Kantjahr 2024

 

 

Notizen zum Kantjahr 2024

 

Die große internationale Kanttagung der Kantgesellschaft (Universität Mainz) zum 300. Geburtstag Immanuel Kants sollte in seiner Heimat im ehemaligen Königsberg stattfinden. Die Stadt wurde 1946 in Kaliningrad umbenannt und

liegt heute in der Russischen Föderation.

 

"Bis 1945 war Königsberg als Hauptstadt der preußischen Provinz Ostpreußen deren kulturelles und wirtschaftliches Zentrum. Mit der Reichsgründung wurde es 1871 zur nordöstlichsten Großstadt des Deutschen Reiches. Im April 1945 eroberte die Rote Armee in der Schlacht um Königsberg die durch zwei britische Luftangriffe schon 1944 weitgehend zerstörte Stadt. Anschließend nahm die Sowjetunion das nördliche Ostpreußen mit Königsberg in Besitz. Die nach der Eroberung in Ostpreußen verbliebene und auch in den Jahren danach am Leben gebliebene deutsche Zivilbevölkerung wurde bis 1948 in die Sowjetische Besatzungs-zone Deutschlands umgesiedelt." (Wikipedia: Königsberg)

 

Nach dem kriegerischen Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine, verlegte die Kantgesellschaft aufgrund eines internen Mehrheitsbeschlusses ihrer jährlichen Mitgliederversammlung die Tagung an die Universität Bonn, da an der Immanuel Kant Universität in Kaliningrad aufgrund der innenpolitischen Situation Russlands mit ihrer nationalistischen Propaganda eine politisch unabhängige und inhaltlich frei gestaltete internationale Tagung nicht mehr gewährleistet werden konnte.

 

1. Politische Instrumentalisierung Kants zum Kantjubiläum 2024 in Russland

 

Die Kant-Gesellschaft kündigt ihre Tagung auf ihrer neu gestalteten Homepage wie folgt an:

 

Vom 8.-13. September 2024 wird der 14. Internationale Kant Kongress vom Institut für Philosophie Bonn und von der Kant-Gesellschaft e.V. (Deutschland) veranstaltet. Im Gedenken an den 300. Geburtstag Kants und im Hinblick auf die politischen Entwicklungen unserer Tage lautet das Thema des Kongresses "Kants Projekt der Aufklärung". In Bonn wird im Jahr 2024 zugleich das 75. Jubiläum der deutschen Verfassung gefeiert, die dort am 23. Mai 1949 als „Grundgesetz für die Bundes-

republik Deutschland“ veröffentlicht wurde und damit in Kraft getreten ist.  http://www.kant-gesellschaft.de/

 

Die Kantgesellschaft ist rechtzeitig den zu erwartenden  Versuchen der politischen Instrumentalisierung Kants und des Kantjubiläums zuvorgekommen. Denn Putins Regierungspropaganda hat bereits verlauten lassen, dass Kant ein "Untertan Russlands" (gewesen) sei, was historisch falsch ist, da Königsberg zu Kants Lebzeiten noch zum Königreich Preußen gehörte. Kant war äußerlich in politischer Hinsicht ein "Untertan" des preußischen Königs Friedrich des Großen. Das hat ihn jedoch innerlich nicht davon abgehalten in seiner Friedensschrift "Zum Ewigen Frieden" sich kritisch über Herrscher zu äußern, die nicht aufhören Kriege führen, weil sie immerzu nach Steigerung ihrer Macht streben.

 

Kants Denken hat also auch heute noch das Potential, imperialistisch denkende Despoten wie Wladimir Putin vor dem Gerichtshof der Vernunft anzuklagen. Das ist zwar nicht der Internationale Gerichtshof im niederländischen Den Haag. Aber diesen realen Internationalen Gerichtshof in den Niederlanden gibt es vermutlich nur aufgrund des ideellen kosmopolitischen Gerichtshofes, den Kant sich als republikanischer Verteidiger der rechtlich-politischen Ideale der Französischen Revolution ausgedacht hatte.

