Primum vivere, deinde philosophari.
Zuerst leben, dann philosophieren.
Vieles in unserer raum-zeitlichen Lebenswelt ist relativ. In einem ontologischen Sinn des Wortes "relativ" ist alles relativ oder relational, was in räumlichen oder zeitlichen Relationen steht: z. B.: Was in der Zukunft geschehen wird, geschieht später als das, was jetzt geschieht. Was in der Vergangenheit passiert ist, ist früher passiert, als das, was jezt passiert. Hamburg liegt näher bei Berlin als Frankfurt am Main. Karlsruhe liegt zwischen Heidelberg und Freiburg i.B.. Von Heidelberg nach Karlsruhe zu fahren dauert normalerweise (d.h. bei gleicher Geschwindig-keit) nicht so lange wie von Heidelberg nach Stuttgart. Mit diesem nagelneuen Audi 80 kann ich schneller in Stutt-gart sein als mit jenem alten Peugeot 2CV. Ein Linienflug nach Kapstadt (SA) dauert viel länger als ein Linienflug nach München (DE). Boris Becker steht von mir und von hier aus gesehen hinter Nowak Djokovic, aber von ihm und von dort aus gesehen steht Nowak Djokovic vor ihm und zwischen uns.
In einem anderen ontologischen Sinn von "relativ" ist alles relativ oder relational, was in Größenverhältnissen oder sog. quantitativen Relationen im Gegensatz zu qualitativen Eigenschaften steht, also alles, was man messen oder zählen kann: Dirk Nowitzki ist größer als Thomas Müller. Angelique Kerber ist nur etwas kleiner als Andrea Pet-kovic. 500 Liter Milch sind mehr als 300 Liter Milch. Leute mit einem Körpergewicht von 105 Kilo wiegen etwas mehr als Leute mit einem Körpergewicht von 85 Kilo. 250 Euro sind mehr als doppelt so viel als 100 Euro.
Da wir Geldmengen im Alltag in bestimmte Beträge nach Währungen einteilen, ist Geld der größte Relativierer so wie der Tod der größte Gleichmacher ist. Daher kann eine plutokratische Gesellschaft, in der das Geld von Oligar-chen oder der wenigen Reichsten die größte politische Macht ist, keine echte Demokratie sein. Schon gar nicht kann es sich um eine weitgehend gerechte Gesellschaft handeln. Auch wenn die Frage nach der Gerechtigkeit einer Gesellschaft ziemlich kompliziert ist, da dabei neben der sozialen Gerechtigkeit der Chancengleichheit auch die Lohn- und Leistungsgerechtigkeit sowie die Steuer- und Strafgerechtigkeit berücksichtigt werden müssten, gibt es erste wichtige Intuitionen über Gerechtigkeit, von denen man ausgehen kann. Diese Basisintuition kann man als das Prinzip der Gleiches für Gleiche und Ungleiches für Ungleiche formulieren.
Relativ sind: Dieser Kaffee enthält mehr Koffein als jener Kaffee. In dieser Tasse ist weniger Zucker als in jener Tasse. Diesen Kuchen kann ich nicht nur in 12 Stücke, sondern in 16 Stücke aufteilen. Dann kann jeder der 16 Gäste ein Stück Kuchen bekommen. Falls jeder Gast ein gleich großes Stück Kuchen haben will, wäre das dann absolut gerecht. Aber in der Wirklichkeit ist die Sache meistens etwas komplizierter, weil oft nicht alle ein gleich großes Stück haben wollen, also die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche verschieden ausfallen können. Dann geht es bei der gerechten Verteilung auch um die Anpassung an die verschiedenen Bedürfnisse, Interessen und Wünsche. Daher hat Platon das Gerechte als das intuitive Prinzip: "Jedem das Seine" bestimmt.
Wenn es gelingen würde, diesem einfachen Prinzip zu genügen, dann wären Entscheidungen absolut gerecht. Aber absolute Gerechtigkeit ist nur ein politisches Ideal und als politisches Projekt eine politische Utopie. Utopien sind jedoch nicht nur nützlich, sondern auch gefährlich. Denn endliche Entscheider haben immer blinde Flecken und können daher mit ihrer eigenen Urteilskraft nie wie ein idealer Beobachter (Gott) alle relevanten Aspekte einer konkreten Situation erfassen. Daher gibt es in der raum-zeitlichen Wirklichkeit der menschlichen Lebenswelt keine absolut gerechten Entscheidungen, Charaktere und Menschen, Gesetze, Rechtssysteme oder Regierungen, sondern nur immer nur unvollkommene Versuche einer Annäherung durch ständige Lernprozesse, Adaptionen, Ausgleichsentscheidungen, Korrekturen und Reformen. Das vermeintlich noch Bessere kann auch zum Feind des Guten werden.
Menschliche Entscheidungen bleiben immer mit gewissen Mängeln an Gerechtigkeit behaftet. Wer unter Real-bedingungen eine absolut gerechte Gesellschaft schaffen wollte, müsste eine Diktatur oder eine Theokratie errichten, in der eine streng hierarchische Kaste von fanatischen Funktionären oder Klerikern bzw. Mullahs (einer sozialistischen Einheitspartei oder autoritären Staatsreligion) den Rest der Gesellschaft mit Hilfe von Geheim-diensten, Polizeibeamten, ideologisch eingeschworenen, statt unabhängigen Richtern und vielen Denunziatoren zu beherrschen versucht.
