Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen.
Epiktet, Enchiridion
Das Böse triumphiert alleine dadurch, dass gute Menschen nichts unternehmen.
Edmund Burke
Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer zu sein scheint, als er ist.
Ludwig Wittgenstein
Prognosen sind schwierig - besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.
Karl Valentin
Was ist Poietische Philosophie?
In der antiken griechischen Philosophie und vor allem bei Aristoteles bezeichnete der Ausdruck Poiesis (ποιἑω = machen) ein an bestimmte extrinsische Zwecke und Ziele gebundenes Handeln, das sich in dem Erreichen diese Zweckes oder Zieles erschöpft. Beispiel gebend sind die handwerklichen Künste, bei denen ein Werk oder ein Produkt hergestellt wird, wie z.B. in der Kochkunst, im Schiffbau oder in der Architektur.
Poiesis steht dann meistens in einem Kontrast zur Theoria, der "zweckfreien" Schau, die zur Erkenntnis und zum Wissen führen soll, und zur Praxis, dem "zweckfreien" Handeln, das seinen Zweck in sich selbst hat, wie z.B. in den schönen Künsten, wie z.B. der Bildhauerei, der Malerei oder der Musik. Von Zweckfreiheit kann dabei jedoch nur insofern gesprochen werden, als kein bestimmtes Werk oder Produkt hergestellt wird, das extrinsischen Zwecken dient, sondern intrinsische Ziele maßgeblich sind. Denn man kann zwar nach dem Wozu einer Arbeit fragen, d.h. wozu jemand kocht, wozu ein Schiff oder ein Haus gebaut werden soll, sodass sich aus den vorgesehenen Zwecken bereits bestimmte gestalterische Anforderungen an das herzustellende Werkstück ergeben, wie bei einer bestimmten Diät beim Kochen, beim Zweck des Fischens oder der Kriegsführung beim Schiffbau oder beim Zweck des Wohnens einer Familie oder der Versammlung einer Gemeinde beim Hausbau.
Man kann nämlich nicht im gleichen Sinne fragen, wozu jemand eine wunderschöne Statue aus Marmor schaffen, eine Vase kunstvoll bemalen oder ein schönes Lied singen will. Hier nach bestimmten extrinsischen Zwecken Ausschau zu halten, scheint den Sinn der Sache, den spezifischen Selbstzweck der schönen Künste im Unterschied zu den mani-festen Zwecken beim Handwerk zu verfehlen. Ein echter Künstler schafft ein Kunstwerk um seiner selbst willen. Das Kunstwerk hat aufgrund seiner Schönheit einen intrinsischen Wert, einen ästhetischen Wert, der dem Kunstwerk selbst anhaftet und der unabhängig von der persönlichen Wertschätzung des Künstlers oder seiner Bewunderer ist und erst recht unabhängig von dem potentiellen Marktwert.
Doch dieses Verständnis vom inhärenten Wert eines Kunstwerkes ist in modernen Gesellschaften fast vollständig verloren gegangen. Fast kennt man dort nur noch Künstler, die einzelne Kunstwerke herstellen oder "Kunstobjekte" seriell produzieren, um sie als Produkte auf dem sog. Kunstmarkt zu verkaufen. Die Kulturkritik an der Kommerzialität der Popkultur rührte ursprünglich daher und wird heute jedoch oft als elitär empfunden. Dabei kennen wir in allen Sparten der Künste immer noch hochbegabte Künstler, die hevorrragende Meisterwerke schaffen, die aus der Masse der seichten Ware herausragen. Wer würde nicht Singer-Songwriter, wie Bob Dylan, Leonhard Cohen oder Joan Baez, aufgrund ihrer poetischen Kraft und künstlerischen Ausnahmebegabung einer anderen Sparte zuordnen, als etwa irgendwelche Schlagersternchen, die leicht verdauliche Massenware produzieren?
Während in der Praxis der (von der zweckmäßigen Arbeit) freien Bürger das Handeln Selbstzweck ist, wie bei den schönen Künsten, beim Philosophieren und Forschen oder bei der ehrenamtlichen Politik, ist die Poiesis der hand-werklichen Arbeit der Arbeiter darauf ausgerichtet, für sich selbst und Andere etwas zu produzieren oder auf dem Umweg der Arbeit einen anderen extrinsischen Zweck (Selbsterhaltung und Unterhaltung seiner Familie) zu verfolgen.
Poietische Handlungen sind demzufolge eher in sich abschließbare Handlungen (z.B. Kochen, Herstellen, Bauen), bei denen mit ganz bestimmten Mitteln ein bestimmter Zweck verfolgt wird, sodass ein Endzustand definiert werden kann, bei dem die Herstellung eines bestimmten materiellen Produktes (z.B. Mahlzeit, Schiff, Haus) abgeschlossen ist und das Produzierte als nützlicher Gegenstand gebraucht oder verbraucht werden kann.
Nach Aristoteles können die einzelnen Handlungsschritte des poietischen Handelns mit Hilfe von Regeln und An-weisungen (wie in einem Manual oder einer Gebrauchsanweisung) beschrieben werden, die durchgeführt werden müssen, um ein Produkt oder Werk herzustellen. Mit der Vollendung eines solchen Produktes oder Werkes ist die poietische Handlung dann abgeschlossen und die herstellende Tätigkeit eines anderen Produktes oder Werkes beginnt. Dies gilt jedoch auch bei der schöpferischen Anfertigung einer Statue oder beim kunstvollen Bemalen einer Vase, die beide zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen werden können, sowie bei der Beteiligung an einer öffentlichen Gerichtsverhandlung oder an einer Versammlung der freien Bürger, die irgendwann zu einem Ende kommt und ihren momentanen Zweck erfüllt hat. Dies gilt jedoch kaum beim Philosophieren oder beim wissenschaftlichen Erforschen der Verhältnisse in der Natur, weil diese Tätigkeiten kein Ende zu haben scheinen, das man im Vorhinein angeben und ansteuern und dann schließlich erreichen könnte. Wer schon vorher weiß, was beim Philosophieren oder Forschen herauskommen soll, der philosophiert und forscht nicht wirklich.
