Wie der Postmodernismus die Aufklärung abwickelt
Essay von Helen Pluckrose
Viele „linke“ Akademiker und Aktivisten sind vom Postmodernismus geprägt. Dessen Ablehnung von Wissenschaft, Vernunft und Freiheit ist jedoch alles andere als progressiv.
Der Postmodernismus stellt eine Bedrohung dar. Nicht nur für die liberale Demokratie, sondern für die Moderne selbst. Es mag eine gewagte Behauptung sein, aber im Postmodernismus stecken eine Vielzahl von Ideen und Werten, die über akademische Sphären hinaus in der westlichen Welt eine große kulturelle Wirkung entfaltet haben. Die irrationalen und identitären „Symptome“ des Postmodernismus sind leicht zu erkennen und werden vielfach kritisiert, das ihm zugrunde liegende Ethos wird jedoch häufig verkannt. Das liegt teilweise daran, dass Postmodernisten sich selten klar ausdrücken. Teilweise liegt es auch an der inhärenten Widersprüchlichkeit einer Denkweise, welche die Existenz objektiver Wahr-heiten leugnet. Möchten wir dieser Anschauung entgegentreten, ist es wichtig, ihre Grundgedanken zu verstehen. Diese bilden die Basis heutiger Protestkulturen, untergraben die Glaubwürdigkeit der Linken und drohen, uns in eine triba-listische, prä-moderne Ära zurückzuwerfen.
Im Grunde ist der Postmodernismus eine künstlerische und philosophische Strömung, die mit verwirrender Kunst und noch verworreneren „Theorien“ im Frankreich der 1960er-Jahre ihren Anfang nahm. Er machte sich die surrealistische Kunst und frühe philosophische Ideen Nietzsches und Heideggers zu eigen, um seinen Anti-Realismus und seine Ab-lehnung des Konzeptes von Einheit und Identität des Ichs zu begründen. Er reagierte damit auf den liberalen Humanis-mus moderner künstlerischer und intellektueller Bewegungen, denen vorgeworfen wurde, westliche, männliche Mittel-schichtserfahrungen zu universalisieren.
Aus demselben Grund lehnte man auch Philosophien ab, die Ethik, Vernunft und Klarheit würdigten: Angegriffen wurde der Strukturalismus, welcher den (etwas zu selbstsicheren) Versuch unternahm, Kultur und Psychologie des Menschen aufgrund konsistenter Strukturen und Beziehungen zu analysieren. Der Marxismus und seine auf Ökonomie und Klassenkonflikten beruhende Gesellschaftsanalyse wurden als ähnlich starr und vereinfachend empfunden. Die Wissen-schaft als Ganzes wurde vom Postmodernismus für ihren Anspruch attackiert, objektives und von menschlicher Betrach-tung unabhängiges Wissen erlangen zu wollen, da dies nur eine weitere Form westlich-bourgeoiser Ideologie sei. Dezi-diert links, hatte der Postmodernismus sowohl eine nihilistische als auch eine revolutionäre Seite. Damit passte er gut zum postimperialen Nachkriegszeitgeist. Im Laufe der Zeit nahm der zu Beginn stärkere Aspekt des Dekonstruktivismus eine zweitrangige Rolle neben der revolutionären „Identitätspolitik“ ein.
„Dem liberalen Humanismus wurde vorgeworfen, westliche, männliche Mittelschichtserfahrungen zu universalisieren.“
Dekonstruktion der Moderne
Ob der Postmodernismus eine Reaktion auf die Moderne ist, ist umstritten. Es ist die Epoche der Moderne, in welcher der Renaissance-Humanismus, die Aufklärung, die wissenschaftliche Revolution und die Entwicklung liberaler Werte und Menschenrechte in Erscheinung traten. Westliche Gesellschaften kamen allmählich zu dem Schluss, Vernunft und Wissenschaft über Glauben und Aberglauben zu stellen und entwickelten dabei eine Vorstellung von Personen als freien und individuellen Mitgliedern der menschlichen Spezies, statt sie als Teile beliebiger Kollektive und starrer Hierarchien zu sehen.