Vieles in unserer raum-zeitlichen Lebenswelt ist also relativ, aber nicht alles, denn manches gilt absolut. Die Zu-kunft liegt immer vor uns und unserer Gegenwart und die Vergangenheit liegt immer hinter und und unserer Gegenwart. Auf Ereignisse in der Zukunft kann man sich noch vorbereiten und oft auch einen gewissen Einfluss nehmen. Aber Ereignisse in der Vergangenheit kann man bestenfalls nur noch feststellen und sich an sie er-innern, aber keinen Einfluss mehr auf sie nehmen. Dass das sich so verhält, ist absolut richtig und nicht nur relativ richtig. Die ganze Reihenfolge unserer lebensweltlichen Zeit mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist etwas Absolutes und nicht änderbar. Dass die irdische Lebenswelt dreidimensional ist, können wir auch nur feststellen, aber nicht ändern. Nach Albert Einstein kann sich im ganzen Universum keine Portion Materie und keine Art von materiellen Partikeln schneller als das Licht bewegen. Die Konstante der Lichtgeschwindigkeit gilt absolut.
Wenn etwas wahr ist, wie z.B., dass Berlin seit dem 26.04. 1994 die Hauptstadt von Deutschland ist, dann ist es absolut wahr. Das stimmt auch dann, wenn es sich einmal anders verhalten hat. Es ist nicht nur wahr für Kevin, aber nicht für Anna. Wahrheit ist nichts, was relativ ist. Meinungen oder Überzeugungen sind nur relativ oder relational in dem Sinne, dass jemand A sie haben kann, aber ein anderer B nicht. Aber Wahrheiten sind nicht relativ, weil sie ganz einfach von den jeweiligen Fakten abhängen, aber nicht von den Menschen und ihren Meinungen oder Überzeugungen.
Dass bei der Amtseinführung von Barack Obama mehr Menschen anwesend waren als bei der Amtseinführung von Donald Trump ist wahr und konnte auch mit Fotos belegt werden. So etwas wie "alternative Fakten" gibt es nicht. Die damalige Pressesprecherin von Präsident Trump hat sie nur erfunden, um Trump erfolgreicher aussehen zu lassen als Obama. Es gibt zwar möglicherweise andere Behauptungen oder alternative Meinungen, aber keine "alternativen Fakten". Auch Wladimir Putin versucht die grausame Wahrheit über den Krieg in der Ukraine seinen Landsleuten zu verbergen und lässt über die staatlichen Medien verbreiten, dass er mit seiner militärischen "Spezialoperation" die Ukrainer von "Faschisten" befreien lässt. Das klingt besser, ist aber glatt gelogen. Truth matters. Relativism doesn't make any sense.
Auch logische und mathematische Operationen gelten absolut: Dass ein beliebiger Satz q immer und überall aus der Annahme (wenn p, dann q) und der Annahme p folgt, ist absolut richtig. Dass 3 plus 5 immer und überall 8 ergibt, ist absolut richtig. Dass 2 mal 4 immer und überall 8 ergibt, ist ebenfalls absolut richtig. Dass jemand, der Zahnschmerzen hat, unmittelbar weiß, dass er Zahnschmerzen hat, ist ebenfalls absolut richtig. Dass jemand, der unmittelbar etwas Rotes sieht, die sinnliche Qualität der Farbe Rot kennt, ist ebenfalls absolut richtig. Dass ich nicht daran zweifeln kann, sondern unmittelbar und sicher weiß, dass ich existiere, obwohl ich daran zu zweifeln versuche, ist ebenfalls absolut richtig. Dass das schon Augustinus lange vor Descartes verstanden hatte, ist auch absolut richtig und für Kenner der antiken Philosophie nichts Neues.
Es gibt also Relatives oder Relationales, nämlich alles, was in räumlichen, zeitlichen und quantitativen Verhält-nissen besteht, und es gibt Absolutes, also alles, was immer und überall, absolut wahr oder richtig ist. Daher ist es ganz vernünftig, zwischen Relativem und Absoluten zu unterscheiden und zu glauben, dass es beides gibt, Relatives und Absolutes. Daher ist es aber auch irrational, nicht zwischen Relativem und Absoluten zu unter-scheiden und zu glauben, dass es entweder nur Relatives gibt, wie skeptische Relativisten meinen, oder aber nur Absolutes gibt, wie dogmatische Anti-Relativisten meinen. Wenn Relativisten meinen, dass alles in der Welt relativ sei, irren sie sich ebenso wie Anti-Relativisten, die meinen, dass alle Wahrheiten absolut wären, und daher leugnen, dass nicht vieles in der Welt relativ sei. Um Absolutes von Relativem angemessen unterscheiden zu können, braucht man im Alltag und im Berufsleben, in den Wissenschaften und Künsten sowie insbesondere in Medizin, Ökonomie und Politik eine gute Portion Urteilskraft.
Relativisten denken und glauben jedoch, dass die Geltung von Aussagen prinzipiell von Voraussetzungen ab-hängt, die keine allgemeine Geltung haben können. Daher lassen sich relativistische Positionen danach einteilen, welche Arten von Geltungsansprüchen als relativ angesehen werden und auf welche Arten von Voraussetzungen man sich bezieht. In diesem Sinn ergeben sich zumindest die folgenden sechs Spielarten von relativistischen Auffassungen. Ich lehne mich hier an einen Artikel zum Stichwort Relativismus bei Wikipedia an, der jedoch leider etwas ungenau und teilweise sogar irreführend formuliert ist. Ich versuche ihn daher zu verbessern und zu ergänzen, denn das Thema ist wichtig und in unserer Zeit der Dauerkrisen hoch aktuell.
