Things are in the saddle and ride man.
Emerson
Man kann in dieser Welt, wie sie ist, nur dann weiterleben,
wenn man zutiefst glaubt, daß sie nicht so bleibt,
sondern werden wird, wie sie sein soll.
Carl Friedrich von Weizsäcker
Georg Picht, Zum Begriff des Maßes
In: Eisenbart, C. (Hg.): Humanökologie und Frieden, Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft; Bd. 34, Stuttgart: Klett-Cotta 1979 , S. 418-426.
Jedes Ökosystem ruht in einer Mannigfaltigkeit von Gleichgewichten zwischen den es bestimmenden Strukturen, Zuständen, Faktoren und Prozessen. Was wir „Gleichgewicht“ nennen, ist selbst ein
Zustand; einander entgegen wirkende Kräfte oder Tendenzen werden in ihm so zum Ausgleich gebracht, daß er sich erhält. Ein relativ stabiler Gleichgewichtszustand ergibt sich aus der Interferenz
einer Mannigfaltigkeit von Gleichgewichten, die zwar verschiedenartig sind, aber sich wechselseitig stützen. Sie befinden sich dann zueinander in einer durch die spezifische Konstellation der
Gleichgewichte definierten Ordnung. Eine solche Ordnung bezeichnen wir im Kontext ökologischen Denkens als „System“. Da jedes Gleichgewicht in der Spannung von Wirkung und Gegenwirkung schwebt,
ist die Fügung (= Harmonie) eines solchen Systems, wie Heraklit entdeckt hat, stets gegenstrebig, das heißt antinomisch. Die Ordnung des Systems bindet Kräfte zusammen, die es zerstören, sobald
eine von ihnen so stark wird, daß sie die tragenden Gleichgewichtsverhältnisse verschiebt; das System kann dann nicht wiederhergestellt werden. Deshalb ist, solange das System besteht, der
Spielraum jeder einzelnen Kraft durch die Ordnung des ganzen Systems begrenzt. Wo immer uns in der Natur begrenzte Spielräume begegnen, erkennen wir Maße. Die Maße sind die „Elemente“ der Ordnung
eines Ökosystems. Ökologie ist die Erkenntnis der immanenten Maße der Natur.
Das Leben der Menschen ist von dem Gesetz nicht ausgenommen, daß in der Natur nur das bestehen kann, was seine Ordnungen und Maße hat. Alle menschlichen Ordnungen bilden sich in einem Geschiebe
von Gleichgewichts-verhältnissen aus. Frieden erfordert eine „balance of power“; Medizin, Ethik, Psychiatrie haben es stets mit der Gefährdung oder Stabilisierung von spezifischen Gleichgewichten
zu tun; Analoges gilt von Ökonomie und Recht. Humanökologie wird zum Problem, weil die Menschen mit Hilfe der ihnen verfügbaren Macht inmitten der Natur Systeme herstellen wollen, die weder in
einem ihnen selbst immanenten Gleichgewicht ruhen noch mit den Gleichgewichten der Natur in Übereinstimmung gebracht werden können. Die Menschen haben in der wissenschaftlich-technischen
Zivilisation das „Augenmaß“ für jene Gleichgewichtsverhältnisse verloren, die für sie Existenzbedingungen sind. Sie haben Prozesse entfesselt, die irreversibel die bisherigen Gleichgewichte
zerstören. Aber es ist nicht zu spät, an die alte Weisheit zu erinnern, daß nichts in der Natur Bestand haben kann, was sich nicht innerhalb seiner spezifischen Maße hält, und daß die Individuen,
die Gesellschaften und die Imperien zugrunde gehen, wenn sie ihr Maß über-schreiten. Was heißt in diesem Satz „Maß“?