Die aristotelische Abgrenzung der Poiesis von der Praxis und von der Theorie wirft also bei näherem Hinsehen noch einige Fragen auf, auch wenn sie prima facie einleuchtet und verstanden werden kann. Die Unterscheidung zwischen der mit intrinsischen Zielen ausgeführten Theorie und Praxis einerseits und der mit extrinsischen Zwecken ver-bundenen handwerklichen Poiesis andererseits, spiegelte ursprünglich nicht nur eine bestimmte Arbeitsteilung zwischen freien und schöpferischem Handeln einerseits und zweckgebundener Arbeit bzw. Handwerk andererseits wieder, sondern auch eine soziale Ordnung, die im freien Stadtstaat Athen ihren Ursprung hatte.
Mit dem kulturellen Einfluss der drei monotheistischen Religionen von Judentum, Christentum und Islam wurde diese gesellschaftliche Ordnung jedoch zunehmend in Frage gestellt, weil ihren Lehren zufolge alle Menschen aufgrund ihrer geschöpflichen Gottebenbildlichkeit und Würde vor Gott gleich sind und weil die handwerkliche Arbeit im Dienste des von Gott geschenkten Lebens der Familie und der zu Gott gehörigen Gemeinschaft an sich keinen geringeren Wert hat als die schöpferisch-künstlerische Arbeit der Bildhauer, Töpfer oder Musiker oder die ehrenamtliche Tätigkeit in der Politik oder die philosophische oder wissenschaftliche Forschung. Diese frühe religiöse Aufwertung der handwerklichen Arbeit im Vergleich zu den schönen Künsten hat über die Jahrhunderte ihre Spuren hinterlassen, auch wenn musisch gebildete Bürger immer noch zwischen den höheren Künsten und dem einfachem Handwerk unterscheiden und sich durch ihren "guten Geschmack" distinguieren. (Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982)
In der Moderne ist jedoch durch die rasante Entwicklung der Naturwissenschaften und der Technik die von der Ökonomie getriebene kulturelle Tendenz entstanden, nahezu alle herkömmliche zweckfreie Theorie und Praxis in zweckmäßige Poiesis zu verwandeln. Erfasst wurde dadurch nicht nur die Praxis derjenigen, die in den praktischen Wissenschaften von Medizin, Jurisprudenz und Ökonomie ausgebildet wurden, wie die Ärzte, Juristen und Ökonomen, sondern auch fast alle ursprüngliche zweckfreie Theorie derjenigen, die in den Natur-, Sozial- und Geistenswissen-schaften ausgebildet wurden, wie die Mathematiker und Naturwissenschaftler, Soziologen und Psychologen oder auch die Theologen und Philosophen. Wenn nahezu immer und überall nur noch extrinsische Zwecke verfolgt werden, wie z.B. Geld verdienen, Karriere machen, Macht gewinnen, gesellschaftliche Anerkennung ergattern und seinen sozialen Status steigern, wird gewissermaßen alles ursprünglich echte menschliche Tätigsein der Theorie und der Praxis zur Poiesis. Es gibt dann nur noch zweckgebundenes Verhalten, aber keine zweckfreie Theorie mehr und keine menschliche Praxis, die ihren Sinn und Zweck, ihren Wert und ihre Erfüllung in sich selbst hat. Dann kann man auch kaum noch von einem selbstbestimmten menschlichen Tätigsein sprechen, weil alles Verhalten und Handeln auf das möglichst effiziente Erreichen von extrinsischen Zielen im Sinne des bloß noch instrumentellen Verstandes einer Zweck-Mittel-Rationalität ausgerichtet wird.
Hinzu kommen die problematischen Einflüsse auf die zunehmend poietisch verstandene Arbeit in den theoretischen und praktischen Tätigkeiten durch die moderne Technik in Form von Maschinisierung und Funktionalisierung, Anony-misierung und technischer Perfektionierung, Beschleunigung und internationaler Vernetzung. Denn seit dem 19. Jahr-hundert haben sich aufgrund der technischen und sozialen Entwicklungen zunehmend Prozesse und Effekte der Entfremdung der arbeitenden Menschen von der Produkten ihrer Arbeit eingestellt, durch die die arbeitenden Menschen als lohnabhängige Industriearbeiter von sich selbst entfremdet werden. Beobachtet wurde dies von so unterschiedlichen Denkern wie Karl Marx oder Martin Heidegger.
Nach Karl Marx werden die lohnabhängigen Arbeiter in den modernen Industriegesellschaften tendenziell zu auf dem "Arbeitsmarkt" verfügbaren, zweckmäßig einsetzbaren und bei Bedarf ersetzbaren Mitteln der Unternehmer bzw. der Eigentümer der Produktionsmittel. Da sie damit tendenziell zu bloßen Mitteln zum Zweck der industriellen Produktion von Gütern und zur Steigerung der Profite der Unternehmen degradiert werden, werden sie ihrer angeborenen und schutzbedürftigen menschlichen Würde beraubt.
Nach Martin Heideggers Kritik an der modernen Technik werden nicht nur die Arbeiter von den Produkten ihrer Arbeit, sondern auch die Bauern zunehmend von der Natur entfremdet, in deren natürlichen Ordnungen der Jahreszeiten, der Wetterverhältnisse und der Rhythmen von Tag und Nacht sie sich über die Jahrhunderte hinweg eingebunden waren. Natürlich waren das auch keine "idealen Lebensverhältnisse" und es wäre eine hoffnungslose Nostalgie und politische Romantik, auch nur davon zu träumen, dass man diese "ursprünglicheren Verhältnisse" wieder herstellen könnte.