Primum vivere, deinde philosophari. Es versteht sich fast schon von selbst, dass es bestimmte Realbedingungen geben muss, damit Menschen überhaupt irgendwelche Aussagen oder Behauptungen machen können. Sie müssen selbstverständlich leben, nicht in einem Koma liegen, bei klarem und vollem Bewusstsein und nicht dement sein. Aber diese faktischen Bedingungen für die menschliche Fähigkeit, sprachliche Aussagen oder Behauptungen machen zu können, bestimmen normalerweise nicht die Wahrheit oder Geltung dieser Aussagen oder Behauptungen, zumal sie auch von Anderen gemacht werden könnten.
Bei den philosophischen Diskussionen über die verschiedenen Arten von Relativismus geht es nicht um solche empirisch feststellbaren psychologischen Realbedingungen, die es ermöglichen, dass jemand überhaupt etwas aussagen oder behaupten kann. Es geht vielmehr nur darum, was die Aussagen oder Behauptungen dieser Menschen wahr oder falsch, richtig oder falsch macht und dann weiterhin, ob jemand das selbst ebenso gut herausfinden kann wie andere Leute, die sich dafür in einer geeigneten epistemischen Position befinden, d.h.
in einer günstigen Position, um das dann auch herausfinden und beurteilen zu können.
1. Erkenntnistheoretischer Relativismus
Seriöse Wissenschaftler in allen Zweigen der modernen Wissenschaften (Formalwissenschaften, Naturwissen-schaften, Sozial- und Kulturwissenschaften, Historische Wissenschaften, Praktische Wissenschaften wie Medizin, Ökonomie und Jurisprudenz, etc.) setzen immer schon voraus, dass es eine objektiv erkennbare wissenschaftliche Wahrheit gibt. Denn andernfalls wäre es zwecklos und sinnlos zu versuchen, die richtigen oder wahren Antworten auf ihre jeweiligen Fragen herauszufinden. Außerdem wäre es gar nicht möglich, die modernen Wissenschaften nach bestimmten Gegenstandsbereichen einzuteilen und die für diese Gegenstandsbereiche angemessene Methoden der Forschung zu entwickeln.
Erkenntnistheoretische Relativisten behaupten hingegen, dass es weder im Alltag noch in den Wissenschaften objektiv erkennbare Wahrheit gibt oder gar geben kann. Sie glauben und denken, dass alle Wahrheitsansprüche immer und überall nur relativ in dem Sinne sind, dass sie bestenfalls nur für diejenigen Leute wahr oder gültig sind, die sie teilen und vertreten, aber nicht für andere Leute. Sie glauben und denken, dass sozusagen jeder Mensch "seine eigene Wahrheit" hat. Eigene Wahrheiten gibt es jedoch nicht, sondern nur eigene Meinungen. Wahrheiten hängen von der Wirklichkeit ab und gelten anders als bloße Meinungen objektiv und absolut. Nun hat zwar jeder Mensch eine relativ stabile persönliche Weltanschauung, aber diese befindet sich immer auch im Wandel, weil jeder Mensch täglich irgendwelche Informationen aufnimmt, die auf dem Hintergrund seiner Überzeugungen zu Lernprozessen führen können, in denen sich bestimmte Überzeugungen ändern können.
Aber erkenntnistheoretische Relativisten verstehen nicht, dass es nur von der Wirklichkeit abhängt und nicht von ihnen selbst, ob eine Aussage oder Behauptung wahr oder falsch ist. Damit verwechseln sie jedoch die Wahrheit im Sinne vom Wahr-sein einer Aussage oder Behauptung mit dem bloßen Haben einer Meinung. Aber auch eine Meinung kann wie eine Aussage oder eine Behauptung wahr oder falsch sein, denn sonst wäre sie keine Meinung, sondern nur eine leibliche Empfindung wie ein Schmerz oder eine Emotion wie ein Gefühl von Lust oder Unlust.
Erkenntnistheoretische Relativisten behaupten zwar nicht, dass gar nichts wahr sein kann, wie Wahrheits-relativisten, wohl aber, dass niemand herausfinden kann, ob etwas unabhängig von den jeweiligen Sprechern selbst als wahr oder richtig herausgefunden oder entdeckt, erkannt und gewusst werden kann. Allerdings halten erkenntnistheoretische Relativisten ihre eigene relativistische Auffassung für (absolut) wahr und beanspruchen, dass sie stimmt. Denn niemand kann etwas glauben oder meinen, aussagen oder behaupten, ohne es für wahr zu halten. Sonst würde jemand nur etwas vor sich hinplappern und nur sprachähnliche Laute von sich geben wie Papageien.
Erkenntnistheoretische Relativisten behaupten jedoch, dass es weder im Alltag noch in den Wissenschaften über-haupt objektiv erkennbare Wahrheit gibt oder gar geben kann. Das bedeutet, sie bezweifeln, dass überhaupt jemand etwas objektiv Wahres und Richtiges erkennen kann. Damit machen sie jedoch für sich selbst und ihre eigene relativistische Auffassung eine ungerechtfertigte Ausnahme, denn sie beziehen selbst enen dogmatischen und absoluten Standpunkt. D.h. sie machen für sich selbst eine Ausnahme, indem sie ihren relativistischen Standpunkt verabsolutieren, um von ihm aus anderslautende Auffassungen ablehnen und verurteilen zu können. Mehr noch: sie widersprechen sich sogar selbst und verhalten sich daher irrational, da sie einerseits behaupten, dass es keine objektiv erkennbare Wahrheit gibt, aber andererseits behaupten oder gar meinen erkannt zu haben oder zu wissen, dass ihr eigener erkenntnistheoretischer Relativismus dennoch (absolut) wahr oder richtig ist.
