).

 

Wo ich ganz ich selbst bin, bin ich nicht mehr nur ich selbst. (S. 199)

 

Trotz der Tiefsinnigkeit dieses Gedankens vergisst Jaspers dann aber nicht, dass diese existenzphilosophischen Gedanken von der ursprünglichen Wahl des Selbst und des Anderen nicht nur die anderen, genealogisch früheren Phänomene der Wahlfreiheit (WaF) und Willkürfreiheit (WkF) sowie der Willens- (WiF) und Handlungsfreiheit (HF), sondern auch gerade die der normativen sittlichen Freiheit (SF) voraussetzen.

 

Alle anderen Momente der Freiheit scheinen von hier ausgesehen wie Voraussetzungen, damit diese tiefste, existenzielle Freiheit sich zum Tage bringe.(S. 180)

 

(§ 4) Flucht vor der Freiheit

 

Diese existenzphilosophischen Gedanken führen Jaspers dann zu der psychologischen Frage, warum gewohnheits-mäßige Unentschlossenheit ein Mangel an Selbstsein ist und warum die gewohnheitsmäßige Entschlossenheit des Selbstseins an die Begegnung mit Anderen und die Anerkennung von Anderen gebunden ist, wie z.B. in Freundschaft, Ehe oder Partnerschaft. Insofern dies mit einem persönlichen “Einsatz” (engl. commitment) zu tun hat, stellt Jaspers hier erstmals eine gedankliche Verbindung zwischen der sittlichen Freiheit und der existenziellen Freiheit der Selbstwahl her.

 

Aber auch diese neue Verbindung setzt die Überzeugung von der Realität der Willensfreiheit immer schon voraus. Es gibt keine Institution der Ehe ohne ein verbindliches Ja-Wort und kein Eheversprechen, das nicht coram publico durch zivile oder religiöse Rituale besiegelt wird. Jaspers diskutiert in diesem Zusammenhang vor allem die Angst und Furcht vor der Freiheit des Selbstseins. Aber es gibt auch eine Angst vor den unwägbaren Konsequenzen der Selbstverpflich-tung und eine Furcht vor dauerhafter Bindung. Im Falle der Freundschaft, Ehe oder Partnerschaft handelt es sich auf jeden Fall nicht nur um eine Selbstbindung, weil sie immer schon eine Bindung an einen Anderen einschließt, die sowohl auf eine Wechselseitigkeit unter Gleichrangigen als auch auf eine Wahrung individueller und gemeinsamer Interessen angewiesen ist.

 

Hier löst und bindet sich am tiefsten Ursprung die Kommunikation von Existenz zu Existenz. Wer sein Nichtsein solcherweise kundgibt, ist gleichsam entschlüpft. (S. 184)

 

(§ 5) Das Gedachtwerden existenzieller Freiheit

 

Das Problem beim Gedachtwerden der existenziellen Freiheit ist vor allem die Möglichkeit, dass es sich dabei um ein bloßes Gedachtwerden handeln kann, bei dem weder klare und verbindliche Worte noch diesen Worten entsprechende Taten folgen. Nach Jaspers gibt es deswegen eine genealogische Logik in der psychologischen Entstehung und Ent-wicklung der höchsten Stufe des Freiheitsbewußtseins der existenziellen Freiheit, die zuerst in der lebensgeschicht-lichen Verwirklichung durch das eigene Tun und Lassen vollzogen werden muss, bevor sie dadurch zu einem gefestigten Charakterzug im Aufbau der Persönlichkeit werden kann. Deswegen gibt es auch nicht nur eine zeitlose Logik der Freiheitsbegriffe, wie z.B. dass der Begriff der politischen Freiheit (PF) logisch den deskriptiven Begriff der Handlungs-freiheit (HF) voraussetzt, sondern es gibt auch eine entwicklungspsychologische Genealogie der Freiheitsbegriffe, so dass die höherstufigen Freiheitsbegriffe der sittlichen Freiheit (SF), des Freiheitsbewußseins (FB) und der existenziellen Freiheit (EF) von jemandem dann und erst dann verstanden werden können, wenn die niederstufigen Freiheitsbegriffe der Wahlfreiheit (WaF), der Willkürfreiheit (WkF), der Willensfreiheit (WiF) und der Handlungsfreiheit (HF) bereits verstanden wurden.

 

Formale Freiheit war Wissen und Willkür, transzendentale Freiheit die Selbstgewißheit im Gehorsam gegen ein evidentes Gesetz, Freiheit als Idee das Leben in einem Ganzen, die existenzielle Freiheit die Selbstgewißheit geschichtlichen Ursprungs der Entscheidung. Erst in der existenziellen Freiheit, die schlechthin unbegreiflich ist, d.h. für keinen Begriff ist, erfüllt sich das Freiheitsbewußtsein. (S. 185)

 

Worin aber besteht dann das Freiheitsbewußtsein, falls man es nicht mehr begrifflich erfassen und mit Worten verstehen kann, weil es unbegreiflich ist? Individuum ineffabile est. Handelt es sich tatsächlich um ein Phänomen, das sich unserem begrifflichen Verstehen entzieht? Auf welche Art und Weise können wir dann aber noch zu einer methodisch nachvollziehbaren Erhellung der existenziellen Freiheit gelangen?

 

Jaspers Ausführungen drohen an dieser Stelle pragmatisch paradox zu werden. Aber die Gefahr einer Paradoxie droht erst dann, wenn wir ausschließen, dass es auch noch andere, nämlich vor-sprachliche Ebenen des Gewahrwerdens des Selbstseins und der existenziellen Freiheit gibt, die sich zuerst auf proprio-rezeptiven, psycho-motorischen und motivationalen Ebenen abspielen müssen, bevor sie ins persönliche Bewusstsein treten können.