Laut der „Encyclopaedia Britannica“ ist der Postmodernismusin erster Linie „eine Reaktion auf philosophische Annah-men der modernen westlichen (im speziellen europäischen) Geschichte“. Die „Stanford Encyclopaedia of Philosophy“ hingegen hält den Postmodernismus für „eine Fortführung modernen Denkens in einem anderen Modus“. Für welche dieser Sichtweisen wir uns entscheiden, hängt davon ab, wie wir die Frage beantworten, was die Moderne hinterlassen und was sie zerstört hat. Wollen wir die Moderne als Entwicklung von Wissenschaft und Vernunft, sowie Universalismus und Humanismus, verstehen, so müssen wir den Postmodernismus als dem gegenüberstehend betrachten. Halten wir die Moderne für das Ende alter Machtstrukturen wie dem Feudalismus, der Kirche, dem Patriarchat und dem Imperia-lismus, so ist es ein Anliegen des Postmodernismus, diese Strukturen weiter anzugreifen, mit dem Unterschied, dass die Feindbilder nun Wissenschaft, Vernunft, Humanismus und Liberalismus heißen. Das bedeutet auch, dass die Wurzeln des Postmodernismus politisch sind, wenngleich destruktiver (oder um im postmodernen Duktus zu bleiben, dekon-struktiver) Natur.
Der Begriff „Postmodernismus“ geht auf Jean-François Lyotard und sein 1979 erschienenes Buch „Das postmoderne Wissen“ zurück. Postmodernes Denken bedeutet in diesem Fall „den Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr zu schenken“. Eine Meta-Erzählung ist eine breitgefächerte, zusammenhängende Erklärung für umfassende Phänomene. Demnach sind Religionen und andere totalitäre Ideologien Meta-Erzählungen, da sie versuchen Sinn und Bedeutung des Lebens zu deuten beziehungsweise eine Antwort auf die Frage nach der Wurzel allen gesellschaftlichen Übels zu geben. Lyotard plädierte dafür, diese großen Narrative durch Mini-Erzählungen zu ersetzen, welche nur noch kleine, persönliche „Wahrheiten“ umfassen. Er richtete sich damit gegen das Christentum, den Marxismus und die Wissen-schaft.
„Indem die Wissenschaft mit Macht und Politik verknüpft wird, wird ihr der Anspruch auf Objektivität entzogen.“
Lyotard meint, es gäbe „eine Kopplung zwischen der Sprachgattung, die sich Wissenschaft nennt, und jener, die sich Ethik und Politik nennt“. Indem die Wissenschaft mit Macht und Politik verknüpft wird, wird ihr der Anspruch auf Objektivität entzogen. Diesen postmodernen Skeptizismus versteht Lyotard als Allgemeinzustand. Er glaubt, dass ausgehend vom Ende des 19. Jahrhunderts eine „innere Erosion der Legitimation des Wissensprinzips“ einen Wandel desselbigen veranlasste. Der daraus resultierende „Zweifel“ und die „Demoralisierung“ von Wissenschaftlern hatte ab den 1960ern „starken Einfluss auf die zentrale Frage der Legitimierung“. Egal wie viele Wissenschaftler ihm erklärten, sie seien weder demoralisiert noch skeptischer, als es sich für Vertreter einer Methode ziemt, deren Resultate und Hypothesen immer vorläufig und niemals erwiesen sind, ihn konnte nichts umstimmen.
Lyotards Philosophie liegt ein expliziter erkenntnistheoretischer Relativismus zugrunde. Ein Glaube an persönliche oder kulturelle Wahrheiten oder Fakten, der dafür eintritt, „gelebte Erfahrungen“ über empirische Nachweise zu stellen. Daraus folgt ein Pluralismus, welcher den Ansichten von Minderheiten den Vorzug vor wissenschaftlichem Konsens und liberaler Ethik gibt, da diese autoritär und dogmatisch seien. Dieser Gedanke ist ein zentraler Aspekt postmoderner Theorien.
Sprache als Gewalt
Ähnlich wie Lyotard verfolgt auch Foucault einen relativistischen Ansatz, welcher Sprache in den Mittelpunkt rückt. Aufgrund seiner Analyse geschichtlicher Dokumente nannte Foucault seinen Ansatz „Archäologie des Wissens“.
Was „gewusst“ werden kann, wird laut Foucault durch Diskurse bestimmt, welche wiederum in unterschiedlichen Epochen durch verschiedene Formen institutionalisierter Macht festgelegt werden. Demzufolge ist Wissen ein direktes Produkt von Macht. „Einer jeden Gesellschaft und einem jeden Moment liegt nur ein ‚Episteme‘ zugrunde, welches die Bedingungen der Möglichkeit des Wissens bestimmt – egal ob sich dieses in der Theorie oder still in der Praxis ausrückt.“
„Moderne liberale Demokratien erscheinen als ebenso repressiv wie der mittelalterliche Feudalismus.“
Ferner sind Menschen selbst kulturell konstruiert: „Das Individuum, mitsamt seiner Identität und all seinen Charakter-eigenschaften, ist das Produkt eines Machtverhältnisses, welches über die Körper, Mannigfaltigkeit, Bewegungen, Begehren und Kräfte herrscht.“ Es bleibt nahezu kein Spielraum für individuelle Autonomie. Mit den Worten Christopher Butlers stützt Foucault sich „auf einen Glauben an die inhärente Bösartigkeit bestimmter Klassen oder beruflicher Rollen, ungeachtet der Moralität ihres individuellen Handelns.“ In diesem Lichte erscheinen moderne liberale Demo-kratien als ebenso repressiv wie der mittelalterliche Feudalismus, weswegen Foucault zur Kritik an Institutionen aufruft, die – gut verschleiert – „politische Gewalt“ ausüben.