Die moderne Physik läßt sich als eine Theorie des Messens beschreiben. Ihre Erkenntnisse sind zum größten Teil Meßresultate. Eine Messung geht aus von einem gewissen Vorbegriff dessen, was
gemessen werden soll. Damit die Messung durchgeführt werden kann, muß aus diesem Vorbegriff eine Folge von Operationen abgeleitet werden, welche die Prozedur festlegen, durch die das Meßresultat
gewonnen werden soll. Das Meßinstrument ist die Verkörperung dieser operationalen Schritte. Je nach deren Sequenz erhalten wir verschiedene Antworten auf die im Vorbegriff implizierte Frage. Das
bedeutet: dasjenige, was Remessen werden soll, wird selbst durch die Operation des Messens erst definiert. Das zu messende Phänomen verwandelt sich durch den Prozeß des Messens selbst in eine
perspektivische Projektion dieses Messens. Wir gewinnen die dabei gesuchte Information durch den Vergleich des Resultates mit einer quantitativ bestimmten Meßeinheit derselben Art. Wir haben uns
daran gewöhnt, die festgelegte Meßeinheit als „Maß“ zu bezeichnen. „Maß“ wäre dann das, wonach in einer Messung jeweils gemessen wird; „Maß“ würde dasselbe bedeuten wie „Maßstab“. Die Festlegung
solcher Maße erfolgt nach der operationalen Zweckmäßigkeit, die ihrerseits von der Konstruktion der Meßinstrumente abhängt. In dieser Bedeutung des Begriffes „Maß“ hat das Wort nur noch
vermittelt durch das Instrument mit dem zu messenden Phänomen etwas zu tun. „Maß“ ist hier ein Element der Operation des Messens, es ist nicht eine immanente Bestimmung des Phänomens, das
gemessen werden soll. Der Sprachgebrauch, von dem wir ausgegangen sind, versteht hingegen unter „Maßen“ strukturbildende und daher konstitutive Verhältnisse in dem Phänomen selbst. Bei
konsequentem Sprachgebrauch dürfen wir sagen: Maß ist, was nicht gemessen werden kann. Wenn aber keine Maße vorgegeben wären, so könnten wir auch keine Meßwerte festsetzen; wir könnten weder
messen noch Meßresultate gewinnen. Die Frage, was Maße sind, gehört deshalb in den Bereich der Grundlegung der Physik.
Wir erläutern das Gesagte durch ein Beispiel. Die Kunst der Maße schlechthin ist die Architektur. Wenn wir ein Gebäude ausmessen, bestimmen wir mit Hilfe von normierten Meßwerten (den sogenannten
„Längenmaßen“) seine Ausdehnung im Raum. Die Objektivität der Meßresultate wird dadurch garantiert, daß wir für sämtliche Gebäude die gleichen Meßwerte verwenden. Wir blenden damit den für alle
Architekten konstitutiven Sachverhalt aus, daß jedes Gebäude seine eigenen Maße hat. Gute Architektur hat diese Maße getroffen, schlechte Architektur hat sie verfehlt. Es gibt demnach einen
Spielraum, innerhalb dessen das rechte Maß gefunden werden kann. Könnte man dieses Maß mit Hilfe des Zollstockes ermitteln, so gäbe es keine schlechte, es gäbe aber auch keine gute Architektur.
Die griechische Kunsttheorie hat sich zur Bestimmung der rechten Maße in der Architektur wie in der Musik auf die mathematische Proportionenlehre gestützt und einen Kanon der Ausmessungen von
Gebäuden entwickelt, der, durch Vitruv überliefert, für die gesamte europäische Architektur bis tief in das 19., ja sogar das 20. Jahrhundert hinein verbindlich blieb. Maß wird hier nicht als
einfache, ein für allemal festgelegte Größe sondern als Verhältnis zwischen dem Ganzen und seinen Teilen bestimmt – ein Verhältnis, das sich in den verschiedenartigsten Gebäuden gleich bleiben
kann, mögen ihre Meßwerte noch so sehr voneinander abweichen. Man kann für die gesamte europäische Kunst, einschließlich der Poetik und Rhetorik, eine gemeinsame „Syntax“ der Maßverhältnisse
aufweisen, die auf dieser griechischen Proportionenlehre beruht. Nun ist es zwar möglich, durch Messungen zu errechnen, ob die nach unseren Meßwerten festgestellten Zahlen diesen Proportionen
entsprechen. Dazu muß aber die Proportionenlehre schon vorgegeben sein. Die Proportionen sind jedoch nur ein bestimmtes, das durch die Griechen geprägte Beispiel für Maße. Andere Kulturen haben
sich bei ihren Bauten und in ihren übrigen Kunstwerken anderer Maßverhältnisse bedient. Wodurch bestimmt sich ein, mathematisch so oder so darzustellendes, Verhältnis als „Maß“?
Wir sagten: Maße seien die Elemente der Ordnung eines Oikos. Ein Gebäude hat dann die rechten Maße, wenn es dem Leben, das seinem Schutze anvertraut ist, eine Ordnung gibt, in der es gedeiht.