 

Anfang und Ende der Freiheitserhellung bleibt aber, dass Freiheit nicht erkannt, auf keine Weise objektiv gedacht werden kann. Ich bin ihrer für mich gewiss, nicht im Denken, sondern im Existieren: nicht im Betrachten und Fragen nach ihr, sondern im Vollziehen: alle Sätze über Freiheit sind vielmehr ein stets mißverstehbares, nur indirekt hinzeigendes Kommunikationsmittel. (S. 185)

 

5. Voraussetzung der Willensfreiheit in Jaspers’ Existenzerhellung der Freiheit

 

Jaspers setzt in seiner ganzen Erörterung der existenziellen Freiheit die Potentialität der Willensfreiheit voraus und ist sich offensichtlich im ersten Abschnitt Freiheit als Wissen dieser Voraussetzung auch bewusst. Gleichzeitig hält er sie im Anschluss an Kant weder für einen empirisch bzw. experimentell nachweisbaren Sachverhalt noch für eine a priori beweisbare metaphysische Realität. Auch die in der Reflexion erkennbare Tatsache, dass die Zuschreibung von mora-lischer Verantwortung und rechtlicher Zurechnung in abstracto die Realität der Willensfreiheit voraussetzen, kann nicht beweisen, dass sie jemals in concreto gegeben war. Die Voraussetzung, dass der Mensch zu einer freien Willensbildung fähig sein kann, bleibt dann auch in allen folgenden Abschnitten bestehen, zuerst im zweiten Abschnitt zur Freiheit als Idee, dann im dritten Abschnitt über die Freiheit als Wahl sowohl im Sinne eines gewöhnlichen Entschlusses als auch im Sinne einer existentiellen Selbstwahl und der Wahl des Anderen, weiterhin im vierten Abschnitt zur Flucht vor der Freiheit als Verantwortung für sich selbst und als Mitverantwortung für den Anderen sowie schließlich im fünften Abschnitt über das Gedachtwerden existenzieller Freiheit. Auf dem Hintergrund heutiger Diskussionen über Freiheit und Determinismus ist und bleibt das eigentliche Problem von Jaspers’ Versuch einer philosophischen Existenzerhellung der menschlichen Freiheit diese Voraussetzung der Realisierbarkeit der Willensfreiheit.

 

Da Jaspers akzeptiert, dass man die Realität der Willensfreiheit weder empirisch noch apriorisch beweisen kann, hält er de facto am psychologischen Kompatibilismus von Hume, Kant und Brentano fest. Die Überzeugung, dass jemand über einen relativ freien Willen verfügen kann ist, basiert primär aufgrund der subjektiven Evidenz des Erlebens des eigenen Willensimpulses und seiner auch äußerlich sichtbaren Wirksamkeit. Aufgrund dieses inneren Erlebens, kann jemand dann auch anderen Menschen (gewohnheitsmäßig und im Einzelfall) einen freien Wille zusprechen, solange er keine hinreichenden Gründe hat, an deren Fähigkeit zu einer freien Willensbildung zu zweifeln. Von daher dürfen wir von einer glaubhaften Realität der Willensfreiheit sprechen, bei der es sich weder (a.) nur um eine widerspruchsfreie Denkmög-lichkeit handelt noch (b.) bloß um eine biologisch, neurophysiologisch oder psychologisch notwendige Fiktion für sprach-, denk- und handlungsfähige Menschen noch (c.) nur eine nützliche Als-Ob-Hypothese im Sinne von Hans Vaihinger.

 

Weder die subjektive Evidenz des eigenen Willensimpulses noch dessen intersubjektiv nachweisbare Wirksamkeit in der auf ihn folgenden Handlung würden angesichts einer plausiblen Theorie der neurophysiologischen Erzeugung dieses subjektiven Erlebens auf der subpersonalen Ebene von Gehirn und Nervensystem verschwinden. Jaspers versucht seine Leser jedoch erst gar nicht von der glaubhaften Realität der Willensfreiheit zu überzeugen. Vielmehr appelliert er nur an deren Vertrautheit mit solchen alltäglichen Erlebnissen, die allerdings so selbstverständlich sind, dass sie sich normalerweise unserer Aufmerksamkeit entziehen. Als Psychopathologe weiß Jaspers jedoch nur zu gut, dass er dabei nur an psychisch gesunde Erwachsene appellieren kann, bei denen keine schwere Störung der Fähigkeit zur Willensbildung vorliegt. Solche Störungen der Fähigkeit zur Willensbildung aus triebhaften Motiven und bewussten Wünschen hat er bereits in seiner Allgemeinen Psychopathologie behandelt. 35

 

Nun werden manche fragen, ob Jaspers denn die bei gesunden Erwachsenen vorhandene Überzeugung von der glaubhaften Realität und Wirksamkeit einer relativ freien Willensbildung auch gegen den psychologischen Determinis-mus verteidigen, der vor allem in der Akzeptanz des Prinzip der allgemeinen Kausalität besteht. Denn (1.) ist der psychologische Determinismus prima facie mit der subjektiven Evidenz der Realität des eigenen freien Willens nicht vereinbar und (2.) ist er nicht nur eine methodische Voraussetzung einer neurowissenschaftlichen Erforschung des menschlichen Gehirns und Nervensystems, sondern (3.) auch eine Voraussetzung des alltagspsychologischen Verstehens und Erklärens von Entscheidungen und Handlungen durch Motive und Gründe in konkreten Situationen. Das Prinzip der allgemeinen Kausalität (PAK) scheint zumindest in methodischer Hinsicht unverzichtbar zu sein für die psycho-logischen Zwecke der Selbst- und Fremdinterpretation einer jeden vergangenen Entscheidung E* und Handlung H* eines mehr oder weniger bekannten Akteurs A* unter einer bestimmten inneren Verfassung V* sowie unter bestimmten äußeren Umständen U*, insofern sie einen logischen Spielraum lassen für relativ gut begründete diagnostische Urteile darüber, wie und warum der Akteur A* in zumindest einer Hinsicht H* oder aber mehreren Hinsichten H1 - Hn auch hätte anders handeln können, als er de facto gehandelt hat. 36