2. Semantischer Relativismus
Semantische Relativisten (Bedeutungsrelativisten) behaupten, dass sprachliche Ausdrücke nur im Zusammen-hang der gesprochenen Sprache und nur im Kontext der konkreten Sprechsituationen verständlich sind, in der sie verwendet werden. Sie müssen jedoch zugeben, dass gesprochene oder geschriebene Einheiten von konventio-nellen Sprachen (Wörter, Sätze, Texte, etc.) in anderen Situationen verwendet und verstanden werden können sowie in die analogen Einheiten anderer konventioneller Sprachen zumindest partiell unübersetzbar sind. Denn andernfalls könnten sie die gesprochenen oder geschriebenen Einheiten von konventionellen Sprachen (Wörter, Sätze, Texte, etc.) gar nicht selbst als solche identifizieren und reidentifizieren.
Der Bedeutungsrelativismus ist zumindest problematisch, weil er immer schon auf bestimmte Beispiele aus der eigenen Sprache oder auf ausführliche Sprachvergleiche zurückgreifen muss, was ihm unter seinen eigenen relativistischen Voraussetzungen überhaupt nicht möglich sein dürfte. Daher argumentierte der zeitgenössische Sprachphilosoph Donald Davidson, dass der Begriff der Sprache bereits eine weitgehende Übersetzbarkeit im-pliziert. Es kann daher keine prinzipiell unübersetzbaren Sprachen geben, da es sonst gar nicht möglich wäre, etwas überhaupt als eine bestimmte (relativ abgrenzbare) Sprache zu identifizieren. Aus diesem Grund muss es dann aber auch in allen konventionellen Sprachen hinreichend viele relativ konstante sprachliche Bedeutungen (Wörter, Sätze, Texte, etc.) geben, die in den verschiedenen Kontexten und Situationen von Sprechern oder Lesern auftauchen können und von kompetenten Sprechern identifiziert und reidentifiziert werden können.
3. Wahrheitsrelativismus
Der Wahrheitsrelativismus (Anti-Realismus) wiederum vertritt die noch stärkere Auffassung, dass es gar keine (absolute) Wahrheit über die Wirklichkeit gibt, sondern dass alle Wahrheiten über die Wirklichkeit (d.h. nicht nur Aussagen oder Behauptungen und Meinungen oder Überzeugungen über die Wirklichkeit) immer nur von bestimmten Beobachtern abhängen, sei es physiologisch von ihrem Gehirn und Nervensystem, sei es psycho-logisch von ihrem aktuellen Bewusstseins- oder Geisteszustand.
Wahrheitsrelativisten meinen, dass daher auch alle Meinungen oder Überzeugungen überhaupt (und also auch die der Religionen und Konfessionen, Künste und Wissenschaften, Ideologien und Weltbilder, etc.) von bestimm-ten Lehren, Grundsätzen oder Dogmen abhängen, die andere erfunden oder aufgestellt haben. Sie meinen, dass daher alle diese Lehren, Grundsätze und Dogmen einschließlich solche der Logik und Mathematik, der sinnlichen Gewissheit, des Common Sense und der Naturwissenschaften hinsichtlich ihres Absolutheitsanspruches ange-zweifelt werden müssten. Daher gebe es eigentlich gar nichts, das in einem absoluten Sinn wahr sei oder für wahr gehalten werden könnte. Da absolute Wahrheiten wegen ihres angeblich fehlenden Bezuges zur Lebenspraxis gar nicht für besondere Problemlösungen gebraucht werden könnten, suchen Wahrheitsrelativisten dann auch gar keine absoluten Wahrheiten mehr, sondern nur relative Endpunkte von Begründungen für Aussagen, von deren Geltung sie zwar persönlich überzeugt sind, für die sie aber grundsätzlich keinen Absolutheitsanspruch stellen.
Der sokratische Standardeinwand gegen diesen Wahrheitsrelativismus ist das Argument der selbstbezüglichen Widersprüchlichkeit: Wenn alle Behauptungen nur relativ gültig sind, betrifft dies auch die relativistische Behaup-tung selbst. Daher kann diese relativistische Behauptung nicht wahrer oder gültiger sein als ihre Verneinung. Aber irgendeine Behauptung, die genau so gut wahr wie falsch sein kann, ist zumindest völlig unbestimmt, wenn nicht gar sinnlos.
Wenn man davon ausgehen würde, dass dieser Wahrheitsrelativismus allgemein gültig wäre, dann würde man einen sog. performativen Selbstwiderspruch begehen (Karl-Otto Apel, Jürgen Habermas, Vittorio Hösle): Der propositionale Gehalt seiner eigenen Behauptung stünde im Widerspruch zu dem eigenen Sprechakt, den jemand gerade vollzieht. Der Wahrheitsrelativist würde mit sich mit dem aktuellen Sprechakt seiner eigenen Behauptung selbst widersprechen.
Relativisten versuchen jedoch der sokratischen Form der Widerlegung des Relativismus als selbstwidersprüch-licher Auffassung zu entkommen, indem sie gar keinen Anspruch auf eine allgemeine Gültigkeit ihres Relativis-mus erheben, sondern sich wie Dadaisten auf einen anspruchslosen Irrationalismus zurückziehen. Anti-Relativis-ten gehen manchmal fälschlich davon aus, dass Relativisten einen impliziten Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erheben müssten. Aber nach ihrem eigenen Selbstverständnis müssen Relativisten das nicht tun, um sich in ihrer Position nicht zu widersprechen.
