Identität (lexikalisch)
Stammt vom lat. idem: „derselbe, dasselbe“ ab. Die Eigenschaft von jemand oder einer Sache, der oder die mit sich selbst übereinstimmt, bzw. der oder die nur eine einzige Realität verkörpert, egal auf wie viele verschiedene Weisen man sich ihm bzw. ihr nähert.
Der Begriff taucht zuerst in der Logik auf: als Prinzip der Identität, was bedeutet, dass A = A, und zugleich die Grund-lage jeder gültigen Beweisführung darstellt.
In der Antike wurde das Identitätsproblem bereits vorweggenommen, mit dem von Plutarch geschilderten Problem des Schiffs von Theseus und der Frage, ob dieses Schiff, nachdem man auf seiner langen Fahrt seine sämtlichen Bestandteile austauschen musste, bei seiner Rückkehr in den Hafen noch dasselbe sei.
Größere Bedeutung in der Philosophie erhält die Frage nach der subjektiven Identität aber erst im 17. Jahrhundert bei Locke, der die Identität ausgehend vom Bewusstsein und der Erinnerung begründet, und Leibniz, der sie hingegen auf dem Unbewussten gründet und zudem das „Prinzip der Identität des Ununterscheidbaren“ formuliert, das besagt, dass Gott niemals zweimal dasselbe erschafft und alles Seiende sich also von anderem Seiendem unterscheidet, und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ. Demnach kann es keine zwei numerisch verschiedenen Dinge geben, die gleichzeitig in all ihren Eigenschaften übereinstimmen.
Der Begriff der Identität findet sich in der Metaphysik wie auch in der Psychologie und ebenso in der Politik, wo man seit den demokratische Revolutionsbewegungen des 18. Jahrhunderts und der Entstehung der Nationalstaaten nach Antworten auf die Frage sucht, was die Identität eines Volkes ausmacht. Heutzutage erfährt das Problem eine Neu-auflage in der Debatte zwischen Liberalisten und Kommunitaristen.
Ricoeur verbindet diese unterschiedlichen Ansätze in seinem Konzept der „narrativen Identität“: diese erlaubt es dem Individuum, durch Selbsterzählung seine „idem-Identiät“ (Charakter, Gewohnheiten, äußerlichen Merkmale, die zur Identifizierbarkeit über die Zeit hinweg dienen) zu seiner „ipse-Identität“ (selbstgetroffene Entscheidungen, Selbst-erkenntnis, Selbstkonzepte) zu entwickeln und zu einer Person zu werden. Dasselbe gilt für ganze Völker, die ihr eigenes Schicksal gestalten, indem sie ihre Geschichte entweder bewahren oder aber, mehr oder weniger freiwillig oder unfrei-willig, in Vergessenheit geraten lassen.
https://www.philomag.de/lexikon/identitaet
Die Suche nach der eigenen Identität
„Wer bin ich? Frag doch die anderen!“ heißt ein aktuelles Buch der Berliner Psychotherapieprofessorin Eva Jaeggi. Identität ist längst nichts eindeutiges mehr, sondern ein Balanceakt. Sie kann sich im Lauf des Lebens ändern, allerdings bleibt immer ein Kern des Persönlichen.
Andrea und Justin Westhoff
„Mithilfe der Polizei sucht ein Mann nach seiner Identität: Der circa 50-Jährige ist seit gut zwei Wochen im Krankenhaus und kann sich weder an seinen Namen noch an seine Herkunft erinnern.“
„Wenn ich mich frage, ja wer bin ich eigentlich, ist das etwas, was ein Konglomerat ist von Gefühlen für mich selbst und – ganz wichtig – von dem, was andere mir sagen.“
„Wir haben Identitäten auf Zeit, dass wir uns für kurze Zeit zu etwas zugehörig fühlen, aber immer die Freiheit haben, in ein anderes Programm zu switchen, auch was uns selbst anbelangt.“
„Es ist im Prinzip egal, ob wir das nun digital oder analog nennen oder sagen: ‚heute bin ich eher Vater und morgen bin ich eher Bruder‘ oder was auch immer, letztlich führt das immer zu uns als Individuum zurück, und deswegen ist die digitale Identität Teil der gesamten Identität.“
„Es gibt unendlich viele Positionierungen zu dem Konstrukt nationaler Identität. Und das macht die Selbstdefinition sehr viel schwieriger.“
„In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternenhimmel, ein Chaos von Formen, Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten.“ – Hermann Hesse, in Der Steppenwolf.