 

Wie verhält sich nun aber Jaspers’ Versuch einer philosophischen Existenzerhellung der Freiheit zu den philosophischen Diskussion der Vereinbarkeit der psychologischen Annahme von der Realität der Willensfreiheit als einer Voraussetzung für moralische Verantwortung und psychologische Zurechnungsfähigkeit, rechtliche Verantwortbarkeit und legitime Strafbarkeit zur ontologischen Annahme des Determinismus im Sinne der zumindest methodischen Annahme von einer lückenlosen Universalität der Kausalität? Es kommt nicht non ungefähr, dass diese Frage an Kants Diskussion der Dritten Antinomie von Willensfreiheit und Naturdeterminismus erinnert, die für die Entstehung von Kants kritischer Philosophie ausschlaggebend gewesen ist. Kant hat diese Antinomie durch seine Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung aufzulösen versucht. Anders als der vorkantische Rationalismus hielt er weder für notwendig noch möglich, sondern vielmehr für eine vergebliche Überschätzung der Reichweite der apriorischen Reflexionen der menschlichen Vernunft diese Antinomie more geometrico durch einen strengen Beweis aus Definitionen der Begriffe und axio-matischen Prämissen auflösen zu wollen.

 

Wie Kant so geht auch Jaspers davon aus, dass sich die menschliche Willensfreiheit zwar nach dem Ideal einer absoluten Freiheit gedacht werden kann, aber deren konkrete Realität und praktische Wirksamkeit weder empirisch noch apriorisch nachgewiesen werden können. “Ich denke die Freiheit als einen Anfang ohne Ursache. Freiheit ist, wo eine Reihe aus dem Nichts begonnen wird.” (S. 188). Aber im Alltag und in den Wissenschaften von der Psyche gehen wir kaum davon aus, dass das verbindliche Ja-Wort eines Eheversprechens oder das dem mutmaßlich guten Willen entspringende Versprechen eines Freundes aus einer freien Spontaneität ohne vorausgehende Motive und Gründe entspringen kann. Noch viel weniger gehen wir davon aus, dass die schlimme Tat eines grausamen Mörders oder eines treulosen Ehebrechers oder eines gerissenen Betrügers aus dem Nichts kommen kann. Strawson hat zurecht darauf hingewiesen, dass wir beim Loben und Tadeln zwar einen freien Willen voraussetzen, aber jemanden auch dann und nur dann angemessen loben und tadeln können, wenn sein Tun und Unterlassen seinen eigenen Entscheidungen entspringt, die aus den Motiven und Gründen seiner Persönlichkeit hervorgegangen sind und gerade nicht aus der absoluten Spontaneität ohne Vorgeschichte. 37

 

Jaspers folgt in seinen Ausführungen zu den philosophischen Versuchen, die Realität und praktische Wirksamkeit der Willensfreiheit zu beweisen, Kants Zweifel an der Möglichkeit eines theoretischen Freiheitsbeweises. Die Existenz der Willensfreiheit objektiv nachweisen hieße etwas Bestimmtes unter gewissen empirischen Gesetzmäßigkeiten erkennen, weil es nach Kant bereits zum Begriff der Objektivität gehört, dass wir die Gegenstände der Erfahrung nur nach gewissen Regeln des Verstandes erkennen können. Kant hat deswegen in seiner dritten Antinomie von Freiheit und Determinismus zu zeigen versucht, dass Beweise der Freiheit oder aber des Determinismus scheitern müssen. Da wir aufgrund von Jaspers Studie zu Kants Philosophie davon ausgehen dürfen, dass Jaspers Kants Antinomien sehr gut kannte und um ihre Bedeutung für die Entstehung seiner kritischen Philosophie Bescheid wusste, dürfte dies auch der Grund dafür sein, warum er selbst keinen solchen philosophischen Beweis mehr versucht. 38

 

Existenzielle Freiheit, die sich selbst versteht, wird ihre Objektivität nicht nur nicht behaupten, sondern auch nicht suchen, weil sie weiß, dass jene objektive Möglichkeit etwas schlechthin anders trifft, als das ist, dessen sie sich selbst gewiss ist. (S. 189)

 

Anders als Kant versucht Jaspers jedoch auch nicht mehr die unvermeidliche Antinomie von praktischer Willensfreiheit und theoretischem Determinismus durch eine Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung aufzulösen. Wenn man überhaupt noch von einer Auflösung dieser Antinomie bei Jaspers sprechen wollte, dann handelt es sich um eine Auflösung durch die Unterscheidung der subjektiven Evidenz der erlebten Freiheit des eigenen Willens und seiner praktischen Wirksamkeit von der methodischen Voraussetzung des Prinzips der allgemeinen Kausalität beim Verstehen und Erklären von Willensentscheidungen und Handlungen im Alltag und in den Wissenschaften. Das Subjektive der Willensfreiheit ist für jeden Akteur evident, aber das Objektive eines möglichst konsistenten und plausiblen Verstehens und Erklärens der Entscheidungen und Handlungen anderer Akteure bleibt epistemisch betrachtet immer etwas Mutmaßliches. Dabei handelt es sich bei Jaspers jedoch weder um eine logische Kontradiktion, die nach einer Auflösung verlangt, noch um eine philosophische Antinomie, die die Einheit der Vernunft gefährdet, sondern nur noch um eine epistemische Bipolarität zwischen dem Subjektiven und dem intendierten Objektiven, die gerade nicht aufzulösen oder zu beseitigen ist, sondern die rationale Interpreten von Willensentscheidungen und Handlungen in ihrer intersubjek-tiven Praxis der Deutung von sich selbst und anderen Akteuren zu berücksichtigen haben.