 

2. Politische Instrumentalisierung Kants zum Kantjubiläum 2024 in Deutschland?

 

Die internationale Kanttagung in Bonn wird unter der Leitung von Prof. Dr. Christoph Horn von Institut für Philosophie an der Universität Bonn ausgerichtet. Damit ist sie in wissenschaftlich kompetenten und politisch moderaten Händen, denn Prof. Horn ist ein ausgewiesener Kenner der praktischen Philosophie Kants und überhaupt ein anerkannter Professor für Praktische Philosophie und Philosophie der Antike. Bei ihm und der Kantgesellschaft ist die Erinnerung

an Kant zum Kantjubiläumsjahr 2024 sicher vor einer politischen Instrumentalisierung.

 

An der Bundeskunsthalle in Bonn wurde zum Kantjubiläumsjahr 2024 jedoch eine Ausstellung mit dem Titel: "Kant und die offenen Fragen" eröffnet. Diese Ausstellung wird auf der dazu neu gestalteten Homepage wie folgt angekündigt:

 

Am 22. April 2024 jährt sich der Geburtstag des Philosophen Immanuel Kant (1724–1804) zum 300. Mal. Kants bahnbrechende Beiträge zur Aufklärung, seine Überlegungen zur Ethik, Emanzipation, Erkenntnistheorie und zum Völkerrecht gelten bis heute als Referenzpunkte. Die Ausstellung will sein Werk einem philosophisch nicht vorgebildeten, explizit auch einem jungen Publikum nahebringen.

 

Dabei werden die vier berühmten Kantischen Fragen: 

  • Was kann ich wissen?
  • Was darf ich hoffen?
  • Was soll ich tun?
  • Was ist der Mensch?

die Ausstellung strukturieren.

 

https://www.bonn.de/veranstaltungskalender/veranstaltungen/hauptkalender/extern/IMMANUEL-KANT-und-die-offenen-Fragen.php

 

Nun sollte man meinen, dass Kant und das Kantjubiläum im demokratischen Deutschland anders als im bloß schein-demokratischen Russland vor einer politischen Instrumentalisierung sicher sei. Das scheint bei der Ausstellung mit dem Titel: "Kant und die offenen Fragen" in der Bundeskunsthalle in Bonn jedoch leider nicht der Fall zu sein. Denn Kant hat keine einzige seiner vier Grundfragen völlig offen gelassen, sondern höchst detailliert und differenziert beantwortet. Statt dessen erzeugt man mit dem Titel der Ausstellung des falschen Eindruck, als stünde Kant für einen endlos offenen Diskurs, der nur durch einen demokratischen Konsens beendet werden könnte.

 

Kant selbst nannte eine solche ambivalente Einstellung abschätzig "Moderatismus". D.h. man hält sich skeptisch bedeckt, bezieht keine Position, sondern entscheidet sich nur unter Sachzwängen für einen opportunen Kompromiss. Dann tut man nach außen so, als ob Offenheit das höchste Gut wäre, um nicht Farbe bekennen zu müssen. Der Volksmund weiß es besser: "Wer immer nur für Alles offen ist, der ist nicht ganz dicht!" 

 

Moderatisten haben oft einfach nicht den Mut, sich entschlossen für diejenige Position einzusetzen, die sie aktuell für die beste unter den Erreichbaren halten, um dann auf dieser Grundlage praktisch Verantwortung zu übernehmen.

Am Ende behaupten sie dann, dass ihre jeweilige Entscheidung alternativlos sei. In Wahrheit suchen sie jedoch mit

ihrer Einstellung nur ihren eigenen Vorteil. Denn andere Positionen und Optionen werden nicht sorgfältig erwogen.

Das nannte Kant "Logischen Egoismus"! Man glaubt, es erst gar nicht nötig zu haben, sich mit anderen theoretischen Positionen und praktischen Optionen intensiv auseinandersetzen zu müssen. Das ist vom Ansatz her jedoch eher egozentrisch, autoritär und vielleicht sogar despotisch. Denn irgendwelche theoretischen und praktischen Alternativen gibt es immer, weswegen jemand gerade in höheren Ämtern seine jeweilige Entscheidung gut erklären und rational begründen (können) sollte.