Identität – ein Rollenspiel
„Es stimmt sicher, dass Identität heutzutage differenzierter gesehen wird, und dass es vor allem wichtiger ist.“
Eva Jaeggi, inzwischen emeritierte Psychologieprofessorin in Berlin, hat kürzlich ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Wer bin ich? Frag doch die anderen!“
„Die Frage ‚Wer bin ich? Wer bist du?‘ ist außerordentlich wichtig geworden in einer Gesellschaft, die sich aufgesplittert hat in sehr unterschiedliche Gruppen, die natürlich arbeitsteilig auch organisiert ist, und wo die Frage ‚Wo gehöre ich hin?‘, nicht so eindeutig zu beantworten ist, weil die Rollen nicht mehr so eindeutig definiert sind.“
Bei den Identitätstheorien spielt die Psychologie eine große Rolle. Sigmund Freud und mit ihm die Psychoanalyse hat
ja das „Ich“ besonders im Blick. Identität sei zunächst „ein Gefühl für die eigene Person“, ein unverzichtbarer Aspekt
der menschlichen Entwicklung in der Abgrenzung von anderen Menschen.
„Wenn Kinder anfangen, sich selbst im Spiegel zu erkennen, wenn sie sprachmächtig sind, ich sagen, dann kann man sagen, das Kind hat eine erste vage Ahnung davon, wer es eigentlich ist, und das gehört auch zur Identität, dass Handlungen oder auch Gefühle etwas sind, was aus einem selbst kommt.“
Schon Freud hatte betont, dass das „Ich“ einerseits aus den „Trieben“, den elementaren Bedürfnissen entsteht, und andererseits aus den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Identität entwickelt sich in einem immerwährenden Dialog mit den Anderen, wie es der amerikanische Soziologe George Herbert Mead nannte. Eva Jaeggi:
„Sehr viel wird natürlich von der Umwelt produziert, so wie man schon als kleines Kind von den Eltern und anderen wichtigen Personen benannt wird: ein gutes, ein böses Kind, ein lebhaftes Kind, ein stilles Kind, das sind alles Benen-nungen und Begriffe, mit denen eine Person sich auch irgendwann identifiziert, das geht natürlich dann die ganze Entwicklung hindurch mit Kollegen, mit Geschwistern, bis hin zur Liebesbeziehung, und das können sehr destruktive Zuschreibungen sein und sehr konstruktive.“
Früher gingen Identitätstheorien allerdings davon aus, es gebe eine Entwicklung vom Einfachen zum Komplexen. Deshalb wurde wissenschaftlich auch besonders die Identitätsentwicklung bei Jugendlichen untersucht, weil man annahm, dass der Entwicklungsprozess irgendwann zu einem Ende kommt – man sprach dann von einer „gefestigten Persönlichkeit“.
Heute liegt die Betonung auf der lebenslangen Veränderlichkeit. Der Sozialpsychologe Heiner Keupp spricht von der „Patchwork-Identität“ des heutigen Menschen, die immer gekoppelt ist an die jeweiligen gesellschaftlichen Be-dingungen, auch an eine gesicherte ökonomische Basis.
Die Psychologin Eva Jaeggi stellt in ihrem Buch verschiedene – wie sie es nennt – „typisch moderne Identitäten“ vor,
zum Beispiel die Single-Identität, etwas, das es erst seit wenigen Jahrzehnten gibt:
„Es hat immer schon Alleinstehende gegeben, sie wurden ganz anders konnotiert. Als etwas seltsam oder verschroben oder einfach von ihrem sozialen Habitus her unmöglich zu heiraten, also das waren ganz andere Zuschreibungen, und wir sind noch immer in einer Phase, wo dieses Dasein als Single sehr unterschiedlich bewertet wird.“
Befragungen zeigen, dass sich Singles in einer Art Übergang zwischen alt und neu befinden, nämlich ...