 

Die Voraussetzung des psychologischen Determinismus gilt dann aber auch für alle neurophysiologischen Unter-suchungen der komplexen Funktionsweisen der Gehirne und Nervensysteme menschlicher Akteure. Neurowissen-schaftler setzen in ihrem empirischen Untersuchungen ähnlich wie Naturwissenschaftler in der Physik, Chemie, Biologie, etc. das Prinzip der allgemeinen Kausalität (PAK) zumindest als eine methodische Forschungsmaxime oder als ein Verstandesprinzip im Sinne Kants voraus. Allerdings können sie gerade deswegen auch nicht aus empirischen oder apriorischen Gründen von vorne herein ausschließen, dass es psychisch gesunde erwachsene Menschen gibt, die über das Vermögen eines freien Willens im Sinne der erworbenen Fähigkeit einer mehr oder weniger freien Willensbildung verfügen. Naturwissenschaftler untersuchen nämlich nur die in der direkten oder indirekten menschlichen Erfahrung gegebenen Gegenstände, Ereignisse und Prozesse des Physischen, Chemischen, Organischen und Psychischen, aber sie können per se keine allgemeinen oder prinzipiellen Aussagen darüber machen, ob es Menschen mit der Fähigkeit zu einer freien Willensbildung gibt oder nicht. Allgemeine oder prinzipielle Aussagen darüber zu machen, was es gibt oder was es nicht gibt, mag zwar das Ziel und die Aufgabe der allgemeinen Ontologie von Aristoteles‘ Metaphysik bis zu Strawsons Individuals sein. Aber es handelt sich dabei sicherlich nicht um die Aufgabe der empirischen Einzelwissen-schaften und es ist spätestens seit Kant unter den Philosophen immer noch strittig, ob die Allgemeine Ontologie ein durchführbares und sinnvolles philosophisches Forschungsprojekt darstellt. 39

 

6. Jaspers Konzeption einer persönlichkeitsbedingten Willensfreiheit

 

Um Jaspers’ Versuch einer Erhellung der existenziellen Freiheit in allen Ausführungen angemessen zu verstehen, habe ich zunächst begrifflich zwischen (1.) der inneren und nur subjektiv erlebbaren Willensfreiheit (WiF) und (2.) der äußeren und objektiv feststellbaren Handlungsfreiheit (HF) unterschieden. Vom Begriff der äußeren Handlungsfreiheit hängen der deskriptive Begriff (2.a.) der körperlichen Bewegungs- und Ausdrucksfreiheit (BF) sowie die beiden normativen Begriffe (2.b.) der politischen Freiheit (PF) und (2.c.) der normativen Bürger- und Freiheitsrechte (FR) ab, die moderne Rechtsstaaten und Menschenrechtskonventionen rechtlich garantieren und politischen schützen sollen, aber von Jaspers noch nicht hinreichend thematisiert und diskutiert werden.

 

Anders als die meisten positivistischen Philosophen der Gegenwart unterscheidet Jaspers auch zwischen (3.) der formalen Wahlfreiheit (WaF) und (4.) der absoluten oder transzendentalen Freiheit (AF). Der formale bzw. entschei-dungstheoretische Begriff einer Wahlfreiheit (WaF) als formaler Möglichkeit der Entscheidung zwischen zwei oder mehreren Alternativen wird von ihm jedoch nur beiläufig behandelt. Der rein spekulative oder metaphysische Begriff einer absoluten Freiheit (AF) kann zwar in schöpfungsmythologischer Hinsicht in Gedanken auf die Freiheit des Schöpfers oder in psychologischer Hinsicht auf den schöpferischen Akt eines Genies bezogen werden, aber es kommt ihm (wie bei Kant) keine erkennbare Realität zu.

 

Wesentliche Voraussetzung für Jaspers’ existenzphilosophische Reflexionen ist zunächst der psychologische Begriff der Willensfreiheit (WiF), obwohl er weiter differenziert werden muss (1.a.) als erworbene Fähigkeit zu Willensbildung, (1.b.) als erworbene Fähigkeit zur zweckrationalen Selbstbestimmung und (1.c.) als Freiheit von psychischen Störungen der Willensbildung sowie (1.d.) als Freiwilligkeit einer Entscheidung, die nicht bloß durch die äußeren Umstände erzwungen wurde.

 

Wie Kant und Hegel unterscheidet Jaspers auch zwischen (5.) bloßer Willkürfreiheit (WkF) sowohl im Unterschied zur Fähigkeit der zweckrationalen Selbstbestimmung als auch (6.) zur sittlichen Freiheit (SF) im Sinne von Kants sittlicher Autonomie. Dies eröffnet Jaspers die Möglichkeit im Anschluss an die Selbstbewusstseinstheorien des Deutschen Idealismus auf verschiedene höherstufige Phänomene einzugehen, die von einer bereits angenommenen Willensfreiheit abhängen, wie auf (7.) das Phänomen einer nicht nur zweckrationalen oder moralischen, sondern individualethischen Freiheit der Selbstbestimmung (FSB), (8.) das Phänomen eines persönlichen Freiheitsbewusstseins (FB) und (9.) das Phänomen einer existenziellen Freiheit (EF) als entschlossener Übernahme von Verantwortung für sich selbst und sein eigenes Leben. Der Grad an begrifflicher Differenziertheit übertrifft auch heute noch die meisten gängigen Beiträge zum Problem eines angemessenen Verständnisses des Verhältnisses von Determination und Freiheit des Menschen.

 

Jaspers hat jedoch nicht nur eine differenzierte Begrifflichkeit zu bieten, sondern auch ein verbessertes und über-zeugendes Verständnis der Vereinbarkeit von subjektiv erlebter Willenfreiheit und psychologischem Determinismus. Was Jaspers an Neuem und Originellem vorzuweisen hat, firmiert unter dem Titel “existenzielle Erhellung der Freiheit”. Aufgrund seiner entwicklungspsychologischen Kenntnis der genealogischen Bedingungen des Erlernens der Fähigkeit zur Willensbildung und aufgrund seiner psychopathologischen Vertrautheit mit den Möglichkeiten einer Störung dieser Fähigkeit spricht Jaspers in seinen Überlegungen bewusst nur noch den erwachsenen und weitgehend gesunden Leser an, der bereits ein hohes Maß an persönlicher Fähigkeit zur Willensbildung erworben und ausgebildet hat und bis zu einem gewissen Grad philosophisch interessiert und gebildet ist.