Mit der beschleunigten Entwicklung der Technik in den modernen Industriegesellschaften emanzipieren sich die Menschen zunehmend von der Natur, indem sie mit Hilfe von Wissenschaft und Technik die eigendynamische Natur zu bezwingen und ihren ökonomischen Zwecken zu unterwerfen versuchen. In den modernen, durch Elektrizität und maschinelle Produktion, soziale Mobilität, Verkehr- und Kommunikationstechnik geprägten Industriegsellschaften machen sich die Menschen nicht nur die Natur zunutze, sondern verlieren zunehmend das Bewußtsein und die Kenntnis ihrer eigendynamischen Ordnungen und Kreisläufe, weil sie die Natur fast nur noch als Lieferant von Rohstoffen für die industrielle Produktion, als Ressourcen für die ökonomischen Planungen und als zweckmäßiger Erholungsraum für die Regeneration am Wochenende ansehen. Notorisch zu kurz kommt dabei die notwendige Rücksicht auf die ökologischen Zusammenhänge und die natürlichen Kreisläufe von kurzfristiger Regeneration und langfristiger Reproduktion der Pflanzen und Tiere, Nischen und Landschaften.
Theoretische und praktische Wissenschaften - und poietische Wissenschaften?
Medizin, Ökonomie und Politik galten bis zum 19. Jahrhundert in der aristotelischen Tradition als die klassischen Disziplinen einer praktischen Wissenschaft. Dann setzte sich bis heute im deutschen Sprachraum die neuzeitliche dualistische Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften durch, im englischen Sprachraum jedoch die Unterscheidung zwischen Science und Humanities. Damit verschwand die aristotelische Trichotomie von Theorie, Praxis und Poiesis. Das hat bis heute wissenssoziologische, kultur- und wissenschaftspolitische Konsequenzen.
Die Philosophie wurde von nun an primär als Geisteswissenschaft verstanden und meistens in die Gebiete der Geschichte der Philosophie und der Systematischen Philosophie aufgeteilt, wobei man hinsichtlich der Systematischen Philosophie zwischen Theoretischer und Praktischer Philosophie zu unterscheiden pflegte. Damit verschwand die aristotelische Konzeptualisierung einer poietischen Philosophie, die er anscheinend jedoch auch nur ansatzweise anhand der Rhetorik und Poetik durchexerziert hatte. (Vgl dazu W. Wieland, Aristoteles und die Idee der poietischen Wissenschaft. Eine vergessene philosophische Disziplin?, in: ...)
1. Zu den vielen Fragwürdigkeiten der dualistischen Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften gehört jedoch, dass die Formalen Wissenschaften der Logik, der Mathematik und der Informatik weder Natur- noch Geisteswissenschaften sind, sondern beiden vorausgehen und zugrundeliegen. Sie befassen sich vielmehr mit den apriorischen und formalen Strukturen der Informationsvermittlung, des Denkens und des vorstellenden Erkennens überhaupt, ganz gleich ob man sich dabei auf natürliche, kulturelle oder geistige Objekte, auf theoretisches oder praktisches Denken bezieht. Deswegen ist die zeitgenössische Rede von den sog. MINT-Fächern auch ein Kuriosum, das sich alleine der Tatsache verdankt, dass man sich in den Naturwissenschaften (N), in der Informatik (I) und in den technischen Ingenieurswissenschaften (T) eben verstärkt den quantifizierenden Methoden der Mathematik (M) bedient, was in den qualitativen Untersuchungen der Kultur- und Geisteswissenschaften nur selten der Fall ist.
2. Eine andere Fragwürdigkeit der dualistischen Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften betrifft das Wegfallen des aristotelischen Verständnisses von Praktischen Wissenschaften, zu denen ursprünglich vor allem Medizin, Ökonomie und Politik gehörten. Diese praktischen Wissenschaften zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie anders als die Theoretischen Wissenschaften explizit nicht nur auf Erkenntnisse um ihrer selbst willen, sondern auf ein Handeln und damit auf Ziele oder Endzwecke ausgerichtet sind, die durch eine zweckrationale Abfolge von Mitteln und Zwecken zu erreichen sind. Eine höhere Wertschätzung dieser praktischen Wissenschaften hat sich besser in den angelsächsisch und lateinisch geprägten Kulturen erhalten können, während die deutsche Kultur- und Geistesgeschich-te stärker von der dualistischen Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften geprägt ist, und dabei nicht selten den Geisteswissenschaften einen höheren Nimbus gewährt.
3. Eine weitere Fragwürdigkeit der dualistischen Unterscheidung zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften ist die Ausgrenzug der Erziehungswissenschaften bzw. Pädagogik und Bildungswissenschaften und die eigentümliche Zwitterstellung der (klinischen) Psychiatrie zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften. Dabei kann es kaum einen berechtigten Zweifel daran geben, dass Erziehen, Lehren, Ausbilden und Bilden schwer vermittelbare praktische Künste bzw. Kompetenzen sind, die sich kaum entweder den Natur- oder den Geisteswissenschaften zuordnen lassen. Gleiches gilt für die Psychiatrie und Psychotherapie, praktische Künste bzw. therapeutische Kompetenzen, die man von einem ärztlichen oder therapeutischen Vorbild in der (klinischen) Praxis lernen muss, und die sich auch nicht den Natur- oder den Geisteswissenschaften zuordnen lassen.
In der humanistischen Bildung kommen deswegen im deutschsprachigen Raum bis zum heutigen Fächerkanon der Gymnasien die Vermittlung von soliden Grundkenntnissen in den lebenswichtigen Disziplinen der Medizin (Gesundheit), der Ökonomie (Wirtschaft) und der Politik (Gemeinwesen) notorisch zu kurz. Weitere Konsequenzen der Verdrängung dieses aristotelischen Verständnisses von praktischen Wissenschaften sind:
Das Studium der Medizin ist zu theoretisch und zu sehr auf das Studium der naturwissenschaftlichen Grundlagen hin ausgerichtet; es vernachlässigt frühe und regelmäßige Kontakte der Studierenden mit der klinischen Praxis, mit der Vermittlung von kommunikativen Fähigkeiten und von assistierenden ökonomischen und juristischen Kenntnissen.
Das Studium der Ökonomie ist zu mathematisch und zu sehr auf die quantifizierenden Modellrechnungen in der Mikro- und Makroökonomie ausgerichtet; es vernachlässigt die psychologischen, kulturellen und ökologischen Faktoren des ökonomischen Denkens und Handelns und bleibt zum Zwecke der erleichterten Mathematisierung auf das abstrakte Modell des homo oeconomicus als eines roboterhaften und künstlichen Profitmaximierers fixiert.