Untersucht man die Ordnungen des Lebens, so geht es immer um den Ausgleich einander widerstrebender Tendenzen und Kräfte. Es geht um die Herstellung von Gleichgewichten zwischen dynamischen
Verhältnissen, in denen sich die Rhythmik der Lebensvorgänge gestaltet. Die mathematische Proportionenlehre ist bei den Griechen das Modell für ein solches Spannungs-gleichgewicht widerstrebiger
Kräfte. Deshalb diente sie in der Medizin zur Darstellung der immanenten Struktur eines Zustandes, den wir „Gesundheit“ nennen; deshalb haben Platon und Aristoteles mit ihrer Hilfe die
Gerechtigkeit definiert und zu zeigen versucht, welche Ordnung der Maßverhältnisse ein Staat einhalten muß, wenn er Bestand haben soll. Auch dem Entwurf der kosmischen Ordnung liegt die
Proportionenlehre zugrunde. Daraus erklärt sich, daß in der Lehre von der „Harmonie der Sphären“ die Musiktheorie auf die Astronomie übertragen wird. Der europäische Versuch, die Ordnung der
Natur und die Ordnungen der Menschen auf die griechische Proportionenlehre zu gründen, hat bis Kepler getragen; dann ist er gescheitert. Der Rausch der Emanzipation von diesen Maßen war seit dem
18. Jahrhundert einer der mächtigsten Impulse für die Evolution der modernen Zivilisation. Heute haben wir zu lernen, daß die Befreiung aus einer bestimmten Ordnung der Maßverhältnisse uns nicht
von dem Gesetz entbindet, daß Leben nur in Maßen möglich ist. Wir entdecken, daß die Maße der griechischen Proportionenlehre zwar ein bestimmtes Beispiel aber nicht die einzige Möglichkeit für
eine Ordnung der Maße sind. Tritt man aus ihrem Kosmos heraus, so wird man nicht in eine Sphäre der Maßlosigkeit, wohl aber wird man in einen uns noch unbekannten Raum versetzt. Wir müssen neue
Maße suchen. Zuvor müssen wir aber wieder lernen, was „Maß“ überhaupt ist. Das führt uns zu den Griechen zurück.
Die Welterfahrung, die sich in der Religion, der Dichtung, der Kunst, dem Recht, der Philosophie und der Ethik der Griechen ausspricht, ist primär die Erfahrung von Maßen. Dies kann hier nicht
dargestellt werden. Wir setzen dort ein, wo die Erkenntnis der wahren Maße der Natur, die auch die Götter umschloß, für die erwachende Skepsis zum Problem wird, bei dem berühmten Satze des
Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, wie sie sind, und der nicht seienden, wie sie nicht sind.“ (VS 89 B1) Erläutert wird dieser Satz durch den parallel gebauten Satz aus
einem anderen Buch desselben Autors: „Über die Götter vermag ich nicht zu wissen weder, wie sie sind, noch, wie sie nicht sind, noch wie beschaffen sie sind an Gestalt; denn Vieles gibt es, was
das Wissen behindert: ihre Verborgenheit, und daß das Leben der Menschen kurz ist.“ (B 4) Der zweite Satz spricht die Begründung für die besonnene Skepsis des ersten aus. Die Sterblichkeit setzt
jene Grenze, die den Menschen verhindert, die Götter und alles andere, was in der Physis ist, zu erkennen. Die Sterblichkeit setzt dem Menschen sein Maß, und dieses Maß ist der Wahrheit
unan-gemessen. Wir erfassen deshalb ein Jegliches nur, wie es uns innerhalb unserer Maße erscheint: „Wie ein Jegliches mir erscheint, so ist es für mich.“ (Platon, Theaitet 152 A) Dieses Maß hat
nach Protagoras seine eigene Perspektive: Wir erfassen alles, was sich uns zeigt, im Hinblick darauf, wozu wir es brauchen können. Maßgebend für unser Auffassen des Wirklichen ist unsere
Bedürftigkeit (chreia). Deswegen erscheinen uns die „Dinge„ nicht als das Seiende, was sie von sich aus sind, sondern als „chremata“, als Gebrauchsdinge. In seiner Kulturtheorie zeigt Protagoras,
daß wie die Bedürfnisse so auch die Perspektiven, unter denen die Menschen sehen, was ihnen als förderlich erscheint, von Land zu Land, von Region zu Region, je nach den herrschenden Bedingungen
wechseln. Für die Einen ist dies, für die Anderen jenes das „Gute“, also das, was ihrer Erhaltung dient. Keine Kultur ist berechtigt, ihre eigenen Maße als absolute Maße auszugeben. Wir können
nur sagen, daß ohne Maße Kultur überhaupt nicht möglich ist. Das ist eine „ökologische“ Argumentation. Sie demonstriert in einem einzigen Gedankengang sowohl die Unentbehrlichkeit der Maße wie
die Unmöglichkeit, sie absolut zu erkennen.
