Gerechtigkeit als Fairness

 

 

100. Geburtstag des Philosophen John Rawls

 

Vordenker der Gerechtigkeit

 

Otfried Höffe im Gespräch mit Catherine Newmark

 

Gerecht ist eine Gesellschaft, wenn sie auch den Schwächsten ein würdiges Leben ermöglicht. Für diesen Grundsatz steht der politische Philosoph John Rawls. Zu seinem 100. Geburtstag erinnert Otfried Höffe an den einflussreichen Denker.

 

Welche Grundregeln braucht eine gerechte Gesellschaft? Der US-amerikanische Philosoph John Rawls schlug gern ein Gedankenexperiment vor, um diese Frage zu beantworten:

 

Angenommen, Sie müssten zusammen mit vielen anderen Menschen entscheiden, in was für einer Gesellschaft Sie leben wollen. Aber niemand von Ihnen wüsste im Voraus, welche Rolle er oder sie in dieser Gesellschaft einnehmen würde. Wenn Sie also vorab nicht wüssten, ob sie sich dort als Präsidentin oder Arzt, Lehrerin oder Arbeitsloser wieder-fänden, würden Sie sich dann für eine Gesellschaft aussprechen, in der nur Ärzte gut verdienen, oder für eine, in der auch Arbeitslose in irgendeiner Weise aufgefangen werden?

 

Durch den Schleier des Nichtwissens

 

John Rawls nannte diese gezielte Ungewissheit im Sinne einer gerechten Entscheidung den „Schleier des Nichtwissens“. Wir kennen ein ähnliches Bild aus dem Gerichtswesen, sagt der in Tübingen lebende Philosoph Otfried Höffe: „Jede Darstellung der Justiz zeigt diese Frau mit verbundenen Augen.“ Dort gehe es aber jeweils darum, in einem Einzelfall unparteiisch zu entschieden. Rawls verlange Unparteilichkeit in Bezug auf die Prinzipien, nach denen eine Gesellschaft aufgebaut werde.

 

„Damit nicht nur die gut Gestellten, die von ihren Talenten oder von ihrer gesellschaftlichen Herkunft Bevorteilten gut dastehen, sondern alle Menschen – vor allem auch die Hilfsarbeiter oder die Arbeitslosen“, fordere Rawls zwei Gerech-tigkeitsprinzipien, so Höffe: „Einerseits größte gleiche Freiheit für alle und zum anderen, vorausgesetzt, es gibt eine Chancengerechtigkeit, dann soll es den Schlechtestgestellten möglichst gut ergehen.“

 

Kein Glück für viele auf Kosten der Schwächsten

 

Mit dieser Gerechtigkeitsvorstellung habe John Rawls sich gegen die damals in der englischsprachigen Welt vorherr-schende Ethik des Utilitarismus gewandt: „Nach dem Utilitarismus kommt es auf das größte Glück der größten Zahl an, und wie schon Marx und Engels gesagt haben, findet hier eine ‚Ausbeutung des Menschen durch den Menschen‘ statt.“

 

Die Zielvorstellungen des Utilitarismus könnten nämlich durchaus dazu führen, „dass Einzelne auf fundamentale Rechte verzichten müssen, um das Wohlergehen der gesamten Gesellschaft zu befördern“, erklärt Höffe, „und dagegen wendet sich Rawls vehement.“ Im Hauptwerk des politischen Philosophen, seiner 1971 erschienenen „Theorie der Gerechtig-keit“, heißt es:

 

„Jeder Mensch besitzt eine aus der Gerechtigkeit entspringende Unverletzlichkeit, die auch im Namen des Wohls der ganzen Gesellschaft nicht aufgehoben werden kann. Daher lässt es die Gerechtigkeit nicht zu, dass der Verlust der Freiheit bei einigen durch ein größeres Wohl für andere wettgemacht wird.“

 

Entscheidung in Hiroshima

 

John Rawls, geboren am 21. Februar 1921 in Baltimore, Maryland, nahm als Soldat am Zweiten Weltkrieg teil und wurde im Pazifik eingesetzt. Er sah Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe und soll daraufhin das Angebot einer Offi-zierslaufbahn ausgeschlagen haben. 1946 verließ Rawls die Armee im untersten Dienstgrad eines Private.

 

Als Philosoph sei es ihm gelungen, den in der Wissenschaft bis dahin als „schwammig“ und „vage“ geltenden Begriff der Gerechtigkeit ins Zentrum einer stringenten Theorie zu stellen, sagt Otfried Höffe.