„... dass manche der Singles sich sehr stark noch an alten Begriffen orientieren, also sich selbst auch Schuld zuschreiben, dass sie so seltsam sind, heutzutage sagt man dann ‚beziehungsunfähig‘, und es gibt Singles, die das mit großem Stolz sagen: ‚ich brauche niemanden‘, wobei man natürlich auch sagen muss, man ist nicht immer Single auf Lebenszeit, aber über längere Zeit alleine zu leben, ist etwas, wo man sein ganz eigenes Spezielles finden will.“
Auch im Alter gibt es oft einen Widerspruch zwischen Selbstgefühl und Fremdzuschreibung. Menschen etwa ab 65 sehen sich noch vielfach konfrontiert mit früheren Stereotypen – negative wie: alt gleich schwach oder unnütz, aber auch positive wie: alt bedeutet weise und ehrwürdig. Die Psychoanalytikerin hört in ihren Therapiegesprächen viele Fragen:
„Wie man sich in diesem Alter zu kleiden hat, kann man sich da noch tätowieren lassen, geht man viel zum Arzt oder joggen und Skifahren, also das sind sehr, sehr unterschiedliche Bilder, und sehr viele Menschen vor allem in der Mittel-schicht, die ja auch wirklich oft gesund und kräftig sind, haben das Gefühl, das passt auf mich überhaupt nicht, das Wort Alter, und andererseits müssen sie zugeben, jung bin ich natürlich auch nicht mehr.“
Identitätsprobleme dieser „jungen Alten“ ergeben sich etwa am Ende der Erwerbstätigkeit: Was kann ich noch Sinn-volles tun, oder in der Rückschau: War ich die Person, die ich hätte sein können? Oft ist es auch notwendig, das Leben anders, neu zu organisieren, etwa wegen eigener Krankheit oder Partnerverlust.
„Es geht aber nicht nur um die jungen Alten, auch die älteren, die wirklich alten Menschen werden aufgerufen dazu,
und das sind wieder gesellschaftliche Bewertungen, zum Beispiel wie ein berühmtes Buch heißt ‚erfolgreich zu altern‘. Erfolgreich altern heißt natürlich auch, eigentlich nicht zu altern. Oder das, was man dann doch notwendigerweise eingestehen muss an Altersgebrechen, so in einer Perspektive zu sehen, die zeigt, dass man weise geworden ist, dass man damit umgehen kann.“
Insgesamt sind die Menschen heute freier, ihre Identität zu definieren. Doch für viele bedeutet der Wegfall der halt-gebenden Strukturen auch eine Überforderung. Sie versuchen sich immer wieder in neuen Rollen und verlieren sich dabei ganz. Richard David Precht spricht in seinem Buch „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“ sogar von negativer Identität:
„Wir haben keine dauerhafte Zugehörigkeit mehr zu etwas. Es gibt natürlich immer noch Menschen, die die haben,
aber mehrheitlich entwickelt sich die Gesellschaft in die Richtung, dass wir uns nicht mehr ein Leben lang mit einer bestimmten Rolle identifizieren. Sondern dass wir uns eigentlich vor allem Dingen dadurch identifizieren, dass wir
nicht wie alle anderen seien wollen.
Ich bin anders – Digitale Identität
„Die Menschen wollen ins Internet und wissen, was ihre Freunde machen. Also bau‘ ich ne Website, die das anbietet.
Ich rede davon, sämtliche Erlebnisse im College online zu stellen.“ – Aus dem Film über Facebook-Erfinder Marc Zuckerberg.
Viele User präsentieren heutzutage im Web ihre Identität, ihr Profil. Und das ist meist nicht virtuell im Sinne von künstlich. Dr. Stefan Humer, Leiter des Arbeitsbereichs Internetsoziologie an der Universität der Künste Berlin sagt,
das Digitale sei Teil unserer Lebenswirklichkeit ...
„... und deswegen gibt es meiner Meinung nach nur die eine Identität, die wir haben als Mensch, die natürlich sehr vielfältig ist, die aus unterschiedlichen Teilidentitäten besteht, man ist Bruder oder Vater oder Arbeitnehmer oder Arbeitgeber, oder was auch immer, das sind natürlich unterschiedliche Rollen, und genauso ist es mit Digitalisierung auch, das ist ein im Prinzip anderer Bereich, der aber letztlich immer auf uns als Menschen zurückführt.“
Manche verstecken sich in der Anonymität, aber viele Aktive im Netz wollen erkannt werden, beschreiben ihre Vorlieben und Abneigungen, präsentieren Selfies und Statusmeldungen aus ihrem Leben.
„Eine der größten Chancen, wenn nicht sogar die größte ist tatsächlich, dass man näher an sich selbst herankommt.