Bei Foucault zeigt sich eine besonders extreme Variante des Kulturrelativismus. Er beschreibt Machtstrukturen, in denen Mitmenschlichkeit und Individualität nahezu gänzlich fehlen. Stattdessen konstruiert sich der Einzelne laut Foucault durch sein Verhältnis zur dominanten gesellschaftlichen Idee entweder als Unterdrückter oder Unterdrücker. Damit beeinflusste Foucault Judith Butlers Queer Theory, die sich mit dem kulturell konstruierten Wesen von Geschlechterrollen beschäftigt, Edward Saids Postkolonialismus- und Orientalismusthesen und Kimberlé Crenshaws Konzepte der Inter-sektionalität und Identitätspolitik. Was ebenso aus diesem Denken folgt, ist die Gleichsetzung von Sprache mit Gewalt und dem universalistischen Liberalismus mit Unterdrückung.
Es war schließlich Jaques Derrida, der das Konzept der „Dekonstruktion“ entwickelte und damit ebenfalls einen kulturellen Konstruktivismus und Relativismus vertrat. Noch mehr als seine Vorgänger fokussierte Derrida sich dabei auf die Sprache. So beschreibt Derridas bekanntester Ausspruch „Es gibt kein Außerhalb des Texts“ dessen Annahme, Wörter hätten keinen unmittelbaren Bezug zum beschriebenen Gegenstand. Vielmehr sollen wir es nur mit „Kontexten ohne absoluten Ankerpunkt“ zu tun haben.
„Die Intention des Redners ist für Derrida irrelevant. Von Bedeutung ist nur die Auswirkung der Rede.“
Konsequenterweise definiert der Verfasser eines Textes auch nicht dessen Bedeutung. Leser und Zuhörer bilden sich eigene Meinungen, die alle gleichwertig sein sollen. Jeder Text wiederum „erzeugt auf unsättigbare Art und Weise eine unbegrenzte Anzahl neuer Kontexte.“ Derrida prägte den Begriff différance, welchen er aus dem Verb differer herleitete, das sich sowohl mit „verschieben“ als auch „unterscheiden“ übersetzen lässt. Damit sollte darauf hingewiesen werden, dass Bedeutung einerseits niemals abgeschlossen und zum anderen durch Gegensätze konstruiert sei. Ein Begriff wie „jung“ ergäbe nur im Verhältnis zum Wort „alt“ Sinn. In Anlehnung an de Saussure meinte Derrida, dass Bedeutung aus dem Konflikt zwischen wesentlichen Gegensätzen erwächst, die positiv und negativ konnotiert seien. „Mann“ ist positiv, „Frau“ negativ konnotiert. „Okzident“ positiv, „Orient“ negativ. „Wir haben es hier nicht mit einer friedlichen Koexistenz von vis-à-vis zu tun, sondern vielmehr mit einer gewaltvollen Hierarchie. Der eine Terminus beherrscht den anderen (axiologisch, logisch etc.), oder ist ihm übergeordnet. Um den Gegensatz zu dekonstruieren, muss zuallererst die Hierarchie umgestürzt werden.“ Dekonstruktion bedeutet, dass „Frau“ und „Orient“ zu positiv konnotierten Begriffen werden, „Mann“ und „Okzident“ zu negativ konnotierten. Dies soll auf ironische Art und Weise geschehen, um die kulturell-konstruierte und willkürliche Natur dieser ungleichen Gegensatzpaare zu offenbaren.