 

Ein basales Gerechtigkeitsempfinden sei ja schon bei Kindern zu beobachten und als „fast natürlich“ zu betrachten, so Höffe. Erst philosophische Begriffe ermöglichten jedoch ein wirkliches Verständnis dafür, worum es eigentlich gehe, wenn wir Gerechtigkeit einfordern oder gegen eine unfaire Behandlung protestieren. Zum Beispiel der Begriff der „Verfahrensgerechtigkeit“:

 

„Da gibt es die Regel: Der eine teilt, der andere wählt. Damit derjenige, der teilt, nicht am Ende schlecht dasteht, ver-sucht er, den Kuchen, um dessen Verteilung es geht, so zu teilen, dass das kleinste Stück gleichwohl möglichst genauso groß ist wie das größte Stück. Und damit haben wir schon eine Idee von Gerechtigkeit, nämlich die Gleichverteilung – vorausgesetzt alle haben denselben Anspruch auf diesen Kuchen.“

 

Gesundheit, Bildung und Wohlstand fair verteilen

 

Zentral für Rawls Verständnis von Gerechtigkeit sei der Begriff der „gesellschaftlichen Grundgüter“, so Höffe: Damit alle Menschen nach Glück und Selbstverwirklichung streben könnten, welche individuellen Ziele sie dabei auch jeweils ver-folgen mögen, müsse die Gesellschaft Voraussetzungen dafür schaffen, zu denen alle Zugang haben. An erster Stelle seien dies gleiche Rechte und Freiheiten, an zweiter Stelle stehe für Rawls die Verteilung von Chancen, Macht, Einkom-men und Wohlstand.

 

Dabei habe Rawls keineswegs denselben Lebensstandard für alle gefordert, aber er sei für eine Chancengleichheit ein-getreten, die es allen ermögliche, sich den eigenen Fähigkeiten und Interessen entsprechend zu entwickeln: „Es sind Ungleichheiten erlaubt, es darf Arme und Reiche geben, Begabtere und Unbegabtere, aber von dem System, das Rei-chen und Begabteren Chancen gibt, müssen die Schlechtestgestellten profitieren können.“

 

Daraus ließen sich ganz konkrete sozialpolitische Forderungen ableiten, so Höffe. Eine Krankenversicherung für alle Bürgerinnen und Bürger gehöre ebenso dazu wie Schulen, die auch Kindern und Jugendlichen aus armen Verhältnissen einen Zugang zu Wissen und Bildung eröffneten. Auch in Rawls Heimatland, den USA, seien diese Forderungen bis heute nicht vollständig eingelöst.

 

Mit Augenmaß durch die Pandemie

 

Wie würde John Rawls, der in späteren Werken durchaus über den Rahmen einzelner, national verfasster Gesellschaften hinausgeblickt und 1999 auch eine philosophische Theorie des Völkerrechts veröffentlicht hat, wohl heute die Heraus-forderungen der Coronapandemie beurteilen? Otfried Höffe ist davon überzeugt, dass Rawls vor allem darauf Wert legen würde, möglichst allen auf ganz unterschiedliche Weise von der Pandemie betroffenen Gruppen gerecht zu werden:

 

„Ich finde, es wird medial falsch inszeniert, dass wir primär an die Älteren denken, die den Schutz verdienen, aber weni-ger zum Beispiel an die Kinder, die in die Schule wollen, die mit ihren Freunden spielen wollen, die Auslauf brauchen – oder an die 30-, 40-, 50-Jährigen, deren Lebensperspektiven abgebrochen werden, und die darunter noch viele Jahre leiden werden.“

 

Die Schwierigkeit bestehe ja gerade darin, so Höffe, „dass wir den verschiedenen Gruppen gleichermaßen Chancen geben und nicht willkürlich eine Gruppe herausgreifen und dann noch stolz sind, dass wir ja gerade die am schlimmsten Betroffenen besonders gut behandeln und vergessen, dass viele andere nicht viel besser dastehen.“

 

Sinn für Gerechtigkeit als Stütze der Demokratie

 

John Rawls habe den Sinn für Gerechtigkeit als wesentliche Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie be-trachtet, sagt Otfried Höffe. Davon sei auch er selbst zutiefst überzeugt:

 

„Man kann hier auch von ‚Rechtschaffenheit‘ sprechen. Wenn nicht die meisten Menschen rechtschaffen sind, wenn der Staat viel zu viele Polizeikräfte einsetzen müsste und viel zu viele Menschen ins Gefängnis stecken müsste, dann würde die Demokratie nicht funktionieren.“

 

Doch in diesem Punkt ist Höffe optimistisch, allen Tendenzen zur Polarisierung der Gesellschaft und antidemokratischen Misstönen zum Trotz: „Es gibt einerseits viel Egoismus in der Menschheit. Andererseits gibt es so viele Leute, die ehren-amtlich arbeiten – das war in der ‚Flüchtlingskrise‘ zu sehen, das gibt es jetzt auch in der Pandemie-Bekämpfung –, und der Anteil dieser Ehrenamtlichen ist so groß, das beweist ja, dass trotz allem Selbstinteresse das soziale Interesse stark genug ist, sodass ich glaube: Die Demokratie wird überleben.“ (fka)

 

Otfried Höffe: Gerechtigkeit denken.