Tatsächlich können Wahrheitsrelativisten jedoch zumindest nicht ganz ohne einen Wahrheitsanspruch aus-kommen. Denn sie können -- wie jeder andere Mensch -- keine Behauptung aufstellen, ohne einen Wahrheits-anspruch zu erheben. Denn irgendwelche Wahrheitsansprüche sind in allen Aussagen und Behauptungen, Meinungen und Überzeugungen enthalten. Daher müssen auch Relativisten zumindest im Alltag ihrer Lebens-praxis und gegebenenfalls auch in den verschiedenen Wissenschaften immer Vieles für wahr halten, um leben und überleben zu können.
Außerdem müssen sie aus ganz pragmatischen Gründen bei sich selbst und bei Anderen auch bestimmte End-punkte für das Begründen als ein "Geben und Nehmen von Gründen" (Julian Nida-Rümelin) akzeptieren. Auch wenn es keine Letztbegründungen im Sinne absoluter Wahrheit jenseits gewisser Axiome der Logik und Mathe-matik gibt, können Menschen nicht ganz ohne irgendwelche Wahrheitsansprüche und ganz ohne Begründungen ihrer Wahrheitsansprüche leben. Denn niemand konnte schon als Kind seine Muttersprache verstehen und sprechen lernen, ohne irgendwelche Wahrheitsansprüche zu erheben und ohne irgendwelche Begründungen
von vielen Wahrheitsansprüchen der Sprecher dieser Sprache zu akzeptieren.
Gegen den Wahrheitsrelativismus hat auch Karl Popper in verschiedenen Schriften ausführlich Stellung ge-nommen. Popper vertrat eine Korrespondenzkonzeption der Wahrheit („Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit den durch sie beschriebenen Tatsachen“). Popper zufolge können wir jedoch niemals absolute Gewissheit über die Wahrheit unseres (Vermutungs-) Wissens erlangen. An der objektiven Wahrheit und dem Streben danach können und müssen wir aber im Alltag und in den Wissenschaften festhalten. (Karl Popper: Logik der Forschung, Mohr Siebeck, Tübingen 2005)
Popper hielt die von Thomas Kuhn aufgestellte These der Inkommensurabilität oder Unvergleichbarkeit von wissenschaftlichen Theorien, denen unterschiedliche „Paradigmen“ zugrunde liegen, die also keinen gemein-samen „Rahmen“ aus grundlegenden Annahmen teilen, für falsch. Bei einander widersprechenden Theorien über die Wirklichkeit gibt es nach Popper zwar kein einheitliches rationales methodisches Verfahren, mit dem wir die Wahrheit der einen und die Falschheit der anderen Theorie endgültig begründen könnten. Wir können nach Popper jedoch mit rationalen und objektiven Methoden und auf der Grundlage unseres vorläufigen Wissens-standes festlegen, welche der beiden Theorien wahrscheinlicher wahr bzw. "wahrheitsnäher" ist.
Isaiah Berlin hat darauf hingewiesen, dass schon die epistemischen Begriffe selbst auf bestimmte Relationen hindeuten: „Wenn Wörter wie subjektiv, relativ, vorurteilsbehaftet und voreingenommen nicht Vergleichs- oder Kontrastbegriffe sind, wenn sie nicht auf die Möglichkeit ihres Gegenteils verweisen, auf objektiv (oder zumindest weniger subjektiv), auf unvoreingenommen (oder wenigstens weniger voreingenommen), was sollen sie dann überhaupt bedeuten? Sie auf alles zu beziehen, sie als absolute, statt als korrelative Ausdrücke zu verwenden, ist eine rhetorische Verdrehung ihrer gewöhnlichen Bedeutung.“ (Isaiah Berlin: Freiheit. Vier Versuche. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006)
Isaiah Berlin gibt zwar zu, dass es kulturelle und historische Bedingtheiten gibt, hält aber eine relativistische Position für unhaltbar: Um interkulturelle Kommunikation und gegenseitiges Verständnis zu ermöglichen, muss es in einem bestimmten Ausmaß einen „gemeinsamen Boden“ geben, den alle Sprecher teilen und der für alle objektiv gültig ist. Lebensweltliche Phänomenologen nennen diesen gemeinsamen Boden die "Lebenswelt". Alle Menschen dürfen im Alltag und in den Wissenschaften das Vorhandensein einer gemeinsamen Lebenswelt teilen und voraussetzen, weil sie immer schon in dieser gemeinsamen Lebenswelt leben, bevor sie ihre jeweiligen kotro-versen Behauptungen machen und miteinander diskutieren.
4. Ethischer Relativismus
Innerhalb des ethischen Relativismus lassen sich grundsätzlich ein faktischer und ein normativer Relativismus unterscheiden. Der faktische Relativismus bezieht sich darauf, dass die Moralvorstellungen der Menschen durch äußere Faktoren wie Bodenschätze und Klima, Ethnie, Kultur und Geschichte, ökonomische und politische Ord-nung, oder durch Geschlechts-, Schichten- oder Klassenzugehörigkeit (Feminismus, Sozialismus, Marxismus), etc. bedingt seien. Daher könne es faktisch keine allgemeingültige Moral geben.