In Derridas Denken zeigt sich ein kultureller und erkenntnistheoretischer Relativismus, der als Rechtfertigung für Identitätspolitik dient. Dass Unterschiede nicht notwendigerweise Gegensätze darstellen müssen, wird explizit verneint. Dies kommt einer Ablehnung der liberalen Werte der Aufklärung gleich, welche die Überwindung von Unterschieden anstrebte und sich dabei auf universelle Menschenrechte, individuelle Freiheit und Ermächtigung stützte. Bei Derrida erkennen wir den Ursprung „ironischer Männerfeindlichkeit“, des Mantras, es gäbe keinen umgekehrten Rassismus, und der Idee, dass unsere Identität bestimmt, wie wir die Welt sehen. Ebenfalls offenbart sich eine Abwertung von Klarheit in Rede und Argumentation, die uns hilft, die Sichtweise des Gegenübers zu verstehen und Missverständnisse zu vermeiden. Die Intention des Redners ist für Derrida irrelevant. Von Bedeutung ist nur die Auswirkung der Rede. Zusammen mit den Foucault’schen Ideen unterfüttert dieses Denken den modischen Glauben an die zerstörerische Wirkung sogenannter „Mikroaggressionen“ und den Fehlgebrauch von Begriffen, die sich auf Geschlecht, Rasse oder Sexualität beziehen.
Linker Autoritarismus
Lyotard, Foucault und Derrida sind nur drei der „Gründungsväter“ des Postmodernismus. Sie teilen sich jedoch Grund-motive mit anderen einflussreichen „Theoretikern“, welche diese Ideen auf immer breitere Bereiche innerhalb der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften anwandten. Im Zentrum steht immer eine Überempfindlichkeit gegenüber Sprache sowie die Vorstellung, dass die Intention eines Redners weniger wichtig ist als die Rezeption, egal, wie weit hergeholt die Interpretation der Aussagen ist. Mitmenschlichkeit und Individualität verkommen zu Illusionen und Menschen zu Initiatoren oder Opfern von Diskursen. Determiniert wird ihre Rolle durch die soziale Identität und nicht durch individuelles gesellschaftliches Engagement. Moral ist für die postmodernistischen Denker ebenso kulturell geprägt wie es die Realität insgesamt ist. Empirische Belege gelten als verdächtig, wie jede kulturell dominante Idee, Wissenschaft, Vernunft und Liberalismus miteingeschlossen. Die Werte der Aufklärung werden als naiv, totalisierend und repressiv betrachtet, weswegen eine moralische Notwendigkeit bestehe, diese zu zerschlagen. Eine viel größere Relevanz wird den gelebten Erfahrungen, Erzählungen und Vorstellungen „marginalisierter“ Gruppen beigemessen, welche über die Werte der Aufklärung gestellt werden müssen, um unterdrückende, ungerechte und willkürliche Konstrukte umzustoßen.
„Die Werte der Aufklärung werden als naiv, totalisierend und repressiv betrachtet.“
Das Streben, den Status quo zu „zerschlagen“, verbreitete Annahmen und mächtige Institutionen herauszufordern und sich für Marginalisierte einzusetzen, ist durchaus liberal. Sich dem entgegenzustellen, ist entschieden konservativ. Erst-mals in der Geschichte sind wir jedoch an einem Punkt angelangt, an dem der Status quo durchweg liberal geprägt ist. Der heutige Liberalismus tritt für Freiheit und Gleichheit ein, unabhängig von Geschlecht, Ethnie oder Sexualität. Daraus resultiert eine verwirrende Situation, in der Liberale, welche diesen Status quo erhalten möchten, als konservativ gelten, und jene, die den Konservativismus um jeden Preis bekämpfen wollen, zu Verteidigern von Irrationalismus und Illibera-lismus werden. Haben die frühen Postmodernisten noch dem Diskurs den Diskurs entgegengesetzt, folgen heutige Akti-visten postmodernen Ideen zu ihrer logischen Konsequenz und verhalten sich zunehmend autoritär. Die freie Mei-nungsäußerung ist heute unter Beschuss, da das frei geäußerte Wort als gefährlich gilt. Es wird als derart bedrohlich erachtet, dass Menschen, die sich selbst als Liberale bezeichnen, es für gerechtfertigt halten, es mit Gewalt zu unter-drücken. An die Stelle von Diskussionen, in denen wir versuchen, andere mit vernünftigen Argumenten zu überzeugen, treten heute Verweise auf die Identität („Als lesbische Latina kann ich sagen …“) und schiere Wut.
Trotz der Tatsache, dass Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Fremdenfeindlichkeit in westlichen Gesell-schaften einen Tiefstand erreicht haben, legen linke Akademiker und Aktivisten einen fatalistischen Pessimismus an den Tag. Postmodernes Denken begünstigt Bestätigungsfehler. Für die eigene repressive Macht haben postmoderne Aka-demiker und Aktivisten kein Bewusstsein. Für Außenstehende ist sie jedoch offensichtlich. So meint Andrew Sullivan zur Intersektionalität:
„Es wird eine klassische Orthodoxie postuliert, welche jede erdenkliche menschliche Erfahrung erklärt, und durch die alle Aussagen gefiltert werden müssen. (…) Wie einst der Puritanismus in Neu-England, kontrolliert Intersektionalität heute die Sprache und darüber hinaus die Bedingungen eines jeden Diskurses.“ Der Postmodernismus ist zur Lyotard’schen Meta-Erzählung, zum Foucault’schen System diskursiver Macht und zur Derrida’schen repressiven Hierarchie geworden.