Also ich kann durch die Gestaltungsmöglichkeiten, die Digitalisierung mir bietet, einfach ganz viele Dinge meines Selbst besser ausleben. Wenn ich zum Beispiel räumlich etwas nicht ausleben kann, einfach weil das in meinem Umfeld nicht geht, also bestimmte Leuten für bestimmte Spiele oder Veranstaltungen zu treffen, dann kann ich das immerhin noch online ausdifferenzieren und mir da meinetwegen anschauen, wie es ist, ein bestimmter Fan von irgendetwas zu sein oder ähnliches.
Für Miriam Meckel, Direktorin des Instituts für Medien- und Kommunikationsmanagement der Uni Graz, sind die Chancen der Ich-Findung im Netz dagegen eher gering. Bei der „Internet-Identität“ gebe es einen Zwang zur Selbst-optimierung: Nicht „Wer bin ich?, sondern Wer oder wie muss ich sein?, damit mich die Anderen mögen, lautet die Frage. Das führt dazu, dass Menschen im Netz ihr Profil immer wieder den jeweiligen Anforderungen anpassen. Stefan Humer meint allerdings:
„Es ist natürlich insgesamt trotzdem immer noch ein Riesenspielraum, und ob das unbedingt so ein Automatismus ist, dass man sich selber mehr nach den Vorgaben oder Erwartungen der Anderen richtet im digitalen Raum, da bin ich mir jetzt nicht so sicher, weil ich eben immer auch Fälle entdecke, wo es Leute gibt, die schon sehr, sehr viel eigene Ideen und Eigeninitiative einbringen und das auch umsetzen können.“
Selbstverständlich sieht der Internetsoziologe auch die Risiken: Dazu gehört, dass jeder zwangsweise identifiziert wird über unzählige Einzeldaten: Bei jeder Nutzung im Netz hinterlässt man Datenspuren, beim Einkaufen, ob online oder im Laden mit der Kreditkarte, werden Profile erstellt. Und richtig gefährlich ist Identitätsdiebstahl im Netz.
Einen absoluten Schutz gibt es nicht, aber doch einige technische und rechtliche Maßnahmen. Entscheidender sei aber, sich des Neuen erst einmal bewusst zu werden:
„Das ist einfach die Frage der Kompetenz, die wir im Rahmen unserer Sozialisation haben, ich muss also fürs Digitale sehr viel eigenständig lernen, man muss das eigentlich im Vorfeld mal so ein bisschen für sich selbst durchspielen, wie man es in anderen Lebenssituationen ja auch macht, beim Auto fahren weiß ich ja auch, wenn jetzt ein Unfall passiert, was ich dann machen muss, womit ich rechnen muss, was das für Folgen hat, das wird aber im digitalen Raum gar nicht gemacht, und damit sollte meines Erachtens so eine eigene Stärkung des digitalen Umgangs immer beginnen.“
Wenn ich in der analogen Realität etwas von mir preisgebe, bleibt es im gewünschten Kreis, selbst wenn ein bisschen „rumgetratscht“ wird. Im Internet bleibt das Profil quasi für immer – und es ist auch sichtbar für Menschen, die von diesem Teil meiner Person nichts wissen sollen, zum Beispiel Arbeitgeber.
„Also noch sehe ich tatsächlich die Möglichkeit, dass man sehr viel Gefahr abwehren kann, das wird natürlich nicht immer so anhalten, da wird's auch sicherlich dieses Hase-und-Igel-Spiel geben. Und deswegen ist es natürlich jetzt hilfreich, sich jetzt damit auseinanderzusetzen.“
Bei der Frage „Wer bin ich?“ geht es nicht nur um die individuelle, sondern auch um Gruppenidentität – und dabei sehr häufig um die kulturelle Herkunft.
Woher kommst Du wirklich? Kulturelle Identität
„Wir sind hier geboren, Deutschland, wir sind ein Teil davon. Und ihr wollt uns ständig sagen, dass wir nicht dazu gehören. Eure ganzen Scheißdebatten, das tut diese Jugend stören.“
Kamyar und Dzeko mit ihrem Rap und Video „Generation Sarrazin“, das 2014 erstmals bei Zeit online erschien. Ihre Eltern kommen aus dem Iran beziehungsweise aus Montenegro, sie haben zwei Staatsangehörigkeiten, sind zwei-sprachig aufgewachsen, muslimisch erzogen, gut in der Schule – zwei ganz normale Jugendliche aus Fulda eben.