So ist zum Beispiel der Ethnologe Melville J. Herskovits der Meinung: Maßstäbe und Werte sind relativ auf die Kultur, aus der sie sich herleiten. Daher würde
jeder Versuch, Postulate zu formulieren, die den Überzeugungen oder dem Moral-kodex nur einer Kultur entstammen, die Anwendbarkeit einer Menschenrechtserklärung auf die Menschheit als ganze
beeinträchtigen. (Quelle: Herskovits: Ethnologischer Relativismus und Menschenrechte. In: Dieter Birnbacher, Norbert Hoerster (Hrsg.): Texte zur
Ethik. 12. Auflage. dtv, München 2003)
Auf der empirischen Ebene kann von Kritikern bestritten werden, dass faktische moralische Unterschiede zwi-schen verschiedenen Individuen und Kulturen prinzipiell miteinander völlig unvereinbar seien. So können sie z.B. darauf hinweisen, dass es in der Vergangenheit bei den nomadischen Eskimos (Innuit) Brauch war, alte und sehr schwache Menschen auf ihren Wanderungen zurückzulassen. Diese geschah jedoch mit deren Einverständnis und
„wird nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund extremer Lebensverhältnisse, die durch große Unwirtlichkeit des Lebens-raums und knappe Lebensmittel gekennzeichnet sind. Nur so ist verstehbar, dass die moralische Norm, seinen Eltern Gutes zu tun und ihnen Leid zu ersparen, dadurch erfüllt wird, dass man ihnen einen qualvollen Tod erspart, indem man sie auf schmerzlose Weise tötet und somit die Überlebenschancen der Jungen vergrößert.“
Auf einer meta-ethischen Ebene wird gegen den faktischen Relativismus der Einwand erhoben, dass aus deskrip-tiven Urteilen über faktisch verschiedene Moralüberzeugungen keine normative Geltungsurteile abgeleitet werden können. Daraus, dass Menschen tatsächlich unterschiedlich moralisch urteilen, kann nicht geschlossen werden, dass es keine Absolut gültigen Moralvorstellungen gibt. (Humes naturalistischer Fehlschluss von einem Sein auf ein Sollen) In der modernen philosophischen Ethik unterscheidet man daher zwischen Moralvorstel-lungen auf einer mittleren Ebene (Tötungsverbot, Notwehrrecht, Achtung vor dem Leben, Solidarität mit Alten, Kranken und Schwachen, etc.) , die prima facie gültig sind, aber untereinander in Konflikt geraten können. Gleich-zeitig kann es dennoch absolut gültige höherstufigen Prinzipien geben, wie z. B. die Goldene Regel oder den Kategorischen Imperativ (Kant). Und im konkreten Einzelfall einer zeitlichen und unwiederholbaren Handlungs- oder Konfliktsituation muss dann jemand mit seiner praktischen Urteilskraft (Kant) entscheiden, was das Beste ist, das in der gegebenen Situation erreichbar ist (Brentano) .
Dieser faktische Relativismus des Ethischen und Moralischen verkennt jedoch, dass zumindest alle modernen rationalen Ethiken (d.h. Regel-Utilitarismen und Kantianismen) im Unterschied zu antiken und mittelalterlichen Ethikkonzeptionen (griechischer oder jüdischer, christlicher oder islamischer Herkunft) die faktische Relativität der konkreten Ideale, Prinzipien, Normen und Werte voraussetzen, aber dennoch auf einer höheren Ebene der Ab-straktion rationale Ideale, Prinzipien, Normen und Werte suchen und postulieren, die im Prinzip von allen er-wachsenen Menschen mit einem gesunden Menschenverstand weitgehend geteilt werden können.
Der normative Relativismus steht hingegen auf dem ethischen Standpunkt, dass ein ethisches Urteil dann und nur dann gültig sei, wenn es von dem gemeinsamen
moralischen Standpunkt der Gesellschaft aus gesehen, welcher der Urteilende angehört, richtig ist. Der von Alasdair MacIntyre vertretene (neo-aristotelische) Kommunitarismus bezieht sich daher
auf die kulturelle bzw. religiöse Tradition als den letztgültigen Maßstab ethischer Rationalität. Dieser kommunitaristischen Auffassung nach können jedoch grundsätzliche und tiefe ethische
Konflikte zwischen zwei unterschiedlichen Traditionen nicht mehr rational gelöst werden. Das ist erfahrungsgemäß oft richtig, sodass es in der Außenpolitik und in der Diplomatie meistens
einfacher ist, sich über verschiedene Interessen zu einigen und Kompromisse zu finden als über verschiedene Wertvorstellungen.
Dieser normative Relativismus des Ethischen und Moralischen (Kommunitarismus) wird jedoch von manchen modernen Philosophen und Theologen als moralisch verwerflich oder gar als politisch gefährlich angesehen, denn er stellt nicht nur die reale Möglichkeit einer minimalen universalen Moralität (utilitaristischen oder kantia-nischen Zuschnitts), sondern auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte infrage. Denn dieser normative Relativismus macht einen interkulturellen und völkerrechtlichen Konsens in Bezug auf eine moralische Bewertung und Verurteilung von einigen grausamen Praktiken unmöglich, wie z.B. des Genozids und der Kriegsverbrechen, der wirtschaftlichen Ausbeutung und Versklavung von Menschen, der staatlichen Folter und der Todesstrafe, des (sexuellen) Missbrauches und der Vergewaltigung von Kindern und Erwachsenen, der rituellen Verstümmelung oder Beschneidung weiblicher Genitalien, etc..