John Rawls‘ epochales Werk der politischen Philosophie

Freiburg: Karl Alber Verlag  2021

 


 

John Rawls' Urtext "Gerechtigkeit als Fairness"

 

Würde ein Sklave der Sklaverei zustimmen?

 

Sozialpolitische Kosten-Nutzen-Rechnungen sind in der Pandemie wieder aktuell: Sterben Alte und Kranke nicht sowieso? John Rawls' Text "Gerechtigkeit als Fairness" ist das Buch zur Zeit.

 

Von Gustav Seibt

 

In diesem Jahr ist ein philosophiegeschichtliches Jubiläum zu feiern: Das Buch "Eine Theorie der Gerechtigkeit" des Amerikaners John Rawls wird 50 Jahre alt. Man übertreibt kaum, wenn man es als die einflussreichste moralphiloso-phische Schrift des atlantischen Westens im späten 20. Jahrhundert beschreibt. Seine Ausstrahlung reicht inzwischen sogar darüber hinaus, denn Rawls hat es später um eine politische Philosophie ergänzt, der es vor allem um das Zu-sammenleben von Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und Weltanschauungen in liberalen Gesellschaften geht. Damit ist auch die Frage gestellt, wie auf der Basis von so unterschiedlichen Voraussetzungen gemeinsame Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickelt und aufrechterhalten werden können. Dieses Thema wird das 21. Jahr-hundert weiter begleiten.

 

Die "Theorie der Gerechtigkeit" hat einen einfachen und weitreichenden Grundgedanken, den Rawls schon ein Jahr-zehnt vor seinem umfangreichen Buch in einem längeren Aufsatz formuliert hat. Er erschien 1958 unter dem Titel "Ge-rechtigkeit als Fairness" ("Justice as Fairness") in The Philosophical Review. Reclam hatte jetzt die schöne Idee, diesen Urtext in einer zweisprachigen, detailliert kommentierten Ausgabe vorzulegen. Die Übersetzung ist nicht nur sprachlich sehr gelungen, sie stellt auch eine Hilfe beim Verständnis des Originaltextes dar, weil sie durch in Klammern gesetzte Wiederaufnahmen von Begriffen syntaktische Bezüge in Rawls' zuweilen langen, komplex aufgebauten Sätzen verdeut-licht.

 

Lang sind diese Sätze, weil sie die Argumente schon im Entstehen gegen Einwände absichern oder durch beispielhafte Anwendungen erläutern. Die Prosa von Rawls ist konzentriert und luzide, und das lässt eine Übersetzung besonders schön hervortreten. Dem zu folgen, bereitet großes Vergnügen, auch weil Rawls philosophiegeschichtlich wenig voraus-setzt, obwohl er sich doch immer wieder auf ältere Traditionen, etwa das Vertragsdenken oder Kant anspielt. Der neu-gierige Leser kann sich aber ganz dem Text überlassen.

 

Gerecht sind nur Ordnungen, denen alle daran Teilnehmenden zustimmen können

 

Rawls geht es nicht um gerechte Handlungen, um Gerechtigkeit als individuelle Tugend. Er fragt vielmehr nach der Gerechtigkeit gesellschaftlicher, politisch-sozialer Ordnungen. Diese Ordnungen betreffen nicht nur Individuen, sondern auch Verbände, beispielsweise Familien, juristische Personen, Institutionen oder sogar Staaten. Vorausgesetzt ist die Verschiedenheit der Teilhaber an solchen Ordnungen. Gerechtigkeit wird ja überhaupt erst zum Problem, wenn Men-schen oder ihre Verbände erst einmal unterschiedlich und ungleich sind. Das Spannungsfeld, in dem Gerechtigkeit hergestellt werden soll, liegt zwischen der Autonomie oder Freiheit solcher Teilnehmer einerseits und dem Nutzen für alle diese Teilnehmer andererseits.