 

Jaspers kann deswegen bei seiner existenzphilosophischen Erörterung (A.) Kleinkinder und kleine Kinder außen vor lassen, die eine solche Stufe der weitgehend normalen Persönlichkeitsentwicklung noch nicht erreicht haben, weswegen sie in modernen Gesellschaften normalerweise auch nur altersgemäß für moralisch verantwortlich gehalten werden, aber im rechtlichen Sinne noch nicht für zurechnungsfähig und verantwortbar gehalten werden. Jaspers kann dann auch (B.) psychisch erkrankte Erwachsene mit bestimmten Persönlichkeitsstörungen oder schweren psychotischen Erkrankungen außer Acht lassen, insofern deren lebensgeschichtlich erworbene Fähigkeit zur mehr oder weniger gesunden Willensbildung beeinträchtigt ist. Jaspers bezieht weiterhin (C.) auch nicht Menschen mit ein, die an Alzheimer oder anderen Demenzerkrankungen oder an einer anderen Depersonalisation leiden oder auch an neurologischen Erkrankungen, wie z.B. dem Tourette-Syndrom, erkrankt sind. Wenn Jaspers existenzphilosophisch vom Selbstsein und vom Anderssein des Anderen spricht, unterscheidet er (D.) weder hinsichtlich des Alters oder des Geschlechtes, der sozialen oder ethnischen Herkunft, der sozialen Schicht oder familiären Bindung, der weltanschaulichen oder religiösen Zugehörigkeit seiner Leser. Jaspers lässt bei seinen existenzphilosophischen Überlegungen (E.) dann auch außer Acht, ob jemand bestimmte vitale, psychische und spirituelle Bindungen eingegangen ist, und spricht statt dessen nur ganz allgemein von Freiheit und Notwendigkeit, ohne zwischen logischen, physikalischen, chemischen, biologischen und psychologischen Notwendigkeiten zu unterscheiden. Jaspers spricht (F.) auch nicht an, ob existenzielle Freiheit nicht auch von einem bestimmten Glauben an Gott und der spirituellen Erfahrung von Gnade und Erlösung abhängig sein könnte, der insbesondere in Grenzsituationen seelisch und geistig befreiend wirkt. Statt dessen spricht er auch in seinen religionsphilosophischen Reflexionen nur abstrakt von Freiheit und Transzendenz.

 

Gerade wegen seiner psychologischen und psychopathologischen Kenntnisse kann Jaspers nur solche Leser anspre-chen, die bereits eine weitgehend gesunde Persönlichkeitsentwicklung hinter sich haben, wenn er an deren zumindest rudimentär vorhandenes Freiheitsbewusstsein appelliert. Dabei geht Jaspers in seinen philosophischen Überlegungen von einer neuen, durch empirische Psychopathologie und empirische Psychologie fundierten Konzeption einer persön-lichkeitsbedingten Willensfreiheit (WiF) aus. Jaspers versucht in seinen existenzphilosophischen Reflexionen dann jedoch nicht so sehr eine philosophische Theorie vorzulegen, die er als philosophische Interpretation und Verallgemeinerung der Auffassungen auf der Grundlage seiner Allgemeinen Psychopathologie und seiner Psychologie der Weltanschau-ungen heraus entwickelt. Vielmehr versucht Jaspers in seinen Meditationen mit gewissen rhetorischen Mitteln plausibel zu machen (1.) dass zumindest psychisch gesunde erwachsenen Menschen einen freien Willen haben, von dessen Realität und Wirksamkeit sie sich zumindest mit subjektiver Evidenz selbst überzeugen können, auch wenn sich die objektive Realität eines freien Willens weder a priori noch empirisch beweisen lässt; (2.) dass sie nicht nur eine gewisse formale Wahlfreiheit (WaF) zwischen Alternativen haben und dass sie (3.) nicht nur über ein situativ abhängiges Maß an Handlungsfreiheit (HF) verfügen. Jaspers scheint nun weiterhin (4.) seine Leser davon überzeugen zu wollen, dass sie ein Freiheitsbewusstsein (FB) entwickeln können und (5.) dass sie sich selbst zu einer existenziellen Freiheit (EF) hin entwickeln können.

 

Zwar folgt aus einem auch noch so starken Freiheitsbewusstsein auch dann noch keine Gewissheit von der Existenz eines freien Willens, wenn die sogar zu einer existenziellen Freiheit als traditions- und bindungsloser Lebensform gesteigert wird. Wenn sich jemand darin täuschen sollte, dass er wirklich einen freien Willen hat oder hatte, sodass er zu einem gewissen Zeitpunkt t unter dem Umständen U vermutlich hätte auch anders handeln können, als er de facto gehandelt hat, dann würde er mit seinem ganzen Glauben an eine existenzielle Freiheit als Lebensform sich nur noch weiter in Illusionen hinein steigern. Deswegen kam es vor allem darauf an, dass Jaspers seine Leser nicht nur appellativ und rhetorisch geneigt machen konnte, an die wirkliche und täuschungsfreie Realität ihres eines freien Willens zu glauben. Jaspers musste auch plausibel machen, dass und wie ihre Überzeugung von der Realität des freien Willens mit der im Alltag und in den Wissenschaften üblichen Annahme einer psychologischen Determination durch das jeweils stärkere Motiv und die ausschlaggebenden Gründe vereinbar ist. Dies scheint mir gelungen zu sein, sodass Jaspers Abhandlung über die Freiheit immer noch lesenswert und lehrreich zugleich ist.