Das Studium der Politik ist zu theoretisch und wird zu sehr als allgemeine soziologische Politikwissenschaft begriffen und vernachlässigt deswegen die parochialen Aspekte bestimmter politischer Kulturen und Mentalitäten sowie die Kunst des praktischen Regierungshandelns, die Kunst der politischen Beratung und der demokratischen Willensbildung und Mehrheitsbeschaffung. Das lernen zeitgenössische Politiker erst learning by doing in den Parteien und Ämtern.
In allen drei Gebieten kommt das dringliche Bewusstsein der Abhängigkeit der praktischen Kunst des medizinischen, ökonomischen und politischen Handwerkes von der Urteilskraft und Besonnenheit der Experten, also der Ärzte, Ökonomen und Politiker zu kurz. Die Folgen sind: ein szientistisches Mißverständnis des ärztlichen Handelns mit einem Schwerpunkt auf der nur vorbereitenden und dienenden Diagnostik (unter Wegfall der lebensgeschichtlichen Anamnese) trotz der intendierten Therapeutik; ein ähnliches szientistisches Mißverständnis des ökonomischen Handelns mit einem Schwerpunkt auf der analytischen Prognostik des Status Quo anstelle der vorausschauenden Planung und umsichtigen Steuerung und schließlich ein szientistisches Mißverständnis des mit unvermeidlichen Risiken und Nebenwirkungen behafteten politischen Regierungshandelns mit einem verengten Schwerpunkt auf dem nur noch partikularen und reparierenden "Piece-meal-Engineering" (Karl Popper) anstelle der vorausschauenden Planung und umsichtigen Steuerung .
Poietische Philosophie
Poietische Philosophie soll hier nicht im buchstabentreuen Anschluss an Aristoteles verstanden werden und etwa nur dessen Rhetorik und Poetik als ein schöpferisches Hervorbringen rehabilitieren, das weder nur theoretisches Wissen noch nur praktisches Können ist. Poietische Philosophie meint hier vielmehr die praktische und zweckrationale Kunst des menschen- und naturgerechten, strategischen und pragmatischen Handelns anhand von Zielen, die durch die Natur und Kultur vorgegeben sind, das theoretisches Wissen angemessen einsetzt und praktisches Können mit Augenmaß verlangt, aber dennoch darüber hinaus auch ein immer mit gewissen Risiken und Nebenwirkungen behaftetes schöpferisches Hervorbringen neuer Ereignisse und Prozesse, Balancen und Entwicklungen, Konstellationen und Werte einschließt, wie beim pädagogischen, therapeutischen, ökologischen und ökonomischen Denken, Planen und Handeln.
Es geht in der Poietischen Philosophie weder um die selbstherrliche und eigenmächtige künstlerische Erfindung von Neuem um der Neugier willen noch um die allzu schematisch arbeitende und sich sklavisch an kulturell etablierte Regeln und Normen haltende Herstellung von künstlichen Produkten, sondern -- im Anschluss an Rousseau und Kant -- um eine "gärtnerische Kultivierung" von autopietischen Wachstumsprozessen in der Natur und beim Menschen. Das bedeutet z.B. auf den folgenden Gebieten (ohne Vollständigkeitsanspruch):
1. Philosophie der Pädagogik: Erziehung, Ausbildung und Bildung als assistierende und lehrende Begleitung und geschickt steuernde Kultivierung von autopoietischen Entwicklungs- und Lernprozessen.
2. Philosophie der Psychiatrie und Psychotherapie: Präventive Förderung und reparative Wiederherstellung von seelischer Gesundheit durch therapeutisch assistierende, interaktive und intervenierende Begleitung und geschickt steuernde Kultivierung von autopoietischen Entwicklungs-, Lern- und Selbstheilungsprozessen.
3. Philosophie der Medizin: Präventive Förderung und reparative Wiederherstellung von somatischer und psycho-somatischer Gesundheit durch therapeutisch assistierende, interaktive und intervenierende Begleitung und geschickt steuernde Kultivierung von autopoietischen Entwicklungs-, Lern- und Selbstheilungsprozessen.
4. Philosophie der Ökologie: Präventive Förderung und reparative Wiederherstellung von ökologischen Nischen und Landschaften, Tier- und Pflanzenarten und natürlichen menschlichen Lebensbedingungen durch assistierende, interaktive und intervenierende Pflege und Planung und durch geschickt steuernde Kultivierung von autopoietischen natürlichen Prozessen des Wachstums, der individuellen Regeneration und der artgerechten Reproduktion.
5. Philosophie der Ökonomie: Präventive Förderung und reparative Wiederherstellung von lebensdienlichen und menschengerechten ökonomischen Prozessen auf den sich teilweise autopoietisch selbst regulierenden Märkten und eine staatlich assistierende, wirtschaftlich regulierende, bürgerlich interaktive und politisch intervenierende Pflege und Planung durch geschickt steuernde Kultivierung von schädlichen Auswüchsen. Dabei kann es sich um wildwüchsige Prozesse des Wachstums, der innovativen Regeneration und der generativen Reproduktion handeln, wie z.B. bei lokal und national schädlicher Globalisierung von Unternehmen, bei wuchernder Monopolbildung von Unternehmen, die die wechselseitige Balance im regionalen oder nationalen Wettbewerb der konkurrierenden Unternehmen zerstören, bei ökonomischen Pervertierungen, die Arbeit, Immobilien und Geld irrtümlich als bloße Waren behandeln (Karl Polanyi), die die Gesundheit und die Würde der Menschen, Bürger und Verbraucher schädigen und die lebenserhaltende natürliche Gemeingüter wie eine unverseuchte Erde, atembare Luft und trinkbares Wasser gefährden, etc.