 

Den Eindruck zu erwecken, dass Kant seine vier Grundfragen der Philosophie ganz und gar offen gelassen habe, ist falsch und daher auch eine politisch motivierte Instrumentalisierung Kants und seines 300. Geburtstages. Kant würde vermutlich gegen diese falsche Darstellung seiner kritischen Philosophie heftig protestieren und alle Kantianer sollten das auch tun. Es bleibt abzuwarten, ob das Anfang September auf der Internationalen Kanttagung in Bonn geschehen wird.

 

3. Kants Autorität ist unbestritten, aber manches, was er vertreten hat, ist anfechtbar

 

Immanuel Kant ist nach Platon und Aristoteles zweifelsohne einer der drei oder vier wichtisten Gründer eines immer noch einflussreichen methodischen Paradigmas der europäischen Philosophie: Das damals neue Paradigma einer kritischen Transzendentalphilosophie. Kant selbst sprach bis zu seiner letzten Schrift über die Fortschritte in der Meta-physik (1804)  lieber vom "Kritizismus", da er sich als einen Kritiker der klassischen Metaphysik von ewigem Gott, unsterblicher Seele und unbedingt freiem Willen verstanden hatte. Diese Kritik begründete er in differenzierten erkenntnistheoretischen Überlegungen, die ihn zu einem empirischen Realisten und zugleich zu einem nur trans-zendentalen, aber weder subjektiven noch objektiven Idealisten gemacht hatten.

 

Viele zeitgenössischen Intellektuelle halten Kant für den bedeutendsten Philosophen der europäischen Aufklärung. Andere hingegen halten ihn eher für einen tiefsinnigen Kritiker des oberflächlichen "Aufkläricht", der wie der schottische Common-Sense-Philosoph Thomas Reid und der französische Frühromantiker Jean Jacques Rousseau bereits die empiristischen und naturalistischen Tendenzen der englischen, französischen und schottischen Aufklärung in ihre Schranken verwiesen hat.

 

Ob Hegel nach Kant das vierte wichtige methodische Paradigma der europäischen Philosophie geschaffen hat, ist immer noch höchst umstritten. Das hängt vor allem davon ab, wie man das Verhältnis von Kant zu Hegel und zu den anderen Deutschen Idealisten einschätzt. Manche halten Kant fälschlich für den Begründer des Deutschen Idealismus. Andere sehen in ihm eher einen ambivalenten Wegbereiter des Deutschen Idealismus, was der Wahrheit näher kommt.

 

Kant selbst hat Fichtes "subjektiven Idealismus" völlig verworfen und weit von sich gewiesen. In seinen populären Prolegomena hat Kant auch schon Descartes' "problematischen Idealismus" und Berkeleys "dogmatischen Idealismus" kritisiert und seine Position eines empirischen Realismus und transzendentalen Idealismus davon abgegrenzt. Kants kritische Transzendentalphilosophie wurde nämlich von Anfang an von seinen Interpreten und Kritikern idealistisch missverstanden, sodass sich Kant schon zu Lebzeiten vom subjektiven und objektiven Idealismus abgrenzen musste.

Zu dieser Ambivalenz hat Kant jedoch mit einigen vagen Formulierungen und fehlenden weiteren Unterscheidungen selbst beigetragen.

 

Kant dürfte vermutlich Hegels späteren spekulativem Idealismus in den wichtigsten Stationen seiner Entfaltung und Vollendung skeptisch eingeschätzt und kritisch verworfen haben. Andererseits ist Hegels Kritik an dessen theoretischer und praktischer Philosophie nicht so leicht von der Hand zu weisen, wie manche eingefleischte Kantianer meinen. Insofern hat Hegel nach Kant wohl doch ein viertes methodisches Paradigma geschaffen, das Kants Auffassungen teilweise akzeptiert und teilweise ablehnt und überwindet, um sie mit einigen immer noch gültigen Einsichten von Platon und Aristoteles in eine fruchtbare Synthese zu bringen.