Protagoras hat der Schrift, in der sein „homo mensura-Satz“ stand, den Titel gegeben: „Aletheia oder die nieder-werfenden Reden“. Das, was er wie ein Ringer niederwerfen wollte, war die „Physik“
der großen Vorsokratiker. Hingegen steht seine skeptische Resignation, die sich nicht vermißt, die Grenzen der Sterblichkeit zu durchbrechen, in vollem Einklang mit den Grundüberzeugungen der
griechischen Volksreligion. Er war nicht jener „Atheist“, als der er später ausgegeben wurde. Sein Satz spricht über die Grenzen, nicht über die unbedingte Vollmacht des Menschen. Als aber später
die europäische Neuzeit unter völlig veränderten geschichtlichen Bedingungen den „homo mensura-Satz“ zum versteckten Prinzip ihres Kultur- und Geschichtsverständnisses machte, wurde dessen Sinn
in sein Gegenteil verkehrt. Der Mensch erklärt sich nun selbst zum Subjekt alles dessen, was gemessen werden kann und nimmt auf Grund seiner Autonomie die unbeschränkte Verfügungsgewalt über
alles, was ihm in der Natur als „chrema“, das heißt als Rohstoff für seine Produktion zugänglich ist, in Anspruch. Jetzt bedeutet der Satz: „der Mensch ist aller Dinge Maß“, daß der Mensch alle
Dinge den von ihm gesetzten Meßwerten unterwirft. Er legt die Meßwerte fest und regelt sie. Daß die Natur eigene, ihr immanente Maße haben könnte, wird nicht mehr in Erwägung gezogen. Das Messen
des Menschen beginnt die Erkenntnis der Maße zu überwuchern. Die Bedeutung des Wortes „chrema“ verschiebt sich, der „homo mensura-Satz“ meint jetzt: das Bemessen alles Verfügbaren liegt im
Ermessen des Menschen.
Platon hat in seinem Spätwerk. den „Gesetzen“, seinen Widerspruch gegen Protagoras in einem Satz formuliert, in dem sich seine Naturphilosophie, seine politische Philosophie, seine Ethik und
seine Erkenntnislehre zusammenschließen: „Der Gott also dürfte wohl für uns aller chremata Maß sein im höchsten Grade, und sehr viel mehr als wohl, wie man behauptet, irgendein Mensch.“ (Nomoi
716 Cl Was heißt jetzt „Maß“? Wie die Menschen dazu gelangen konnten, ihre Maße zu entdecken, hat Platon im „Staat“ untersucht. Er geht wie Protagoras davon aus, daß die Bedürftigkeit das Leben
der Menschen regiert. In der Seele korrespondiert der Bedürftigkeit das Begehrungsvermögen. Es ist die Grundbestimmung des Lebens überhaupt, weil lebende Arten sich durch Nahrung und Paarung
erhalten. Die Macht der Triebe, die, direkt oder indirekt, im Begehrungsvermögen ihren Ursprung haben, erklärt sich daraus, daß die Menschen als Lebewesen der Allgewalt der Bedürftigkeit
unterworfen sind. Aber sie vermögen sich durch ihre demiurgischen Künste der nackten Notdurft zu entziehen und komplizierte Kultursysteme zu errichten, in denen sich für ihre Begierden ganz neue
Felder und Möglichkeiten eröffnen. Sie leben nun im Überfluß. dem Begehrungsvermögen sind nicht mehr durch die Notdurft Grenzen gezogen. Es wird in seiner Eigendynamik freigesetzt; und dabei
zeigt sich, daß es aus sich selbst heraus weder Maße noch Grenzen kennt, sondern zu einer schrankenlosen Expansion der Bedürfnisse und der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Machtmittel
drängt. Das führt nach außen hin zum Krieg, nach innen hin zu einem Widerstreit der Interessen, der die Zerstörung des Gemeinwesens zur Folge haben muß. Aus diesem unaufhaltsamen Prozeß läßt sich
lernen, daß die immanente Maßlosigkeit der Bedürfnisse, der Ansprüche und der Begierden zur Zerstörung der Oikoi und damit auch zur Selbstzerstörung der von ihnen angetriebenen Individuen führt;
es läßt sich lernen, daß das menschliche Leben an die Einhaltung von Maßverhältnissen gebunden ist, die menschlicher Verfügungsgewalt entzogen sind und von den Menschen selbst nicht gesetzt
werden können. Die Erhaltung der Menschen hängt dann davon ab, ob sie fähig sind, die ihnen unverfügbaren Machtverhältnisse der Natur zu erkennen und sich in sie zu schicken.