Daraus ergibt sich eine Fülle von Themen, die zu erforschen und zu untersuchen wären:
1. Poietisches Denken als Einheit und Ursprung des theoretischen und des praktischen Denkens?
2. Poietik beim Philosophieren: Maieutik, Aporetik, Dialogik, Dialektik und Rhetorik
3. Komparatives Verstehen der Urteilskraft und der Besonnenheit: Phronesis und Sophrosyne
4. Phänomenologie des Poietischen: Erfinden, Planen, Konstruieren, Erzeugen und Herstellen
5. Phänomenologie der schönen Künste: artes liberales und liberal arts
6. Phänomenologie der Poesis
7. Urteilskraft und Kompetenz
Georg Picht, Die Kunst des Denkens (1968)
In: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien,
Stuttgart: Klett-Cotta 1969, S. 427-434
Die alte Weisheit, daß das Denken und die Kunst zusammen gehören ist in der wissenschaftlichen Zivilisation zu einer unverbindlichen Legende geworden. Als das Feld des Denkens gilt uns seit der
Mitte des 19. Jahrhunderts die objektive Erkenntnis. Sie erfordert kritische Rationalität, Kontrolle an verifizierbaren Fakten, Logik und konsequente Ausschaltung der subjektiven Vorurteile. Im
Gegensatz dazu gilt für die Ästhetik des 19. Jahrhunderts, deren Herrschaft bis heute ungebrochen ist, die Kunst als der Bereich der an keine Regeln gefesselten Intuition. Hier kann sich die
Subjektivität dem freien Spiel der Einbildungskraft überlassen. Hier findet die ungebundene Genialität der schöpferischen Phantasie souveränen Ausdruck. Gewiß konzediert man, daß die Künstler
auch denken und die Wissenschaftler auch Intuition haben müssen. Wer aber zu behaupten wagt, das Denken selbst sei seinem innersten Wesen nach eine Kunst, der setzt sich dem Verdacht aus, er
wolle die Strenge der kritischen Vernunft der subjektiven Willkür opfern und an die Stelle der objektiven Erkenntnis eine jener irrationalistischen Weltanschauungen setzen, gegen die wir in
Deutschland, trotz der Erfahrung mit dem Nationalsozialismus, noch keineswegs immun geworden sind. Die These, die sich in der Überschrift "Die Kunst des Denkens" ausspricht, bedarf deshalb einer
genauen Erläuterung.
Wer verstehen will, wie sich Kunst und Wissenschaft in der europäischen Kultur zueinander verhalten, der muß auch heute noch mit den Griechen beginnen. Das System der europäischen Wissenschaft
wurde von Aristoteles begründet. Wenn wir verstehen, wie sich Kunst und Wissenschaft nach seiner Lehre zueinander verhalten, werden wir das Problem, um dessen Klärung es uns geht, genauer
formulieren können. Da stoßen wir nun auf einen sehr merkwürdigen Tatbestand. Die uns überlieferten Schriften des Aristoteles enthalten einerseits die Grundlegung der theoretischen Wissenschaften
in seiner Logik und seiner Wissenschaftstheorie, seiner Physik, seinen naturwissenschaftlichen Schriften und seiner "Metaphysik", sie enthalten andererseits die Grundlegung der praktischen
Wissenschaften in der "Ethik" und der "Politik". Weil sich die große Mehrzahl der Schriften des Aristoteles nach der alten Unterscheidung von Theorie und Praxis aufteilen läßt, unterscheidet die
europäische Tradition die theoretische und die praktische Vernunft. Wenn Kant die theoretische Philosophie in der "Kritik der reinen Vernunft", die praktische Philosophie, also die Ethik, in der
"Kritik der praktischen Vernunft" behandelt, stellt er sich auf den Boden dieser aristotelischen Tradition. Nun gibt es aber bei Aristoteles noch eine dritte Grundform der Erkenntnis, sie trägt
den Namen "Poiesis". Poiesis heißt das Hervorbringen, oder das Schaffen. Poiesis ist also jedes Tun, das ein Werk hervorbringt, welches vorher nicht da war, und welches, wenn es einmal
hervorgebracht ist, für sich selbst besteht. Es ist eines der großen Verhängnisse der europäischen Geistes-geschichte gewesen, daß Aristoteles diesen dritten Teil seiner Philosophie, nämlich die
Theorie der Poiesis, nur frag-mentarisch ausgearbeitet hat.
Nur so konnte sich die Meinung ausbilden, in den Bereichen der Theorie und der Praxis sei bereits der ganze Umkreis der Möglichkeiten der Vernunft erschöpft. Wir besitzen von der aristotelischen
Theorie der Poiesis nur zwei Schriften. Die eine ist die Schrift über die Poiesis im engeren Sinne, das heißt über die Dichtkunst, die "Poetik". Diese Schrift ist zu einem Grundbuch der
europäischen Ästhetik geworden. Noch die Ästhetik des 18. Jahrhunderts, ja sogar die Ästhetik von Hegel, ist primär eine Theorie der Dichtkunst, während die unzulängliche Ausbildung der Theorie
der bildenden Künste und der musikalischen. Ästhetik wesentlich darauf zurückzuführen ist, daß diese Stücke der Theorie von Aristoteles nicht ausgeführt wurden. Das andere Teilstück der
aristotelischen Theorie der Poiesis liegt uns in seiner Rhetorik vor. Die Rhetorik wird in Deutschland seit der Romantik verachtet. Man vergißt, daß in der europäischen Tradition die Rhetorik in
der Gestalt, die sie durch Cicero und Quintilian erhalten hat, die theoretische Grundlage für die Bildungstheorie und Kulturtheorie gewesen ist. Das gesamte europäische Erziehungssystem ruht auf
dem Fundament eines Teilstückes der aristotelischen Poetik, nämlich der vergessenen Grundwissenschaft der Rhetorik. Die Tatsache, daß man den Zusammenhang zwischen Theorie, Praxis und Poiesis
nicht mehr durchschaute, und also auch die Rhetorik nicht mehr einzuordnen vermochte, spiegelt sich dann in dem humanistischen Zwiespalt zwischen Bildung und Wissen-schaft auf der einen Seite,
Bildung und Moral, Bildung und Politik auf der anderen Seite. Man konnte die auf der Rheto-rik, oder genauer gesagt: auf der Poetik beruhende Bildung mit Theorie und Praxis nicht in Einklang
bringen, weil man den inneren Zusammenhang zwischen der theoretischen, der praktischen und der poetischen Vernunft nicht mehr verstand.