„Die freie Meinungsäußerung ist heute unter Beschuss, da das frei geäußerte Wort als gefährlich gilt.“
Logische Widersprüche
Fortwährend konfrontieren Philosophen den Postmodernismus mit seinem logischen Problem der Selbstreferentialität. Die Postmodernisten sind darauf bisher nur unbefriedigend eingegangen. Wie schon Christopher Butler herausstellte, „appelliert Lyotards Behauptung des Rückgangs von Meta-Erzählungen im 20. Jahrhundert letztendlich an den kultu-rellen Zustand einer intellektuellen Minderheit.“ Anders ausgedrückt, ist Lyotards Behauptung ein direktes Resultat seines diskursiven Umfeldes: der kleinen bourgeoisen akademischen Seifenblase. Darüber hinaus ist sie eine Meta-Erzählung, was er nicht im Entferntesten kritisch reflektiert. Genauso kann man sagen, dass Foucaults Argument, Wissen sei historisch bedingt, selbst historisch bedingt ist. Man kann sich auch fragen, warum Derrida sich dazu veran-lasst sah, die unendliche Formbarkeit von Texten zu erklären, wenn man sein komplettes Werk als Geschichte über süße Häschen auslegen könnte und dieselbe Autorität zugesprochen bekäme.
Natürlich ist dies nicht die einzige Kritik am Postmodernismus. Von Philosophen und Wissenschaftlern ist sein eklatanter erkenntnistheoretischer Kulturrelativismus bemängelt worden. In seinem Werk „Challenging Postmodernism“ meint der Philosoph David Detmer:
„Nehmen wir Erazim Kohaks Beispiel: ‚Versuche ich erfolglos, einen Tennisball in eine Weinflasche zu quetschen, so benötige ich aufgrund von Mills Methoden der Induktion nicht mehrere Tennisbälle und Weinflaschen, bevor ich zur Hypothese gelange, dass Tennisbälle nun mal nicht in Weinflaschen passen.‘ (…) Wir können nun den Spieß [gegenüber dem postmodernen Kulturrelativismus] umzudrehen und die Frage stellen: ‚In welcher Weise untergraben mein Ge-schlecht, meine historische und räumliche Position, meine ethnische und meine Klassenzugehörigkeit etc. die Objek-tivität meines Urteilsvermögens, wenn ich zu dem Schluss komme, dass Tennisbälle nicht in Weinflaschen passen?“
Postmodernisten, die ihre Denkweise erläutern konnten, traf Detmer nicht an; stattdessen erfolgte eine befremdliche Diskussion mit der postmodernen Philosophin Laurie Calhoun:
„Als ich die Möglichkeit hatte, sie zu fragen, ob Giraffen tatsächlich größer seien als Ameisen, antwortete sie, es sei kein Fakt, sondern vielmehr ein Glaubenssatz unserer Kultur.“
„Ich bange um die Zukunft der Geisteswissenschaften.“
Wissenschaft unter Beschuss
In ihrem Buch „Eleganter Unsinn: Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaft missbrauchen“ beschreiben die Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont das Problem aus naturwissenschaftlicher Perspektive:
„Wer, außer den Anhängern weitaus weniger plausiblerer Erzählungen wie dem Kreationismus, würde heute ernsthaft das ‚große Narrativ‘ der Evolution in Frage stellen? Und wer zweifelt heute noch ernsthaft an der Wahrheit der Grund-lagen der Physik? Die Antwort lautet: ‚ein paar Postmodernisten.‘“
und
„Die Annahme, der Suche nach Gesetzmäßigkeiten oder dem Streben nach verifizierbaren Thesen, beispielsweise in der Frage, ob Atome tatsächlich den Regeln der Quantenphysik gehorchen, liege etwas ‚Eurozentrisches‘, ‚Maskulinistisches‘ oder gar ‚Militaristisches‘ zu Grunde, ist überaus eigenartig.“
Wie sehr bedroht der Postmodernismus die Wissenschaft? Es gibt zweifelsohne ernstzunehmende Attacken. Kürzlich skandierten Demonstranten bei Protesten gegen einen Vortrag des umstrittenen Politikwissenschaftlers Charles Murray:
„Die Wissenschaft wurde schon immer genutzt, um Rassismus, Sexismus, Klassizismus, Ableismus und Homophobie zu legitimieren – alles als rational und faktisch verpackt und durch den Staat legitimiert. Heutzutage gibt es so gut wie nichts, das wir als Fakt betrachten können.“
Als die Initiatoren des March for Science in einem Tweet verkündeten: „Kolonialismus, Rassismus, Migration, die Rechte Eingeborener, Sexismus, Ableismus, Queer-, Trans- und Intersexphobie sowie soziale Gerechtigkeit“ seien „Angelegen-heiten der Wissenschaft“, wurden sie für ihre Politisierung der Wissenschaft und ihr Einlenken gegenüber der inter-sektionellen Ideologie kritisiert. Die in Südafrika unter den Hashtags #ScienceMustFall und #DecolonizeScience laufende Studentenbewegung verkündete, die Wissenschaft sei nur eine akzeptierte Möglichkeit, die Welt zu verstehen. Die He-xerei sei eine gleichwertige Alternative.