 

Allerdings gibt es auch noch ein fünftes wichtiges methodisches Paradigma der europäischen Philosophie, das jedoch

in Deutschland wegen der anhaltenden Dominanz des Kantianismus und Hegelianismus fast in Vergessenheit geraten ist und weitgehend verdrängt wurde. In Österreich und Italien, in England und den USA ist das jedoch nicht der Fall.

Es handelt sich um das methodische Paradigma des erstklassigen Philosophen Franz Brentano, der auf eine sehr originelle und fruchtbare Weise vor allem an Aristoteles und Descartes, Leibniz und Locke angeknüpft hat.

 

Brentano gilt seither bei den Analytischen Philosophen nur noch als ein angeblich überhohlter Vorläufer ihrer beiden Gründerfiguren Bertrand Russell und George Edward Moore sowie als der Theoretiker der Intentionalität (Bezogenheit) psychischer Phänomene und Fähigkeiten auf mentale Inhalte und reale Objekte. Brentano gilt seither bei den phäno-menologischen Philosophen nur als der Lehrer ihres Gründers Edmund Husserl, dessen Kritik am Psychologismus in

der Logik und Mathematik Brentanos Philosophie der Evidenz angeblich überwunden hatte.

 

Eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen Kantianern und Brentanotten hat bisher leider noch nicht stattgefunden, obwohl Russell und Moore sowie Husserl und Heidegger sie in ihren Anfängen hätten durchführen können. Sie hatten es leider vorgezogen, auf eigene Faust ab ovo zu philosophieren. Damit hatten sie zwar zu ihrer Zeit einen gewissen Erfolg, aber etwas wirklich Bleibendes und auch heute noch Wegweisendes konnten sie damit nicht schaffen. Zwar haben sie bis heute ihre Anhänger und Bewunderer, aber diese haben alle etwas bloß Akademisches und leider auch ziemlich Sektiererisches.

 

Auch hat bisher noch niemand, der die Philosophien von Kant und Brentano gut kennt, es gewagt und vermocht, die jeweils besten Konzeptionen und Theoreme von Kant und Brentano in eine fruchtbare Synthese zu bringen.

 

Bertrand Russell hatte es teilweise in seinem kleinen Buch Problems of Philosophy (1912) versucht, allerdings vorläufig nur für die Erkenntnistheorie, aber nicht für die praktische Philosophie, die Logik und Ästhetik, die Metaphysik und Religions-philosophie.

 

Edmund Husserls Logische Untersuchungen (1900/01) und seine späteren Schriften zur Phänomenologie verbinden zwar gewisse Elemente von Brentanos Deskriptiver Psychologie mit Kants Metaphysikkritik, klammern dabei jedoch ebenfalls die Ästhetik und praktische Philosophie, Metaphysik und Religionsphilosophie völlig aus.

 

Zwischen den Philosophien von Kant und Brentano gibt es sicher einige heftige Spannungen und Unvereinbarkeiten. Aber jemand der die philosophischen Intentionen und Schriften beider Philosophen gut kennt, weiß auch um das

große und richtungsweisende Potential, das eine methodisch gelungene Synthese hätte.

 

4. Zwölf Thesen über Kant und seine kritische Philosophie

 

1. Kant war zwar für die Aufklärung und ermunterte seine Mitstreiter zum Selbstdenken. Kant hat dabei jedoch nie vergessen oder verschwiegen, dass das Selbstdenken erst durch schulische Ausbildung und eine universitäre Bildung mühsam erlernt werden muss.

 

Der philosophierende Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker und der Pädagoge und Philosoph Georg Picht waren der Auffassung, dass es besser wäre, mit dem Studium der Philosophie nicht zu früh zu beginnen, sondern erst, wenn man bereits eine andere methodische Wissenschaft erfolgreich studiert hat oder einen Beruf von der Pike auf erlernt hat.

 

2. Kant hat nie behauptet, dass das mühsam erlernte Selbstdenken notwendig auch schon zu Erkenntnis und Wissen oder zu moralischem Gewissen und ethischer Verantwortung führt. Selbstdenken kann insbesondere in jungen Jahren niemanden davor bewahren, einige Dummheiten und Fehler zu begehen oder gar sich moralisch unanständig zu verhalten oder in rechtlicher Hinsicht auf Abwege zu geraten.