„S-Arrazin, geht es heute nicht gut. Guck mal alle meine Freunde, sie sind deutsch so wie du.“
Die kulturelle Identität: bestimmt durch das Herkunftsland, durch Sprache oder Religion, auch durch Zugehörigkeits-gefühl und äußere Zuschreibungen. Doch vor allem angesichts der weltweiten Migration verwischen sich Merkmale immer mehr. Die Soziologin Dr. Naika Foroutan ist stellvertretende Direktorin des „Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung“ an der Humboldt-Universität Berlin. Sie hat zwei aktuelle Studien gemacht, welche die Wirkungen der Migration auf den Prozess der Identitätsbildung in Deutschland untersuchen. Im Fokus der ersten Studie: muslimische Migranten der zweiten und dritten Generation.
„Auf die Frage, als was würden sie sich bezeichnen, kamen immer wieder solche Aussprüche: ‚Ich bezeichne mich lokal als Berliner oder Berlinerin‘, und wenn wir danach gefragt haben: ‚Warum bezeichnest du dich nicht als Deutscher oder Deutsche?‘, kam immer wieder: ‚Wenn ich das sage, glaubt mir doch sowieso keiner.‘“
Menschen mit Migrationshintergrund haben es schwer, eine neue Identität zu finden: entfremdet von der Herkunfts-kultur, fremd in Deutschland, unter Assimilierungsdruck. Selbst- und Fremdwahrnehmung fallen auseinander. Viele sehen eben anders aus, haben fremd klingende Namen und werden entsprechend auch angesprochen – Woher kommst du eigentlich?
Die Studie unter dem Namen „Heymat“ – geschrieben mit „Y“ – hat gezeigt, dass es sehr verschiedene, sich über-schneidende Selbstzuschreibungen gibt,"hybride“ Identitäten. Zuerst die"Einheimigkeit“: Menschen, die sich eindeutig zugehörig fühlen.
„Sie haben dann gesagt: ‚Ich bin deutsch, und ich möchte nicht mehr darauf angesprochen werden, wo ich herkomme‘, andere haben in dieser Eindeutigkeit betont: ‚ich bin Türke und bleibe Türke, egal, ob ich hier geboren bin oder nicht‘, also das war diese Sehnsucht nach Eindeutigkeit.“
Die zweite Kategorie nennt die Migrationsforscherin „Mehrheimigkeit“: Eine Person beschreibt sich ganz unterschied-lich: mal als Deutscher, mal als Araber, dann als Moslem, als Bayern-Fan oder Vegetarier.
„Dann hatten wir welche, die gesagt haben: ‚Ich hab lange Jahre damit gehadert, mit meiner Identität, bin ich jetzt Deutsche oder bin ich jetzt Türkin, bin ich jetzt Deutscher oder bin ich jetzt Araber, aber daraus möchte ich mich jetzt befreien, ich habe eine neue Identität, und die heißt: Ich bin Muslima‘. Und dann hatten wir auch noch diejenigen, die sich vollkommen verweigert haben irgendeiner Form nationaler oder religiöser oder ethnischer oder kultureller Kategorisierung, die haben dann einfach gesagt: ‚Ich bin ich. Ich bin Weltbürger. Und ich bin einfach Mensch‘.“
Letztere sind eine eher kleine Gruppe. Die Mehrheit zeigt Sehnsucht nach eindeutiger Zugehörigkeit. Dies hat offenbar vor allem damit zu tun, dass in Deutschland die Kombination muslimisch und Migrantenkind negativ besetzt ist – mit der Folge zunehmender Desintegration gerade bei Jugendlichen. Oft führt dies auch zu einer bewussten „Gegen-identität".Dabei wird auf eine muslimische Tradition zurückgegriffen, die zunächst gar nicht existierte, sagt Naika Foroutan.
„Ein Patchwork aus dem, was man weiß, aus dem, was zugeschrieben wird und aus dem, was man selbst neu erfindet, und wir konnten bei unseren Interviewpartnern feststellen, dass sehr viele über äußere Zuschreibungen erst zu dem Moment gefunden haben, sich selbst als muslimisch zu bezeichnen. Dass sie in der Schule als Muslime angesprochen wurden, und sich dann angefangen haben zu bilden oder in irgendeiner Form der Religion zuzuwenden.“
So aber können sie auch an die Falschen geraten, an radikale Gruppierungen, weil sie dort Anerkennung finden und die ersehnte eindeutige Identität.