„Es ist einfacher auszudrücken, was man fühlt, statt gründlich nach Beweisen zu suchen.“
Trotz alledem verschwindet die wissenschaftliche Methode nicht. Sie kann nicht einfach einem erkenntnistheoretischen Relativismus oder „alternativen Formen des Wissens“ „angeglichen“ werden. Sie kann allerdings öffentliches Vertrauen und damit staatliche Unterstützung verlieren, was eine ernsthafte Bedrohung darstellt. In einer Zeit, in der führende Politiker am Klimawandel zweifeln, Eltern befürchten, dass Impfungen Autismus verursachen, und Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen sich Homöopathie und Alternativer Medizin zuwenden, ist es hochgefährlich, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die empirische Wissenschaft weiter zu untergraben.
Die Sozial- und Geisteswissenschaften wiederum laufen Gefahr, bis zur Unkenntlichkeit entstellt zu werden. Bei einigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen ist dies bereits der Fall. Kulturanthropologie, Soziologie, Kulturwissenschaften und Gender Studies, um nur einige Beispiele zu nennen, sind beinahe gänzlich einem moralischen wie erkenntnistheoreti-schen Relativismus erlegen. Meiner Erfahrung nach folgt auch die englische Literaturwissenschaft einer postmodernen Orthodoxie. Wie wir gesehen haben, ist die Philosophie gespalten. Das gleiche gilt für die Geschichtswissenschaft.
Häufig kritisieren Postmodernisten die empirischen Wissenschaften für den Anspruch, wissen zu wollen, was in der Vergangenheit geschehen ist. Christopher Butler beschreibt einen skurrilen Fall. Die Historikerin Diane Purkiss beschul-digte ihren Kollegen Keith Thomas, Frauen abzuwerten, als dieser darauf hinwies, dass der Hexerei beschuldigte Frauen häufig machtlose Bettlerinnen waren. Vermutlich hätte er besser gegen jede Faktenlage behaupten sollen, es habe sich um reiche Frauen, oder noch besser um Männer, gehandelt. Butler weiter:
„Es scheint, als wären Thomas’ empirische Behauptungen schlicht und ergreifend mit Purkiss’ rivalisierenden Ge-schichtsparadigma zusammengeprallt, welches in erster Linie dem Empowerment von Frauen dienen soll.“
„Es setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass sich auch die extreme Rechte
zunehmend der Identitätspolitik und des erkenntnistheoretischen Relativismus bedient.“
Als ich versuchte, über Rasse und Geschlecht zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu schreiben, stieß ich auf das gleiche Problem. Ich stellte die These auf, dass Shakespeares Publikum Desdemonas Liebe für den schwarzen Othello durchaus hätte nachvollziehen können, da Vorurteile aufgrund der Hautfarbe erst im späten 17. Jahrhundert durch den atlanti-schen Sklavenhandel an Bedeutung gewannen und religiöse oder nationale Differenzen weitaus wichtiger waren. Ein angesehener Professor sagte mir, diese Ansicht sei problematisch. Er frage sich, wie schwarze Communities im zeitge-nössischen Amerika zu meiner Behauptung stehen würden. Die unausgesprochene Folgerung: Wenn es die Gefühle von Afroamerikanern verletzt, kann es entweder nicht wahr sein, oder es sollte aus moralischen Gründen keine Erwähnung finden. Christopher Butler meint:
„Der Postmodernismus sieht Kultur als eine Vielzahl miteinander konkurrierender Narrative, deren Wirksamkeit weniger von einem unabhängigen Beurteilungsstandard abhängt, als von dem Anklang, den sie innerhalb der Gemeinden finden, in denen sie kursieren.“ Ich bange um die Zukunft der Geisteswissenschaften.