 

7. Glossar der Freiheitsbegriffe (UWD)

 

(1.) Willensfreiheit (WiF)

 

(1.a.) Fähigkeit der Willenbildung: Als Kinder und Jugendliche können Menschen (im Unterschied zu allen anderen uns bisher bekannten intelligenten Lebewesen) aufgrund angeborener Dispositionen unter günstigen psycho-sozialen Bedingungen die Fähigkeit zur mehr oder weniger freien willentlichen Selbstbestimmung erwerben, über die sie bei anhaltender psychischer Gesundheit bis zum Tod verfügen können.

 

(1.b.) Willentliche Selbstbestimmung: Eine Person P hat in einer Situation S zwischen den Zeitpunkten t und t’ ihr eigenes Verhalten und Handeln willentlich selbst bestimmt, wenn sie nicht durch unbewusste Motive determiniert wurde, sondern durch eine weitgehend affektfreie Überlegung und zweckrationale Abwägung von Vor- und Nachteilen.

 

(1.c.) Freiheit von psychischen Störungen der Willensbildung: Eine Person P hat in einer Situation S zwischen den Zeitpunkten t und t’ eine relativ freie Entscheidung treffen können, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen, wenn sie daran nicht durch psychische Störungen (Süchte, Ängste, Zwänge, depressive Willenlosigkeit, schizophrene oder psychotische Störungen, etc.) eingeschränkt oder gehindert wurde.

 

(1.d.) Freiwilligkeit einer Entscheidung und Handlung: Eine Person P hat in einer Situation S zwischen t und t’ eine freiwillige Entscheidung E vollzogen und eine Handlung H ausgeführt, die nicht durch äußere Bedrohungen (Gefahr für Leben und Gesundheit, Erschwerung der alltäglichen Lebensbedingungen, Verlust von anderen bewahrenswerten Gütern, etc.) erzwungen wurde.

 

(2.) Handlungsfreiheit (HF)

 

(2.a.) Bewegungs- und Ausdruckfreiheit (BF): Eine Person P hat in einer Situation S zwischen den Zeitpunkten t und t’ eine freiwillige Entscheidung E vollzogen und Handlung H ausgeführt, die nicht durch äußere Hindernisse (Fesseln, Einsperren, Androhung von Verletzungen, Mangel an Atemluft, etc.) verhindert wurde.

 

(2.b.) Politische Freiheit (PF) (engl.: liberty)

 

Eine Person P hat als Mensch und Bürger eines bestimmten Nation N die Freiheit (Handlungsfreiheit) zur Assoziation und Separation, der Kommunikation und der Kooperation mit anderen Menschen und Bürgern dieser Nation oder anderer Nationen, einschließlich des Rechtes zu reisen, umzuziehen und auszuwandern.

 

(2.c.) Freiheitsrechte (FR) (engl.: liberties)

 

Das Rechtssystem einer Nation N oder Föderation F garantiert in der Regel mit Hilfe einer schriftlichen Verfassung V den Bürgern und Menschen, bestimmte politische Freiheiten (Bürger- und Menschenrechte) in modernen Rechtsstaaten mit Hilfe von Regierung, Legislative, Exekutive und Judikative zu gewähren und zu schützen.

 

(3.) Wahlfreiheit (WaF)

 

Eine Person P hat in einer bestimmten zeitlichen Situation formal die Wahl, zwischen zwei oder mehreren Alternativen A, B, C, … zu wählen, ganz gleich, ob es sich dabei um Gedanken, Worte, Urteile oder Taten handelt, und unabhängig von der psychologischen Frage nach der Realisierung durch bestimmte Motive und Gründe.

 

(4.) Absolute oder transzendentale Freiheit (AF)

 

Eine Person P hat eine bestimmte Entscheidung E getroffen und eine bestimmte Handlung H ausgeführt, ohne dass ihnen dabei bestimmte Ursachen. Motive oder Gründe vorausgingen, die einzeln notwendig und zusammen hinreichend waren, um diese Entscheidung bzw. Handlung zu realisieren. Bsp.: Mythologisch: Schöpfungsakt Gottes; psychologisch: schöpferisches Handeln eines Genies.

 

(5.) Willkürfreiheit (WkF)

 

Eine Person P hat in einer Situation S zwischen den Zeitpunkten t und t’ freiwillig eine bestimmte Entscheidung E getroffen und eine Handlung H ausgeführt, die weder durch eine zweckrationale (strategische oder pragmatische) Überlegung und Abwägung der Vor- und Nachteile noch durch konsequentialistische Abschätzung der voraussichtlichen Folgen bestimmt wurde, sondern nur durch eine spontane Wahl.

 

(6.) Sittliche Freiheit (SF)

 

Eine Person P hat in einer Situation S zwischen den Zeitpunkten t und t’ eine freiwillige Entscheidung getroffen, die weder durch zweckrationale (strategische oder pragmatische) Überlegung und Abwägung der Vor- und Nachteile noch durch konsequentialistische Folgenabschätzung, sondern durch eine moralische Reflexion über ihre eigenen sittlichen Motive, Gründe und Maximen oder auf gemeinsame sittliche Ideale, Prinzipen, Normen oder Werte motiviert wurde.

 

(7.) Freiheitsbewusstsein (FB)

 

Eine Person P wurde sich aufgrund ihrer Willensfreiheit im Sinne (1.a.) der Fähigkeit zur Willensbildung, (1.b.) der willentlichen Selbstbestimmung und (1.c.) der Freiheit von psychischen Störungen der Willensbildung ihrer mehr oder weniger realisierten persönlichen Freiheit zur willentlichen Selbstbestimmung bewusst. Dieses erwachte persönliche Freiheitsbewusstsein bleibt solange erhalten, bis es durch schwere psycho-somatische Erkrankungen oder durch psychische Störungen wieder verloren geht.