Der Fehler in dieser Argumentation besteht nach Auffassung der Kommunitaristen oder Relativisten darin, dass gerade die Befürworter dieser moralisch verurteilten Praktiken sich auf ein absolutes Wertesystem bezögen, das es jedoch faktisch gar nicht gibt und das nur ein menschliches Ideal oder eine idealistische Fiktion oder Utopie sei. Dagegen wenden die Anti-Relativisten (utilitaristischen oder kantianischen Zuschnitts) jedoch ein, dass es sich dabei immer nur um falsche Verabsolutierungen handeln könne. Das Prinzip der Autonomie bzw. das moralische Selbstbestimmungsrecht, d. h. der Anspruch des Einzelnen, nach seinen eigenen und beliebigen Wertsetzungen zu leben zu dürfen, nehme den Kommunitaristen das Recht, sich mit ihrer gemeinsamen kulturellen Standards über den Willen einzelner Menschen hinwegzusetzen. Das seit John Stuart Mill bekannte liberale Prinzip, die Hand-lungen Einzelner dürften sich nicht über den Willen oder die Freiheit der Selbstbestimmung anderer hinweg-setzen, ist jedoch selbst nur eine weitere normative moralische Forderung, die wiederum ethisch bzw. rational zu begründen wäre. Sie ist nur ein liberales Postulat, aber keine allgemeingültige Regel wie die Goldene Regel oder der Kategorische Imperativ.
Gegen den normativen Relativismus der Kommunitaristen argumentieren insbesondere der moralische Realis-mus, die Neu-Scholastik und das klassische Naturrecht. Die Anhänger dieser Positionen bestreiten dabei in der Regel nicht, dass ethische Relativisten auch bestimmte ethische bzw. moralische Überzeugungen haben bzw. praktizieren können. Aber sie weisen darauf hin, dass sich ihre verschiedenen Überzeugungen häufig wider-sprechen und so zumindest nicht (alle) wahr oder richtig sein können. Ethische Relativisten und Kommunitaristen sehen jedoch gar keine rationale Möglichkeit, absolute ethische Wahrheiten (über ethische bzw. moralische Ideale, Prinzipien, Normen und Werte) zu finden und zu begründen, so dass alle unterstellten Widersprüche nur von anti-relativistischen Positionen aus problematisch zu sein scheinen.
Anti-Relativisten kantianischer oder hegelianischer Prägung behaupten hingegen, dass es prinzipiell möglich ist, faktische Moralüberzeugungen (Intuitionen und Normen) durch rationale Reflexion auf logische Widerspruchs-freiheit und systemische Konsistenz hin zu prüfen, um sich langfristig einer unversalisierbaren Moral eines Fließ-gleichgewichtes zwischen ethischen Idealen und moralischen Prinzipien und konkreten moralischen Normen und ethischen Werten anzunähern, die im Prinzip für alle Menschen akzeptabel ist.
5. Didaktischer Relativismus
In der sich anbahnenden Wissensgesellschaft wird die Rede von Wissen oft nicht mehr mit einem strengeren Verständnis von Wissen und Können und daher auch mit einem Wahrheitsanspruch im Sinne der Konzeption von Wahrheit als Korrespondenz mit der Wirklichkeit verbunden. Die Rede von Wissen verflacht und wird zunehmend mit der bloßen Kenntnis von Informationen und mit dem Erratenkönnen von richtigen Antworten auf Fragen wie in einem Quiz oder in einem Multiple-Choice-Test gleichgesetzt.
Wissen ist aber in einem strengeren (philosophischen) Sinne nicht dasselbe wie bloße Information kann daher auch eigentlich nicht als bloße Information in verschiedenen Hinsichten und Bezugssystemen aufgefasst werden. Nach dem klassischen Verständnis ist Wissen angemessen begründetes Fürwahrhalten (Kant) bzw. gut begrün-dete wahre Meinung (Platon). Was jeweils als angemessene oder hinreichende oder gute Begründung gilt hängt zwar vom jeweiligen Wissens-Kontext bzw. Fachgebiet ab (Aristoteles), aber nicht jedes Thema oder jedes Problem kann in beliebig vielen verschiedenen und andersartigen Weisen verstanden werden und daher ist es auch nicht unwichtig, auf welche Weise ein Thema oder Problem kompetent behandelt wird.
Wissen hängt zwar von angemessenen Begriffen, Wissensarten, Wissenskontexten, Wissenslogiken und Wissens-feldern ab. Aber in der didaktischen Vermittlung von echtem Wissen sollte kein systemischer Relativismus vor-herrschen, der davon ausgeht, dass Lehrende und Lernende nur einander ihre jeweiligen faktischen Bezugs-systeme und die dahinter liegende Wissens-Architektur (Referenzbereiche, Relationen, Dimensionen, Wissens-logiken usw.) darlegen müssen, als ob es keine akzeptierten und etablierten normativen Standards für eine jeweilige Fachkompetenz gäbe.
Einen abgeschwächten Relativismus beinhaltet jedoch auch der ethische Kulturalismus, der in der jeweils gemein-samen sozialen Kultur ein Drittes jenseits von Fakten und Normen erkennen und anerkennen will. Aber auch ge-teilte Kulturen und kulturelle Praktiken können auf eine ungerechtfertigte Weise absolut gesetzt werden (Bsp.: klitorale Beschneidung oder traditionelle Zwangsehen). Dann ersetzt ein individueller Egoismus des verabsolutier-ten ICH nur einen gemeinsamen, familiären, ethnischen oder tribalistischen Egoismus des verabsolutierten WIR. Aber auch solche kollektiven Egoismen können und müssen wieder relativiert werden, weil sie beide aus philo-sophischer Sicht in ihrer Absolutheit nicht haltbar sind, sobald sie mit der Autonomie anderer Individuen oder Gruppen in Konflikt geraten. (Problem des Tribalismus in modernen Demokratien)
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6. Historischer und kultureller Relativismus
Die zunehmende Bekanntschaft mit fremden Völkern und die damit einhergehende Einsicht in die Pluralität re-ligiöser Vorstellungen, Weltbilder und lokaler Sitten und Gebräuche führte bereits in der antiken Sophistik zur Entwicklung relativistischer Auffassungen. So war der Homo-Mensura-Satz des Protagoras „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden für ihr Sein und der Nicht-Seienden für ihr Nicht-Sein“ einerseits ein Ausdruck relativistischer Bescheidenheit, weil der Mensch eben kein Gott ist und über keine göttlichen Maße verfügt. Aber andererseits hat er die philosophische Verteidigung einer vom Menschen (und seinen Göttern) unabhängige Wahrheit provoziert, die vorauszusetzen für alle Wissenschaften und Künste immer wichtiger wurde.