Vereinnahmung von Rechts
Der Postmodernismus bedroht jedoch nicht nur akademische und aktivistische Sphären der Gesellschaft. Relativistische Ideen, extreme Sprachsensibilität und ein Fokus auf Identität statt Menschlichkeit oder Individualität verbreiten sich in weiten Teilen der Gesellschaft. Es ist einfacher auszudrücken, was man fühlt, als gründlich nach Beweisen zu suchen. Die Freiheit, die Wirklichkeit gemäß den eigenen Werten zu „interpretieren“, befeuert die zutiefst menschliche Eigenschaft, Bestätigungsfehler zu begehen.
„Es besteht die Gefahr, dass wir in die Zeit vor der Aufklärung zurückfallen.“
Es setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass sich auch die extreme Rechte zunehmend der Identitätspolitik und des erkenntnistheoretischen Relativismus bedient. Selbstredend war die Rechte schon immer für irrationale und antiwissen-schaftliche Sichtweisen anfällig und nutzte Rasse, Geschlecht und Sexualität, um die Gesellschaft zu spalten. Der Post-modernismus hat es jedoch geschafft, für solche Sichtweisen eine breite Öffentlichkeit zu schaffen. Der britische Publi-zist Kenan Malik beschreibt diesen Wandel folgendermaßen:
„Als ich (…) darauf hinwies, die Idee ‚alternativer Fakten‘ berufe sich auf Vorstellungen, ‚die in den vergangenen Jahr-zehnten radikale Bewegungen … genutzt hatten‘, wollte ich damit nicht behaupten, Kellyanne Conway, Steve Bannon oder gar Donald Trump hätten Foucault oder Baudrillard gelesen, oder das Ziel der postmodernen Linken läge darin, Lügen akzeptabel zu machen, wie dies für Conway, Bannon und Trump gilt. Es ging mir lediglich um den Hinweis, dass Teile der Intellektuellen und Linken in den letzten Jahrzehnten beim Entstehen einer Kultur halfen, in der relativistische Haltungen zu Fakten und Wissen nicht als beunruhigend gelten. So erleichterten sie es der reaktionären Rechten nicht nur, sich ihre eigenen reaktionären Ideen wieder anzueignen, sondern auch, für diese zu werben.“
Es besteht die Gefahr, dass wir in die Zeit vor der Aufklärung zurückfallen, als sich die Vernunft dem Glauben unter-werfen musste und gar als Sünde galt. So bezeichnet James K. A. Smith, reformierter Theologe und Professor für Philo-sophie, den Postmodernismus als „frische Brise des Heiligen Geistes, gekommen, um den trockenen Gebeinen der Kirche neues Leben einzuhauchen“. In “Who’s Afraid of Postmodernism?: Taking Derrida, Lyotard, and Foucault to Church” schreibt er:
„Eine vorsichtige Auseinandersetzung mit dem Postmodernismus kann uns dazu bringen, zurück zu blicken. Wir werden erkennen, dass sich die postmoderne Philosophie vielfach auf antike und mittelalterliche Quellen stützt und prämoder-ne Arten des Wissens, des Handelns und des Seins rehabilitiert.“
und
„Der Postmodernismus kann der Kirche helfen, den Glauben wiederzugewinnen – nicht als System der Wahrheit und Vernunft, sondern als Geschichte, die Augen zum Sehen und Ohren zum Hören benötigt.“
„Als Linke sollten wir besorgt sein, was ‚unsere Seite‘ hervorgebracht hat.“
Als Linke sollten wir besorgt sein, was „unsere Seite“ hervorgebracht hat. Natürlich ist nicht jedes Problem der heutigen Gesellschaft auf das postmoderne Denken zurückzuführen. Dies anzunehmen wäre alles andere als hilfreich. Der ak-tuelle Anstieg von Populismus und Nationalismus stützt sich auf bestehende rechte Strukturen sowie auf Islamisie-rungsängste, die die Flüchtlingskrise hervorgebracht hat. Die Linke ist nicht für die religiöse Rechte, Rechtextremismus oder säkularen Nationalismus verantwortlich. Man kann ihr aber durchaus zum Vorwurf machen, dass sie auf begrün-dete Sorgen nicht vernünftig reagiert hat. Die entzweiende, moralistische Art der Linken, sowie ihre innere Zerstritten-heit, lässt selbst die extreme Rechte vergleichsweise kohärent und geschlossen erscheinen.