 

(8.) Freiheitsbewusstsein der sittlichen Autonomie (FBSA)

 

Eine Person P wurde sich aufgrund ihrer Willensfreiheit im Sinne (1.a.) der Fähigkeit zur Willensbildung, (1.b.) der willentlichen Selbstbestimmung und (1.c.) der weitgehenden Freiheit von psychischen Störungen der Willensbildung nicht nur ihrer mehr oder weniger realisierten Freiheit zur willentlichen Selbstbestimmung bewusst, sondern hat auch ein sittliches Bewusstsein von der sittlichen Freiheit, dass sie nicht nur zu zweckrationalen (strategischen oder prag-matischen) Abwägungen der Vor- und Nachteile und zu konsequentialistischen Folgenabschätzungen fähig ist, sondern auch zur sittlichen Selbstbestimmung des eigenen Willens durch Reflexion auf sittliche Motive, Gründe und Maximen oder durch persönliche Zustimmung zu gemeinsamen sittlichen Idealen, Prinzipien, Normen oder Werten.

 

(9.) Existenzielle Freiheit (EF)

 

Eine bestimmte Person P hat aufgrund des persönlichen Bewusstwerdens ihrer Fähigkeit zur Willensfreiheit (1.a.-c.) und zur sittlichen Freiheit (6.) und zum persönlichen Freiheitsbewusstsein (7.) sich von schlechten schicksalhaften Prägungen durch Herkunft, von psychischen Einschränkungen durch traumatische Erlebnisse oder belastende Bindungen oder von anderen schädlichen Einflüssen, Verhaftungen und Verstrickungen befreit und ist zu einer starken Persönlichkeit geworden, die über ein erworbenes oder empfangenes persönliches Freiheitsbewusstsein (8.) verfügt.

 

 

1 Vgl. dazu Lengert, R. (Hg.), Philosophie der Freiheit. Karl Jaspers, 23. Februar 1883 - 26. Februar 1969, Oldenburg: Holzberg 1983.

 

2 Vgl. dazu Örnek, Y., Karl Jaspers. Philosophie der Freiheit, Freiburg: Alber 1986.

 

3 Jaspers, K., Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen. 1.Auflage: Springer, Berlin 1913, ²1920, ³1923; 4., völlig neu bearbeitete Auflage: Berlin und Heidelberg 1946 und weitere unveränderte Auflagen.

 

4 Jaspers, K., Strindberg und van Gogh. Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Swedenborg und von Gogh. Leipzig: Bircher 1922.

 

5 Jaspers, K., Psychologie der Weltanschauungen, Berlin: Springer 1919 sowie München: Piper 1994.

 

6 Jaspers scheint mir selbst diesen beiden Typen zu entsprechen. Jaspers’ ist nämlich eher ein Denker der Selbstgestaltung der menschlichen Freiheit als ein Denker der kreatürlichen Geworfenheit des Daseins und des bloßen Ausgeliefertseins an das Seinsgeschick des Menschen wie Martin Heidegger. Arendt, H., Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt am Main: Philo 1990, S. 20.

 

7 PW, S. 220-464.

 

8 PW, S. 304 f. und S. 327 f.

 

9 Vgl. dazu: Ricoeur, P., Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, Paderborn: Mentis 2004.

 

10 Vgl. dazu Ricoeur, Paul, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 1 (1960) und Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld, Bd. 2 (1960), Freiburg: Alber 2002.

 

11 Vaihinger, H., Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Berlin: Reuther & Reichard 1911.

 

12 Vgl. dazu vor allem den Abschnitt IV der zweiten Einleitung zu Kants Kritik der Urteilskraft (AA XXVI - XXVIII in: Kant, I., Kritik der Urteilskraft (1799), Hamburg: Meiner 1974, S. 15-17; Vgl. dazu auch: Wieland, W., Urteil und Gefühl, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001, S. 130 f.

 

13 Vgl. dazu Diehl, U., Karl Jaspers und die Vernunft, in: H.R. Yousefi, W. Schüßler, R. Schulz und U. Diehl (Hg.) Karl Jaspers. Grundbegriffe seines Denkens, Reinbek: Lau 2011, S. 155-167.

 

14 Zum Verhältnis des philosophischen Denkens von Jaspers zur kantischen Philosophie: Diehl, U., Ist Jaspers ein Kantianer? in: Karl Jaspers – Philosophie und Psychopathologie, Heidelberg: Winter 2008, S. 169-181.

 

15 Jaspers, K., Philosophie. 3 Bände (I. Philosophische Weltorientierung; II. Existenzerhellung; III. Metaphysik), Berlin: Springer 1932; Jaspers, K., Von der Wahrheit, München: Piper 1947.

 

16 Jaspers, K., Vernunft und Existenz (1935), München: Piper 1960; Existenzphilosophie. Drei Vorlesungen (1937), Berlin: de Gruyter 1964; Der philosophische Glaube. Fünf Vorlesungen. München: Piper 1948; Vernunft und Widervernunft unserer Zeit. Drei Gastvorlesungen, München: Piper 1950; Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung, München: Piper 1962.

 

17 Brentano, F., Vom Ursprung der sittlichen Erkenntnis (1874), Hamburg: Meiner 1969 sowie Grundlegung und Aufbau der Ethik (1876), Hamburg: Meiner 1978; neu aufgelegt in: Franz Brentano, Schriften zur Ethik und Ästhetik, Binder, Th. und Chrudzimski, A. (Hg.), Frankfurt a.M.: Ontos 2010. Husserl, E., Einleitung in die Ethik. Vorlesungen Sommersemester 1920 und 1924, Series: Husserliana: Edmund Husserl – Gesammelte Werke, Vol. 37, Peucker, H. (Hg.), Dordrecht: Kluwer 2009.

 

18 Grayling, A.C., Freiheit, die wir meinen, München: Bertelsmann 2007; Menke, C. / Pollmann, A., Philosophie der Menschenrechte, Hamburg: Junius 2007.