 

3. Kant hielt das philosophische Selbstdenken für eine schwierige Kunst, die nur wenige begabte und philosophisch gebildete Leute wirklich beherrschen, aber auf keinen Fall für einen Freibrief zum Subjektivismus nach dem flotten Spruch "das muss jeder selber wissen", bei dem objektives Wissen mit subjektivem Meinen verwechselt wird.

 

4. Kant war in Bezug auf die moralisch ambivalente und ethisch prekäre Natur des Menschen realistisch genug zu wissen, dass weder die Aufklärung noch das Selbstdenken die nur allzu verbreiteten Dummheiten und Bosheiten der Menschen verhindern kann.

 

5. Kant glaubte vielmehr, dass die Dummheit im Sinne mangelnder Urteilskraft und die Bosheit aufgrund eines schier unausrottbaren natürlichen Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur ziemlich weit verbreitet sind und auch in Zukunft immer weit verbreitet bleiben werden.

 

Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts, die grausamen Massenmorde der Nationalsozialisten, Stalinisten und Maoisten sowie die aktuellen Kriege in der Ukraine und in Gaza und zuvor im Irak und in Afghanistan bestätigen Kants skeptische Einschätzung, dass der Mensch wie ein "krummes Holz" sei, das nicht gerade gebogen werden kann, und sprechen gegen die moderne Selbstüberschätzung des Menschen und Fortschrittsgläubigkeit.

 

6. Kant glaubte, dass die meisten Menschen nicht nur als Kinder und Jugendliche, sondern auch noch als Erwachsene und reifere Ältere eine kluge und kompetente Führung durch religiöse oder sittliche Autoritäten persönlicher, gemein-schaftlicher und institutioneller Art nötig haben, da es den meisten Menschen an sittlicher Autonomie und Urteilskraft mangelt und da sie gar nicht wirklich gelernt haben, gründlich, klug und selbstständig zu denken.

 

7. Kant war kein Demokrat, sondern ein Republikaner, der ähnlich wie Hegel auf dem Vorrang des objektiv gültigen Rechtes vor der subjektiven Moral der Bürger und damit auf dem Vorrang der Rechte und Pflichten der Bürger vor

ihren jeweiligen Dezisionen bestanden hat. Der naturrechtlich bzw. vernunftrechtlich legitimierte Rechtstaat und seine neuzeitliche Verfassung dürfen nicht zum politischen Instrument der legislativen Dezisionen der Regierungen werden.

 

8. Kant war kein Atheist, sondern ein Verteidiger eines moralisch motivierten Glaubens an Gott, ohne den man „seines Leben nicht froh“ werden kann. Kant glaubte jedoch nicht, dass ein solcher moralischer Glaube an Gott bereits in irgendeiner bestimmten institutionalisierten Religion oder Konfession verkörpert wäre oder jemals in einer solchen vorbildlich für Alle realisiert werden könnte. Daher sind alle historisch gewachsenen Offenbarungsreligionen wie Judentum, Christentum und Islam als Annäherungen an eine ideale "Vernunftreligion" zu respektieren.

 

9. Kant war kein psychologischer Determinist wie Spinoza, Freud oder Nietzsche, sondern ein moralischer Verteidiger der praktischen Möglichkeit eines bedingten und begrenzt freien Willens, weswegen er sogar die Anwendung eines vergeltenden und nicht nur generell präventiven Strafrechtes zur ausgleichenden Gerechtigkeit verteidigte. Herkunft und Familie, Kindheit und Erziehung können nicht generell und inflationär als Befreiung von moralischer Schuld oder von rechtlicher Strafmündigkeit angeführt werden wie im freudianisch geprägten Kulturmarxismus.

 

10. Kant war kein skeptischer, empiristischer und anti-metaphysischer Naturalist wie David Hume, sondern ein über-zeugter Verteidiger metaphysischer Voraussetzungen der Naturwissenschaften und metaphysischer Grundlagen der praktischen Vernunft von Recht und Moral bis hin zum internationalen Völkerrecht. Die Theorie und Praxis der neu-zeitlichen Naturwissenschaften hat "metaphysischen Anfangsgründe", d.h. apriorische Voraussetzungen, die weder empirisch noch evolutionär begründet werden können.