Mit der begrifflichen Unterscheidung von Natur („physis“) und menschlicher Satzung („nomos“) wurde in der An-tike die Grundlage für einen ethischen Konventionalismus geschaffen, demzufolge ethische Normen und recht-liche Gesetze nicht auf der gemeinsamen Natur, sondern auf menschlicher Übereinkunft beruhen und somit immer nur konventionell, das heißt aber auch historisch veränderlich sind. Es ist jedoch ein Kennzeichen der Neuzeit und Moderne, dass in den verschiedenen Wissenschaften und Künsten die geltenden Maßeinheiten immer weniger vom Menschen und seinen Organen bestimmt wurden (Elle, Fuß, Meile, etc.) als vielmehr mathe-matisch (Dezimalsystem) und physikalisch (Urmeter in Paris, Kilometer und Atomuhren, etc).
Der neuzeitliche Kulturalismus entwickelte sich seit dem späten 18. und beginnenden 19. Jahrhundert dann aber auch als eine romantische Gegenbewegung gegen die rationalistische Aufklärung. Beeindruckt von der Ent-deckung und Erkundung neuer Kontinente und der wachsenden Anzahl von Reiseberichten aus fernen Ländern entwickelten Gelehrte wie beispielsweise Herder, Humboldt oder Hamann in Opposition Distanz zum universalis-tischen Vernunftbegriff der Aufklärung genealogische und kommunitäre Ansätze zu Sprache, Kultur und Ratio-nalität mit gewissen nationalistischen Implikationen.
Der Siegeszug der neuzeitlichen Wissenschaften schuf die weltanschaulichen Voraussetzungen für das Auf-kommen einer Vielzahl nationalistischer Theorien im Verlauf des 19. Jahrhunderts. So ging etwa der geschichts-wissenschaftliche Historismus von der historischen Bedingtheit aller menschlichen Lebensäußerungen aus, während Biologismus und Psychologismus die naturalistische Ansicht nahelegten, dass menschliches Denken und Handeln nur noch als ein Ausdruck der biologischen beziehungsweise psychischen Konstitution des Menschen zu verstehen seien, womit auch das überlieferte Naturrecht an Bedeutung verloren hat.
Im 20. Jahrhundert wurden explizit relativistische Positionen, insbesondere von Evans-Pritchard und anderen in der Ethnologie, von Benjamin Lee Whorf und anderen in der Linguistik (Sapir-Whorf-Hypothese) und von Thomas S. Kuhn (Paradigmenwechsel in den Wissenschaften) und Paul Feyerabend (Methodenanarchie in den Wissen-schaften: Anything Goes) in der Wissenschaftstheorie gegen Karl Poppers Kritischen Rationalismus entwickelt. Im Kontext der zeitgenössi-schen Philosophie weisen vor allem der Konstruktivismus, der Poststrukturalismus und der Neo-Pragmatismus (Richard Rorty) vielfach relativistische Tendenzen auf.
Gleichzeitig halten auch noch im gegenwärtigen 21. Jahrhundert die philosophischen Diskussionen über alle sechs Spielarten des Relativismus an und zumindest in der akademischen Philosophie der sog. westlichen Welt (Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland, u.a.) überwiegen jedoch die modernen und rationalen Kritiker aller Arten des individualistischen, kulturalistischen und nationalistischen Relativismus in fast allen Strömungen der Philosophie mit Ausnahme des Dekonstruktivismus und des Postmodernismus.
Der gegenwärtige weltweite Rechtspopulismus befürwortet einen kulturalistischen und nationalistischen Rela-tivismus gegen die moralischen, rechtlichen und völkerrechtlichen Standards der Moderne (Demokratie, Rechts-staatlichkeit und regulierte Marktwirtschaft) und damit gegen parochiale Bürgerrechte und universale Menschen-rechte. Das gilt besonders für Wladimir Putins neo-imperialistische Ambitionen zur Herstellung einer eurasischen Hegemonie Russlands über ganz Europa in Anlehnung an die eurasischen Ideologien von Iwan Iljin und Alexan-der Dugin.
Aber auch die autoritären Regierungen in China, Brasilien, Indien und der Türkei schlagen sich zunehmend auf die Seite Putins und des vom Kreml beherrschten Russland. In Europa müssen die Anhänger der freiheitlich-demo-kratischen und rechtsstaatlichen Moderne in Ost- und Westeuropa sich sowohl gegen die rechtspopulistischen als auch gegen die links-populistischen Gegner der Freiheit der personalen Selbstbestimmung und der religiösen Toleranz wehren.
Dabei kommt in den anhaltenden schweren ökonomisch-politischen Krisen (Finanzkrise, Coronakrise, Ukraine-krise) der Erhaltung einer sozialen Marktwirtschaft und der Eindämmung des linken, rechten und islamistischen Antisemitismus eine Schlüsselrolle zu, da die kulturelle Identität Europas mit ihren jüdisch-christlichen und humanistischen Idealen, Prinzipien, Normen und Werten in die freiheitlich-demokratische, rechtsstaatliche und marktwirschaftliche Ordnung eingeschrieben ist.