 

19 Ph II, S. 192-193.

 

20 Platon, Rousseau und Hegel stehen exemplarisch für ein organistisches Denkmodell, Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick für den Utilitarismus in der Ethik und Politik. Sokrates, Aristoteles und Kant hingegen stehen für den Weg von der aristokratischen Republik der Antike über das römische Rechtsdenken hin zur modernen rechtsstaatlichen Demokratie, die sich selbst eine Verfassung gibt, die Bürger- und Menschenrechte garantiert.

 

21 Ph II, S. 196-200.

 

22 Ausgangspunkte für eine sachliche Auseinandersetzung mit Heideggers philosophischem Denken, die nicht von seinen menschlichen Schwächen und politischen Verirrungen ausgeht, sondern sein fragwürdiges Denken selbst unter die Lupe nimmt, findet man bei: Tugendhat, E., Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin: de Gruyter 1967 sowie bei Ledić, J.D., Heideggers »Sach-Verhalt« und Sachverhalte an sich. Studien zur Grundlegung einer kritischen Auseinandersetzung mit Heideggers Seinsbegriff, Heusenstamm: Ontos 2009.

 

23 Vgl. dazu: Ist der Existenzialismus ein Humanismus? in: Sartre, J.-P., Drei Essays, Frankfurt a.M.: Ullstein 1977, S. 7-51. Arendt, H., Was ist Existenzphilosophie?, Frankfurt am Main: Philo 1990; Biemel, W., Jean Paul-Sartre, Reinbek: Rowohlt 1998; Murdoch, I., Sartre. Romantic Rationalist, New Haven: Yale UP 1953.

 

24 Quine, W.V.O., Word and Object, From a Logical Point of View, Methods of Logic, Ontological Relativity, The Roots of Reference, Theories and Things, etc.

 

25 Quine, W.V.O.; Follesdal, D. und Quine, D.B. (Hg.), Quine in Dialogue, Boston: Harvard UP 2008; ders., Confessions of a Confirmed Extensionalist, And Other Essays, Boston: Harvard UP 2008.

 

26 Höffe, O., Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München: Beck 2011.

 

27 Hönigswald, R., Grundfragen der Erkenntnistheorie, hg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hamburg: Meiner 1997; ders., Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft, 1914, Neuausgabe, Göttingen: Edition Ruprecht 2008.

 

28 Habermas, J., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009; Henrich, D., Denken und Subjektivität. Vorlesungen über Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007.

 

29 Vorreiter in der modernen Entwicklungspsychologie und Differentiellen Psychologie war Gordon W. Allport: Allport, G.W., Persönlichkeit. Struktur, Entwicklung und Erfassung der menschlichen Eigenart (2.Aufl.), Meisenheim: Beltz 1959.

 

30 Vgl. dazu: Bieri, P., Untergräbt die Regie des Gehirns die Freiheit des Willens? In: Heinze (M.) / Fuchs, T. / Reischies, F.M. (Hg.): Willensfreiheit – eine Illusion? Naturalismus und Psychiatrie, Berlin: Parodos 2006.

 

31 Pauen, M., Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Frankfurt a.M.: Fischer 22005 sowie Was ist der Mensch, Die Entdeckung der Natur des Geistes, München: DVA 2007.

 

32 Vgl. Unbedingte Freiheit: eine Fata Morgana in: Bieri, P., Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München: Hanser 2001 sowie Frankfurt a.M.: Fischer 2003 (2. Aufl. 2004), S. 230-279.

 

33 Vgl. dazu Kutschera, F. v., Die falsche Objektivität, Berlin / New York: de Gruyter 1993; ders., Jenseits des Materialismus, Paderborn: mentis 2003; ders., Philosophie des Geistes, Paderborn: mentis 2009.

 

34 Als Begründer der Sprechakttheorie gilt gemeinhin John L. Austin mit seinen Vorlesungen How to Do Things with Words (1962), die 1972 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Zur Theorie der Sprechakte erschienen sind. Zur weiteren Verbreitung von Untersuchungen über Sprechakte hat dann vor allem John R. Searle in seinem 1969 veröffentlichten Buch Speech Acts beigetragen. Searle hat einige Aspekte von Austins Überlegungen herausgegriffen und systematisiert. Die Eigenart solcher Sprechakte haben jedoch einige Zeit vor Austin und Searle auch schon die Phänomenologen Anton Marty und Adolf Reinach untersucht. Marty hatte bei Franz Brentano und Reinach hatte bei Edmund Husserl studiert.

 

35 Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Erster Teil, Abschnitt 1, § 6, S. 98-101.

 

36 Chisholm, R.M, Human Freedom and the Self, in: Watson, G. (Ed.), Free Will, Oxford: OUP 1982, S. 24-35, dt. Übersetzung: Die menschliche Freiheit und das Selbst, in: Pothast, U. (Hg.), Seminar: Freies Handeln und Determinismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978.

 

37 Strawson, P.F., Freedom and Resentment, in: Freedom and Resentment, and Other Essays, London: Methuen 1974, S. 1-25.

 

38 Jaspers, K., Kants Weg zur kritischen Philosophie, in: Die großen Philosophen. München / Zürich: Piper 1988, S. 404-417.

 

39 Aristoteles, Metaphysik. Schriften zur Ersten Philosophie, Stuttgart: Reclam 1976; Strawson, P.F., Individuals: An Essay in Descriptive Metaphysics, London: Methuen, 1959 (dt.: Einzelding und logisches Subjekt. Ein Beitrag zur deskriptiven Metaphysik, Stuttgart: Reclam 1972.

 

 

Ulrich Diehl, in: Thomas Fuchs, Stefano Micali & Boris Wandruszka (eds.), Karl Jaspers - Phänomenologie und Psychopathologie, Freiburg i.B.: Alber 2013