Das hatte aber noch viel weiter greifende Folgen. Poiesis ist, wie schon gesagt, ein Tun, welches ein Werk hervorbringt, das, wenn es hervorgebracht ist, für sich selbst besteht. Der Oberbegriff
für ein solches Hervorbringen heißt bei Aristoteles "Techne". Die von ihm intendierte aber nicht ausgeführte Theorie der Poiesis hätte also alles umfassen müssen, was bei den Griechen unter den
Namen Techne fällt: sämtliche Handwerke, die Medizin, sämtliche Künste aber auch weite Bereiche der Politik und Ökonomie. Die ausgeführte Theorie der Poiesis wäre also eine Theorie von allen
überhaupt möglichen Formen der Produktion gewesen. Die Tatsache, daß diese Theorie von Aristoteles nicht aus-geführt wurde, ist eine der wichtigsten Ursachen dafür, daß die europäische Kultur die
Technik geistig bisher nicht zu bewältigen vermochte, daß ihr eine ausreichende Theorie der Arbeit, daß ihr eine an den Produkten orientierte Theorie der Produktion fehlt, und daß wir erst heute
– unbeholfen genug – darüber nachzudenken beginnen, in welchen Strukturen sich der Mensch bewegt, wenn er zugleich mit seiner Kultur auch seine eigenen Lebensbedingungen produziert und über seine
eigene Zukunft verfügt. Die theoretische Vernunft betrachtet und analysiert das, was ist. Die praktische Vernunft entwirft die Regeln unseres Verhaltens. Aber das unheimlichste und tiefste von
allen menschlichen Vermögen, nämlich das Vermögen, solches hervorzubringen, was zuvor nicht da war, ja eine künstliche Welt zu erbauen, wurde bisher noch nicht als eine ursprüngliche Gestalt der
menschlichen Vernunft begriffen, in seinen eigentümlichen Strukturen dargestellt und im Verhältnis zu den beiden anderen Gestalten der menschlichen Vernunft, nämlich der theoretischen und der
praktischen Vernunft, bestimmt. Kein Wunder, daß es uns bis zum heutigen Tage an Kriterien fehlt, nach denen sich ermitteln ließe, was in dem nahezu unbegrenzten Felde dessen, was Wissenschaft
und Technik produzieren könnten, nach Regeln der Vernunft produziert werden solL Die allgemeine Theorie der Produktion wäre eine der Grundwissenschaften der modernen Welt. Da aber nur ein
Teilbereich dieser Theorie, nämlich die Theorie der Kunst im engeren Sinne, bisher überhaupt bearbeitet wurde, müssen wir uns an den höchst unvollkommenen Ansätzen einer Theorie der Kunst
orientieren, wenn wir einen ersten Einblick in die Struktur und das kategoriale Gefüge einer möglichen Theorie der Poiesis gewinnen wollen. So wird höchst paradoxerweise jene Wissenschaft, die
man unter dem Namen der "Ästhetik" bisher nur einseitig und mißverständlich ausgebildet hat, zu einer Zentralwissenschaft der modernen Welt; und es könnte wohl sein, daß sich aus ihr eine
Wissenschaft entwickeln wird, die eine ähnlich funda-mentale Bedeutung gewinnt, wie sie in der bisherigen Wissenschaft der Logik zukam.
Daß eine solche neue Wissenschaft sich vorbereitet, wird im Gang der europäischen Philosophie sichtbar seit Kant. Kant sah sich aus systematischen Gründen, auf die ich hier nicht eingehen kann,
genötigt, auf die Kritik der theoretischen und die Kritik der praktischen Vernunft ein drittes großes Hauptwerk folgen zu lassen, dessen erster Teil die Ästhetik, dessen zweiter Teil die
Zweckmäßigkeit in der Natur behandelt. Der erste Teil handelt also von der Kunst im engeren Sinne, der zweite Teil spricht von jenen Formen der uns umgebenden Natur, die wir uns nur begreiflich
machen können, wenn wir sie so interpretieren, als ob sie Kunstprodukte wären. Die Lehre von den zweckmäßigen Formen in der Natur handelt also, wie Kant sagt, "von der Natur als Kunst, mit
anderen Worten der Technik der Natur in Ansehung ihrer besonderen Gesetze". Das gesamte Werk handelt demnach von der Kunst. Es trägt den Namen "Die Kritik der Urteilskraft", weil Kant den Schritt
noch nicht zu vollziehen wagte, eine dritte, nämlich die poietische Gestalt der Vernunft selbst anzunehmen. Es läßt sich aber zur Evidenz bringen, daß diese letzte Folgerung in Kants Theorie
bereits angelegt ist. Der Höhepunkt und Schlußstein des Gebäudes von Kants gesamter Philosophie ist also seine Theorie der Kunst. Das ist um so auffälliger, als Kant mit dem, was man gemeinhin
"Kunst" zu nennen pflegt, wenig genug zu tun hatte. Er war das Gegenteil von allem, was man sich unter einem "künstlerischen Menschen" vorzustellen pflegt. Er hat niemals ein großes Kunstwerk
gesehen, besaß für Musik nur ein geringes Interesse und bevorzugte, seiner kritischen Grundhaltung gemäß, im Bereich der Poesie die satirische Dichtung. Es muß in den Phänomenen selbst ein
gewaltiger Zwang hervor-getreten sein, wenn dieser kritische Geist durch die Analyse des theoretischen und praktischen Vermögens der Vernunft dazu gezwungen wurde, schließlich die griechische
Poiesis wiederzuentdecken und die Theorie der Kunst zur meta-physischen Grundwissenschaft schlechthin zu machen.