Möchte die Linke ihre Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, muss sie sich wieder zu einem starken und schlüssigen Libera-lismus bekennen. Daher müssen wir die postmoderne Linke angreifen. Wir müssen für die universellen Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit eintreten. Anstatt den Menschen ständig Rassismus, Sexismus, Homophobie oder verbale Gewalt vorzuwerfen, müssen wir berechtigte Sorgen über Migration, Globalisierung und autoritäre Identitäts-politik ernstnehmen. Wir können dies tun, und uns trotzdem der autoritären Rechten und ihren Vorurteilen gegenüber Frauen, Homosexuellen und ethnischen Minderheiten entgegenstellen.
Wir haben es nicht mit einem Konflikt zwischen Links und Rechts zu tun, sondern mit einem Konflikt zwischen Kohärenz, Demut und universalem Liberalismus auf der einen und Inkohärenz, Irrationalität und prämodernem Autoritarismus auf der anderen Seite. Ob die postmoderne Linke oder die postfaktische Rechte aus diesem Konflikt als Sieger hervorgeht, ist irrelevant. Für die Anhänger von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sind beide Optionen gleichermaßen trostlos. Diejenigen von uns, die an die Werte der liberalen Demokratie, der Aufklärung, der wissenschaftlichen Revolution und der Moderne glauben, müssen für eine bessere Option sorgen.
Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Rausch. Dieser Artikel ist zuerst beim Aero Magazine erschienen.
https://www.novo-argumente.com/artikel/wie_der_postmodernismus_die_aufklaerung_abwickelt
Derridada and Lancancan
From Professor Barry Smith and others:
The Times (London). Saturday, May 9, 1992
Sir,
The University of Cambridge is to ballot on May 16 on whether M. Jacques Derrida should be allowed to go forward to receive an honorary degree. As philosophers and others who have taken a scholarly and professional interest in M. Derrida's remarkable career over the years, we believe the following might throw some needed light on the public debate that has arisen over this issue.
M. Derrida describes himself as a philosopher, and his writings do indeed bear some of the marks of writings in that discipline. Their influence, however, has been to a striking degree almost entirely in fields outside philosophy – in departments of film studies, for example, or of French and English literature.
In the eyes of philosophers, and certainly among those working in leading departments of philosophy throughout the world, M. Derrida's work does not meet accepted standards of clarity and rigour.
We submit that, if the works of a physicist (say) were similarly taken to be of merit primarily by those working in other disciplines, this would in itself be sufficient grounds for casting doubt upon the idea that the physicist in question was a suitable candidate for an honorary degree.
M. Derrida's career had its roots in the heady days of the 1960s and his writings continue to reveal their origins in that period. Many of them seem to consist in no small part of elaborate jokes and puns (‘logical phallusies’ and the like), and M. Derrida seems to us to have come close to making a career out of what we regard as translating into the academic sphere tricks and gimmicks similar to those of the Dadaists or of the concrete poets.
Certainly he has shown considerable originality in this respect. But again, we submit, such originality does not lend credence to the idea that he is a suitable candidate for an honorary degree.
Many French philosophers see in M. Derrida only cause for silent embarrassment, his antics having contributed signi-ficantly to the widespread impression that contemporary French philosophy is little more than an object of ridicule.
M. Derrida's voluminous writings in our view stretch the normal forms of academic scholarship beyond recognition. Above all – as every reader can very easily establish for himself (and for this purpose any page will do) – his works employ a written style that defies comprehension.
Many have been willing to give M. Derrida the benefit of the doubt, insisting that language of such depth and difficulty of interpretation must hide deep and subtle thoughts indeed.
When the effort is made to penetrate it, however, it becomes clear, to us at least, that, where coherent assertions are being made at all, these are either false or trivial.
Academic status based on what seems to us to be little more than semi-intelligible attacks upon the values of reason, truth, and scholarship is not, we submit, sufficient grounds for the awarding of an honorary degree in a distinguished university.
Yours sincerely,
Barry Smith
(Editor, The Monist)
Hans Albert (University of Mannheim)
David Armstrong (Sydney)
Ruth Barcan Marcus (Yale)
Keith Campbell (Sydney)
Richard Glauser (Neuchâtel)
Rudolf Haller (Graz)
Massimo Mugnai (Florence)
Kevin Mulligan (Geneva)
Lorenzo Peña (Madrid)
Willard van Orman Quine (Harvard)
Wolfgang Röd (Innsbruck)
Karl Schuhmann (Utrecht)
Daniel Schulthess (Neuchâtel)
Peter Simons (Salzburg)
René Thom (Burs-sur-Yvette)
Dallas Willard (Los Angeles)
Jan Wolenski (Cracow)
Internationale Akademie für Philosophie (IAP), Obergasse 75, 9494S Schaan, Liechtenstein.