 

11. Kant war auch kein reduktionistischer Naturalist oder wissenschaftlicher Realist, der glaubt, dass alles, was es gibt, ausschließlich Natur ist und zur Natur gehört. Kant glaubte nicht, dass es nichts anderes als Natur und Natürliches gibt, sondern er glaubte vielmehr, dass es Metaphysisches und Übernatürliches, wie die apriorischen und rationalen Ideale, Prinzipien, Normen und Werte der Logik und Mathematik, der Naturwissenschaften, des Rechtes und der Moral gibt,

die sich nicht auf kausale oder teleologische Zusammenhänge in der Natur oder auf Physikalisches, Chemisches und Biologisches reduzieren lassen.

 

12. Kant glaubte daher wie Leibniz auch nicht, dass die objektive Erforschung des menschlichen Gehirns und Nerven-systems jemals erklären können, was das menschliche Bewußtsein und das menschliche Gemüt sind oder wie die allgemeinen menschlichen Fähigkeiten von subjektiver Anschauung, empirischem Verstand, apriorischer Vernunft

und persönlicher Urteilskraft funktionieren.

 

4. Sieben Fragen an eingefleischte Kantianer und spezialisierte Kantforscher

 

Da Kant zu Beginn seiner Prolegomena über Professoren spottete, denen die Geschichte der Philosophie auch schon

ihre ganze Philosophie ist, würde er heute auch eingefleischte Kantianer und Kantforscher fragen:

 

1. Seid ihr wirklich aufgeklärt, wenn ihr allzu sehr an mich selbst und meine Philosophie glaubt, anstatt endlich den Mut zum Selbstdenken aufzubringen? Kantianer, die gar nicht wissen, worin sich selbst der große Kant geirrt hat, behindern die Redlichkeit, die Wissenschaftlichkeit und den zähen Fortschritt in der Philosophie.

 

2. Seid ihr wirklich mündig, wenn ihr nicht selbst weiter forscht und gründlich weiter philosophiert und auch noch

meine Irrtümer erkennt und zu korrigieren versucht?

 

3. Seid ihr wirklich vernünftig, wenn ihr mich und meine Philosophie gegen berechtigte Kritik verteidigt, nur weil ihr euren akademischen Erfolg als Kant-Experten darauf aufgebaut habt?

 

4. Seid ihr wirklich aufrichtig, wenn ihr meine sog. „kopernikanische Wende“ zur Erklärung synthetisch-apriorischer Urteile und Erkenntnisse idealistisch oder konstruktivistisch fehlinterpretiert?

 

5. Seid ihr wirklich aufrichtig, wenn ihr verschweigt, dass ich gegen ein moralisches Recht auf Abtreibungen und gegen ein moralisches Recht auf Suizid und also auch gegen ärztliche Beihilfe zum Suizid gewesen bin?

 

6. Seid ihr wirklich ehrlich, wenn ihr verschweigt, dass ich sogar (noch) die Todesstrafe bei Kapitalverbrechen befürwortet habe, weil der Wert und die Würde eines Menschen unersetzlich sind?

 

Dabei verstehe ich sehr gut, dass man gerade wegen unveräußerlichen Menschenwürde und wegen des moralischen Instrumentalisierungsverbotes die irreversible und unkorrigierbare Todesstrafe ablehnen kann, weil der Rechtstaat nicht über Leben und Tod verfügen können sollte.

 

7. Seid ihr wirklich redlich, wenn ihr verschweigt, dass ich aus guten Gründen bestritten habe, dass Tiere eine Würde haben können, weil Würde von Moralfähigkeit abhängt und unter irdischen Realbedingungen ausschließlich Menschen moralfähige intelligente Lebewesen sind?

 



 

300 Jahre Kant. Perspektiven für die Philosophie des 21. Jahrhunderts

 

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW)

 

https://kant2024.bbaw.de/

 

https://www.bbaw.de/files-bbaw/veranstaltungen/2024/April_2024/Tagungsflyer_300_Jahre_Kant.pdf