Im deutschen Idealismus hat dann Kants Entdeckung zu einer Neubegründung der Idee des philosophischen Systems im Ganzen geführt. In Schellings System des transzendentalen Idealismus bildet die
Philosophie der Kunst den Höhe-punkt des gesamten Systems. In ihr findet die Philosophie als ein Ganzes ihre Begründung, denn erst die Philosophie der Kunst vermag "das allgemeine Organ der
Philosophie" zu deduzieren, und das heißt: die Philosophie der Kunst eröffnet erst den Horizont, in dem sich sowohl die theoretische Vernunft wie auch die praktische Vernunft als mensch-liche
Grundvermögen interpretieren lassen. Hier steht die poietische Vernunft nicht mehr selbständig neben der theoretischen und der praktischen Vernunft, sondern sie ist der theoretischen wie der
praktischen Vernunft über-geordnet. Aus dem Vermögen der Kunst im weitesten Sinne dieses Wortes entspringt erst das Vermögen, theoretisch zu erkennen und praktisch zu handeln.
Ich muß es bei diesen Andeutungen hier bewenden lassen. Sie sollten zeigen, daß auch in der neueren Philosophie der fundamentale Zusammenhang zwischen Denken und Kunst mit unwiderstehlicher Macht
ans Licht getreten ist. Wir folgen also nicht privater Willkür und irgendwelchen subjektiven Neigungen, wenn wir der Meinung sind, die Aufklärung dieses Zusammenhanges sei eine der großen
Zukunftsaufgaben der Philosophie. Die Stellung dieses Problems ergibt sich vielmehr mit einer nahezu unwiderstehlichen Logik, sobald man anfängt, sich auf den großen Gang der Geschichte des
europäischen Denkens zu besinnen.
Wir müssen nun versuchen, dieses Problem noch etwas genauer zu formulieren. Was ist jene primäre Leistung der poietischen Vernunft, durch die sich dieses transzendentale Vermögen von der
theoretischen und von der praktischen Vernunft unterscheidet? Was ist die Leistung des Denkens und des Erkennens, aus der alle möglichen Formen des Machens entspringen? Was ist die Grundform
allen Schaffens, allen Planens und Produzierens? Was ist die Grundform aller menschlichen Kunst? – Wir können diese Fragen mit einem Begriff beantworten, der zuerst von Kant in die Philosophie
eingeführt worden ist, später in mannigfaltigen Abwandlungen immer wieder auftaucht und dann zum ersten Mal von Heidegger als die ursprüngliche Bestimmung der Seinsart des Daseins, das wir selbst
sind, entfaltet wird. Dieser Begriff heißt: der Entwurf. Jedes Werk, das der Mensch zu vollbringen vermag, wird möglich nur durch einen vorgängigen Entwurf. Das Entwerfen ist jenes ursprüngliche
Vermögen, welches den Menschen befähigt zu produzieren und zu planen, sich Häuser zu bauen, Städte zu gründen, Staaten zu bilden und jene künstliche Welt zu erzeugen, die ihm das Leben inmitten
einer feindlichen Natur erst möglich macht. Das Entwerfen ist das Grundvermögen der Kunst. Das Denken ist dann eine Kunst, wenn es im tiefsten Grunde ein Entwerfen ist.
Aber was bedeutet nun Entwerfen und Entwurf? Ist es erlaubt und ist es möglich, das Denken als Entwerfen zu verstehen und den entwerfenden Vollzug des Denkens als eine selbständige Gestalt der
Vernunft von Theorie und Praxis zu unterscheiden? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir genauer zu bestimmen versuchen, was denn in einem Entwurf entworfen wird. Eine erste Antwort
ergibt die Analyse des Machens. Wer immer irgendetwas machen will, der muß vor seiner inneren Anschauung ein Bild von dem besitzen, was gemacht werden soll. Machen ist immer die Ausführung eines
Modells, und die Modelle, die ausgeführt werden, bezeichnen wir im täglichen Sprach-gebrauch als Entwürfe. Der primäre Inhalt des Entwurfes wäre demnach das Bild, das Modell oder das Schema einer
inneren Anschauung. Wir brauchen diesen sehr einfachen Tatbestand nur zu formulieren, um alsbald auch schon zu entdecken, weshalb die bisherige philosophische Tradition eine poietische Vernunft
nicht anerkennen konnte. Die innere Anschauung trägt nämlich den Namen "Intuition", und wir sind gewohnt, das Denken, also die ratio, der Intuition entgegenzustellen. Kant hat das transzendentale
Vermögen, das allem Schaffen zugrunde liegt, sehr wohl erkannt. Er nennt es die "produktive Einbildungskraft". Da aber die Einbildungskraft ursprünglich auf Anschauung bezogen ist, und da Kant,
gemäß der überlieferten Trennung der Seelenteile, das Denken der Anschauung entgegensetzt, war es für ihn unmöglich, das Vermögen der produktiven Einbildungskraft als ein Vermögen der Vernunft zu
begreifen. Umgekehrt kann man von einer poietischen Vernunft nur sprechen, wenn man in der Lage ist, den Nachweis zu führen, daß die uns so gewohnte Entgegensetzung von ratio und Intuition, von
Denken und Anschauung undurchführbar und deshalb falsch ist. Entwerfen bezieht sich zwar notwendig auf jene geistige Anschauung, die uns die Bilder des Entwurfes schauen läßt; zugleich aber zeigt
uns jeder architektonische Entwurf, daß die Vernunft es ist, die diese Bilder hervor-bringt. Vernunft und Intuition sind im Entwurfe nicht voneinander zu trennen. Die Vernunft schaut an, die
Anschauung denkt. Nachweisbar wird die Einheit von Bild und Begriff, von Anschauung und Denken in dem geheimnisvollsten und tiefsten Produkt der poietischen Vernunft des Menschen, nämlich der
Sprache. Hätte Kant seine Königsberger Mit-bürger Hamann und Herder besser verstanden, und hätten umgekehrt Hamann und Herder sich die Klarheit des kantischen Denkens zu eigen gemacht, so hätte
das dritte Hauptwerk von Kant auch eine Theorie der Sprache enthalten müssen, aus der "Kritik der Urteilskraft" wäre dann eine Kritik der poietischen Vernunft geworden.