Die Maße, innerhalb deren die Menschen sich zu entfalten vermögen, werden ihnen durch ihre Stellung in der Physis zugewiesen. Sie müssen also die Physis im Ganzen erkennen, wenn sie entdecken
wollen, was für sie selbst das Gute, das Förderliche und das Heilsame ist. So werden Ökonomie, Politik und Ethik durch ihre eigene Fragestellung, nämlich durch die Untersuchung dessen, was für
die Menschen jeweils das Gute ist, zum Übergang in die Physik genötigt. Das Bindeglied ist der Begriff des Maßes.
Innerhalb des Kosmos erkennen wir Maße in jener Sphäre, die Platon allgemein durch den polaren Ausdruck „genesis kai phthora“ – Entstehen und Vergehen – bezeichnet. Alles, was dieser Sphäre
angehört, hat in sich selbst eine labile Struktur und unterliegt Einwirkungen von außen, die es befördern aber auch gefährden können. Es bewegt sich in einem Spielraum, innerhalb dessen es das,
was es ist, in höherem und geringerem Grade sein kann. Platon hat diesem Sachverhalt einen abstrakten Namen gegeben; er nennt das Medium des Entstehens und Vergehens allgemein das „mehr-weniger“
(mallon-hetton). Überall, wo sich ein „mehr-weniger“ aufweisen läßt, also in der gesamten organischen Natur, gibt es ein relatives Optimum. Es liegt in der Mitte zwischen dem Zuviel und dem
Zuwenig. Dieses relative Optimum heißt „metron“ – Maß. Der Bauer, der Hirte, der Arzt, der Erzieher, der Gesetzgeber, der Politiker müssen dieses relative Optimum vor Augen haben, wenn sie auf
rechte Weise für die Erhaltung der Pflanzen, Tiere, Menschen und Gemeinwesen sorgen wollen. Aber auch den Kosmos verstehen wir nur, wenn wir erkennen, daß er eine Ordnung ist, die durch ihre
immanenten Maße ermöglicht und im Sein gehalten wird. Der Ursprung aller Maße überhaupt, also das Maß-Gebende schlechthin, nennt Platon, wo er philosophisch spricht, „die Idee des Guten“; im
exoterischen Text der „Gesetze“ sagt er dafür schlicht: „der Gott“. Die Idee des Guten kommt in den Maßen zur Erscheinung und erhält alles das im Sein, was in seinen spezifischen Maßen verbleibt,
was also „in seinem Maße“ – emetron – ist. Was hingegen in Richtung auf das Zuviel oder das Zuwenig aus seinem Maß heraustritt – das ametron – geht zugrunde und erweist eben dadurch, daß es
untergeht, die Wahrheit und Unverfügbarkeit der Maße. Das „Wachstum“ von dem die Physis ihren Namen hat, ist eine Evolution die sich nicht expansiv in Richtung auf ein Maximum, sondern intensiv
in Richtung auf das nie ganz zu erfüllende Optimum bewegt. Wenn die moderne Evolutionstheorie die Evolution als Komplexitätssteigerung beschreibt, steht sie im Einklang mit diesem griechischen
Gedanken; denn der Zwang zur Steigerung der Komplexität ergibt sich im Prozeß der Selektion überall dort, wo expansives Wachstum an seine Grenzen stößt. Komplex sind Strukturen durch die Vielzahl
der in ihnen zum Ausgleich gebrachten Gleichgewichtsverhältnisse, also durch ihren Reichtum an immanenten Maßen.
Daß, wenn überhaupt irgendetwas. dann die Maße die „Elemente“ der Natur sind, ist eine Grundlehre der bis heute nicht „überholten„ Naturphilosophie des Heraklit: „Diesen Kosmos (= Ordnung) hat
weder einer der Götter noch der Mensch hervorgebracht, sondern er war immer und ist und wird sein: ewig lebendes Feuer, sich entzündend in Maßen und verlöschend in Maßen.“ (VS 22 B 30) Wir können
dieses Fragment hier nicht interpretieren; einige Hinweise mögen genügen. Die Worte „sich entzündend“ und „verlöschend“ bezeichnen das Entstehen und Vergehen als Abläufe in der Zeit. Wir sind
gewohnt, jedem Entstehen und Vergehen ein Subjekt zu substituieren, das sich entweder auf der auf-steigenden Kurve des Entstehens oder der absteigenden des Vergehens befindet. Dann sind Entstehen
und Vergehen zwei aufeinander folgende Phasen desselben Verlaufes. Die Stoiker haben auch Heraklit so gedeutet und aus diesem Fragment die Theorie eines periodischen Weltbrandes herausgelesen.