Auch die zweite Studie der Berliner Migrationsforscher hat gezeigt, dass diese Zugehörigkeitsbeschreibung „wir Deutsche“ und „die Ausländer“ noch sehr verbreitet ist, und dass insbesondere Muslime als negativer Gegenpol zur eigenen Identität gesehen werden. Was und wer also ist deutsch?
„Erst mal haben wir festgestellt, dass 90 Prozent gesagt haben: ‚Deutscher ist, wer die deutsche Sprache spricht‘, und
80 Prozent haben gesagt: ‚Deutscher ist, wer die deutsche Staatsangehörigkeit hat.‘ Dann konnten wir aber gleichzeitig beobachten, dass ungefähr 40 Prozent gesagt haben: ‚Deutscher ist, wer deutsche Vorfahren hat.‘ Das ist nun etwas, was man nicht erlangen kann. Wenn man das nicht hat, kann man noch so gut die Sprache sprechen, den Pass haben, trotzdem wird man zu dieser nationalen Kategorie von 40 Prozent der Bevölkerung nicht hinzugezählt.“
Identität bleibt für viele auch ein Kampfbegriff vor dem Hintergrund kultureller Konflikte: Das zeigen die Debatten um Leit- oder Mehrheitskultur und um die „Parallelgesellschaft“. Wohl sinnfälligstes Beispiel ist die Diskussion um Christian Wulffs Ausspruch von 2010:
„Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.
Die Gegenrede des damaligen CSU-Innenministers Friedrich:
„Dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends belegen lässt.“
Konsequenter Ausdruck dieser Haltung sind die „Patrioten gegen die Islamisierung des Abendlandes“. Pegida arbeitet wie alle nationalistischen Bewegungen mit der Idee, dass Identität etwas Unveränderliches ist. Diese Ideologie fragt nicht: „Wer bin ich?“, sondern „Bist Du so wie wir?“
Forscher hingegen nennen Deutschland „postmigrantisch“. Einwanderung mit positiven Folgen ebenso wie mit Problemen ist alltäglich: In der Bundesrepublik leben fast 17 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, davon haben etwa neun Millionen die deutsche Staatsangehörigkeit. Für die Soziologin Dr. Naika Foroutan sind postmigran-tische Gesellschaften „Aushandlungsgesellschaften“:
„Es wird Verteilungskämpfe geben, der Ton wird sich verschärfen. Und in diesen Gesellschaften gibt es sowohl jene, die sehr, sehr stark nach Eindeutigkeiten streben, denen die Ambivalenz einfach schwer ertragbar ist, und es gibt andere, die spielerischer damit umgehen können, und wiederum dazwischen gibt es welche, die sich vielleicht Eindeutigkeiten wünschen, aber ganz pragmatisch sagen: ‚die Gesellschaft hat sich verändert, und Deutscher ist heute auch, wer einen nicht deutsch klingenden Namen hat oder wer eben phänotypisch anders aussieht, als man sich früher Deutsche vorgestellt hat‘. Mehrdeutigkeit zu akzeptieren ist eine Herausforderung, die nicht immer angenehm ist.“
Identität – ein Balanceakt
Identität ist nichts Eindeutiges, sondern ein Balanceakt, schreibt die Psychoanalytikerin Eva Jaeggi in ihrem Buch:
„Wer bin ich? Frag doch die anderen“.
„Man nimmt sich mit, wohin man geht.“ – aus Ernst Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“.
Aber was ist dieses „Ich“? Gibt es einen unveränderlichen Kern der Identität?
„Jeder Mensch hat ein Gefühl dafür, dass er etwas ganz Spezielles in sich trägt, die ganz andere Form der Person, die sich abhebt von anderen, andererseits muss man sagen, natürlich sind wir sehr stark abhängig von den Zuschreibungen anderer Menschen; Auch wenn man sich sehr genau selbst befragt, zum Beispiel in einer Therapie, wo das natürlich Thema ist, wird man sagen müssen, ‚Ich bin mal das, ich bin mal das, nicht ganz beliebig,ich habe schon etwas, was ich als mein ganz Eigenes ansehe, aber ich bin mir dessen bewusst, dass sich das auch verändern kann‘.“