Aber mit dem Entwurf der Bilder ist das Vermögen des Entwerfens nur vorläufig und unvollständig charakterisiert. Wir werden weitergehen und fragen müssen, was denn die Voraussetzungen dafür sind,
daß der Mensch das Vermögen hat, vor seiner inneren Anschauung Bilder und Schemata zu entwerfen, die er dann ausführen, also machen kann. Da zeigt sich alsbald, daß isolierte Bilder gar nicht
möglich sind. Der Entwurf eines Hauses setzt die Kenntnis der Lage des Hauses und die Kenntnis der Bedürfnisse voraus, denen es dienen soll. Sowie man anfängt zu analysieren, was alles – bewußt
oder unbewußt – vorausgesetzt wird, wenn man den Plan eines Hauses entwirft, so stellt sich heraus, daß man nie an ein Ende kommt. Das Haus setzt nicht nur seine künftigen Bewohner und deren
spezifischen Bedürfnisse, es setzt auch die Gesellschaft, der sie angehören, ihre Kulturstufe und ihre politische Ordnung voraus. In seiner geographischen Lage ist zugleich das Klima, der Wechsel
der Jahreszeiten, also die Ordnung des Planetensystems vorausgesetzt. Das Haus repräsentiert von einem bestimmten Standort aus die ganze Welt, und der Entwurf des Hauses ist nur dann gelungen,
wenn er sich in den Weltzusammenhang, in dem das Haus seinen Platz hat, richtig einfügt.
Es ist also durchaus nicht eine Sache der Willkür und des freien Beliebens, wie unser produktives Vermögen die Modelle, die wir verwirklichen wollen, entwirft. Sie müssen im Zusammenhang der
Welt, in die sie hineingestellt werden sollen, richtig "sitzen". Die Anschauung, innerhalb derer wir die Modelle unseres Schaffens erblicken, ist nicht ein leeres seelisches Vermögen, sie ist
eine geistige Anschauung der Welt, auf die das Modell in seinem Entwurf bezogen ist, und die es gut oder schlecht repräsentiert. Ein Modell, das sich in seine Welt nicht fügt, ist fehlerhaft,
aber auch jene geistige Antizipation der Welt, die wir als "innere Anschauung" zu verstehen pflegen, kann wirklich oder ein Wahngebilde sein. Die Formen der Anschauung sind uns also nicht, wie
Kant gelehrt hat, a priori vorgezeichnet; vielmehr ist nicht nur das Entwerfen der Bilder und Schemata in der Anschauung, sondern auch die Anschauung als solche, also der Welthorizont,
auf den sich die Bilder und Schemata beziehen, in sich entweder trügerisch oder wahr. Nicht nur die theoretische Vernunft, auch das Entwerfen ist auf Wahrheit bezogen und steht in jenem Zwielicht
zwischen Wahrheit und Trug, das wir als Schein zu benennen pflegen. Weil nicht nur die theoretische Erkenntnis sondern auch das entwerfende Ver-mögen auf eine mögliche Wahrheit bezogen ist, weil
also das Entwerfen immer den Charakter des Entdeckens oder Verfehlens von wirklichen Möglichkeiten hat: deshalb sind wir genötigt, auch dieses Vermögen als eine Gestalt der Vernunft zu begreifen.
Das produktive Vermögen des Menschen ist nur als poietische Vernunft, das heißt als ein Entdecken möglicher Wahrheit durch den Vollzug entwerfenden Schaffens zu verstehen.
Nun sahen wir aber, daß wie die Bilder, die wir entwerfen, auch der Horizont selbst, in den hinein wir sie entwerfen, wahr oder ein Wahngebilde sein kann. Nach einer tief eingewurzelten
Gewohnheit des Denkens, die Kant als "trans-zendentalen Schein" entlarvt hat, pflegen wir immer naiv vorauszusetzen: der Horizont der Welt, in der wir uns bewegen und orientieren, sei eine
objektive Realität, die uns schon vorgegeben ist. Innerhalb dieses Horizontes bestimmt unsere theoretische Vernunft die Phänomene, die sie erkennt; innerhalb dieses Horizontes regelt die
praktische Vernunft unser Handeln. Nun stellt sich aber heraus, daß dieser Welthorizont selbst den Charakter des Entwurfes hat: er muß den Charakter des Entwurfes haben, weil die Welt in der
Zeit, also in Richtung auf die Zukunft offen ist. Gewiß: die objektiven Gegebenheiten, auf die wir stoßen, und mit denen wir zu rechnen haben, begegnen uns immer nur in einer Welt. Aber die Welt
als solche ist uns niemals objektiv gegeben. Die perspektivischen Ausmessungen des Horizontes seines Daseins werden vom Menschen selbst entworfen, und das bedeutet zugleich, daß der Mensch
aufgrund der poietischen Vernunft das unheimliche Vermögen hat, in einer falschen Welt zu leben. Die Analyse der poietischen Vernunft ergibt: die Stellung des Menschen in der Wahrheit zu der
Wahrheit bestimmt sich im tiefsten Grunde nicht durch die theoretische und die praktische Vernunft; sie bestimmt sich vielmehr nach den Perspektiven jenes sich wandelnden Weltentwurfes, der allen
geschichtlichen Möglichkeiten des Menschen vorangeht. Deshalb ist die poietische Vernunft das ursprünglichste Vermögen des Menschen; deshalb können wir Wahrheit nur erkennen, sofern wir über die
Möglichkeiten und die Gefahren jenes poietischen Vermögens zur Aufklärung gelangen, das im Grunde unseres Denkens den Horizont, innerhalb dessen wir uns bewegen, stets schon entwirft.
Wieder abgedruckt in:
Georg Picht, Das richtige Maß finden. Der Weg des Menschen ins 21. Jahrhundert,
Hrsg. von Carl Friedrich von Weizsäcker und Constanze Eisenbart
mit einem Vorwort von Carl Friedrich von Weizsäcker,
Freiburg: Herder 2001, S. 26 - 36.