Das widerspricht aber seinem Wortlaut; die „ewig lebendes Feuer“ genannte Weltordnung „war immer und ist und wird sein“. Sie ist unvergänglich und wird als „ewig lebendes Feuer„ beschrieben, weil
sie wie die Flamme des Feuers dadurch lebt, daß sie immer zugleich sowohl sich entzündet wie verlöscht. Entstehen ist in sich selbst Verlöschen, Vergehen in sich selbst ein Sich-Entfachen. Modern
gesprochen: Negativität ist das innere Wesen der Positivität, Positivität ist das innere Wesen der Negativität. Dies beschreibt die Beschaffenheit der alles aus sich hervorbringenden und alles in
sich verschlingenden Zeit; was sich in ihr befindet, hat die Eigenschaft, sowohl zu „sein„ als auch nicht zu „sein“. Sophokles hat dieselbe Erfahrung in den Versen ausgesprochen: „Alles läßt die
lange und unabzählbare Zeit aufwachsen, das Verhüllte, und das Erschienene verbirgt sie.“ (Aas 646/47)
Wo Heraklit von „sich entzünden“ spricht, gebraucht Sophokles das Wort „aufwachsen lassen„ (phyein). Das erläutert das griechische Wort „physis“, das die Römer durch „natura“ übersetzt haben. Wo
Heraklit von „verlöschen“ spricht, sagt Sophokles: „Das Erschienene verbirgt sie.“ Das gibt uns einen Hinweis auf die Bedeutung des Vergleiches mit dem Feuer. Das Wesen des Feuers liegt, wie wir
unmittelbar wahrnehmen können, in seinem Licht und seiner Glut. Das Licht bringt zur Erscheinung – es manifestiert – es läßt unverborgen sein. Die Glut verzehrt, sie bringt zum Verschwinden, sie
verbirgt. Glut ist also der „Gegensatz“ des Lichtes, aber im Feuer sind die Gegensätze vereinigt. Was sich in Licht und Glut zugleich manifestiert, das lebt. Wenn wir abstrakt und blaß vom
„Werden„ und „Vergehen„ sprechen, blenden wir aus, was Beides möglich macht: das Feuer der sich immer manifestierenden und sich zugleich immer verbergenden Wahrheit. Aletheia – die
Un-verborgenheit – ist das Wesen der Physis, wenn sie nach Sophokles das Verhüllte auf-wachsen läßt und das Erschienene verbirgt. Aletheia ist das Wesen des Feuers, wenn es zugleich sich
entzündet und verlischt. Bei Sophokles heißt das Subjekt des Satzes „die lange und unabzählbare Zeit“. Bei Heraklit steht an der gleichen Stelle das Wort „Kosmos„ = Ordnung. Sophokles sieht als
ein „Nacheinander“, was Heraklit als „Immer-zugleich“ erfährt. Das eine schließt aber das andere nicht aus, denn die Worte: „Sie war immer und ist und wird sein“ besagen im Text von Heraklit, daß
in dem ewig lebenden Feuer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft immer zugleich sind. In jedem Augenblick muß der Ausgleich zwischen den drei Modi der Zeit neu hergestellt werden. Daraus erklärt
sich, daß das Leben des Feuers sich nur in Maßen entzünden, nur in Maßen verlöschen kann; in jedem Augenblick muß der Ausgleich zwischen dem Auseinanderstreben von Zukunft und Vergangenheit
gefunden werden. Die Ordnung ist selbst-ewig lebendes Feuer. Das Feuer ist aus sich selbst heraus Ordnung. Die Maße sind die Elemente dieser Ordnung; sie sind eben deshalb die immanenten Elemente
der Natur.
Wieder abgedruckt in:
Georg Picht, Das richtige Maß finden. Der Weg des Menschen ins 21. Jahrhundert, Hrsg. von Carl Friedrich von Weizsäcker und Constanze Eisenbart mit einem Vorwort von Carl Friedrich von
Weizsäcker, Freiburg: Herder 2001,
S. 14 - 25.