 

Dabei müssen zwei Hauptfragen beantwortet werden:

  • erstens die nach der sogenannten Verteilungsgerechtigkeit, also der Zuteilung von Gütern, Chancen, Rechten und Pflichten an die Teilhaber einer Gerechtigkeitsordnung;
  • zweitens die nach dem Nutzen für alle Beteiligten.

Mechanische Verteilungsgerechtigkeit ist schwierig in einer Gesellschaft Verschiedener, ihre Folge kann leicht die Be-schneidung individueller Bedürfnisse und persönlicher Freiheit sein. Und eine Berechnung des Gesamtnutzens, die Vor- und Nachteile einfach über die Köpfe der Teilnehmer hinweg zusammenaddiert, kann höchst ungerechte Auswirkungen haben. So können ökonomische Überlegungen dahin führen, dass Sklaverei zwar im Einzelnen großes Leid erzeugt, dieses aber in der Summe durch den Nutzen an anderer Stelle übertroffen wird.

 

Solche utilitaristischen Überlegungen spielen in der aktuellen Pandemie wieder eine gewisse Rolle, wenn vorgerechnet wird, dass der Schutz von Vulnerablen in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen, aber auch psychologischen Schäden an anderen Stellen der Gesamtgesellschaft durch die Schutzmaßnahmen stünden. Sterben Alte und Kranke nicht immer und sowieso? Warum müssen dafür Jugendliche, Geschäftsleute oder Künstler leiden? Werden unterm Strich nicht so-gar mehr Lebensjahre verspielt als gewonnen?

 

Rawls hält solche Berechnungen für prinzipiell falsch. Gerecht sind für ihn nämlich nur Ordnungen und Einrichtungen, denen alle daran Teilnehmenden zustimmen können, unabhängig von der Frage, welche Position sie in dieser Ordnung innehaben. Es geht immer um Wechselseitigkeit. Man müsste, um beim pandemischen Beispiel zu bleiben, also danach fragen, ob man die Kosten-Nutzen-Rechnung auch dann akzeptieren würde, wenn man selbst alt, gebrechlich oder vorerkrankt wäre. Oder, um zum Beispiel von Rawls zurückzukehren: Würde man mit der Aussicht, selbst Sklave werden zu müssen, der Institution der Sklaverei aus gesamtgesellschaftlichen Vorteilserwägungen zustimmen?

 

Im Mittelpunkt stehen die Vorteile aller Einzelnen

 

Diese Frage lässt sich auch für andere Verteilungsfragen stellen. Die Menschen sind nicht nur verschieden nach Anla-gen, Motivationen, Herkünften, sie leben und kooperieren auch arbeitsteilig. Ungleichheiten sind so unvermeidlich wie meist auch lebensdienlich. Die Gesellschaft ist auf Leistungsanreize und Tauschgeschäfte angewiesen, und dieses Zusammenwirken Verschiedener ist, wenn es gerecht zugeht, zum Vorteil jedes einzelnen Teilnehmers. Dieser Vorteil aller, nicht der Kollektive, sondern aller Einzelnen, ist jene "Fairness", die für Rawls das entscheidende Kriterium der Gerechtigkeit darstellt.

 

Es geht also um ein Prinzip. Die Umsicht, mit der Rawls es schon in dem ersten Aufschlag von 1958 formuliert, zeigt ein hohes Bewusstsein für die Komplexität der Ausbuchstabierung und der Anwendungen in der sozialen Wirklichkeit. Chancengerechtigkeit, also die prinzipielle Möglichkeit für jeden, nach seinen Fähigkeit alle Positionen in einer Gesellschaft zu erreichen, auch die "höchsten", angesehensten, am besten dotierten, bleibt angesichts sehr unterschiedlicher gewachsener Startbedingungen ein nur annäherungsweise erreichbares Ziel.

 

Die enorme Wirkungsgeschichte von Rawls' Gedanken hat mit dem Anwendungspotenzial zu tun, das er eröffnet. Die Spannung von individueller Autonomie und von allen geteilten Vorteilen in einer für alle akzeptablen Ordnung muss immer wieder neu "ausgehandelt" werden. "Aushandeln" mag ein aktuelles Modewort sein, aber immerhin erinnert es an den ehrwürdigen Hintergrund von Theorien des Gesellschaftsvertrags, an die Rawls' genial-einfacher Begriff der Fairness - deutsch käme ihm wohl die alte "Billigkeit" am nächsten - anknüpft.

 

John Rawls: Justice as Fairness / Gerechtigkeit als Fairness.
Aus dem Englischen von Corinna Mieth und Jacob Rosenthal.
Ditzingen: Reclam-Verlag 2020