Der Neoliberalismus wird am häufigsten so verstanden, dass er eine Gesamtheit wirtschaftspolitischer Maßnahmen in Übereinstimmung mit seinem Grundprinzip – der Behauptung freier Märkte – in Kraft setzt. Verstärkte Ungleichheit, krasse Vermarktung und Kommerz, stetig steigender Einfluss von Unternehmen auf die Regierung, ökonomische Verwüstungen und Instabilität – gewiss sind all diese Dinge Folgen neoliberaler Politik, und alle sind maßgeblich für Ablehnung oder Volksproteste. Im Folgenden wird der Neoliberalismus jedoch etwas anders formuliert, konzentriere ich mich auf andere schädliche Wirkungen.
Im Gegensatz zu einem Verständnis des Neoliberalismus als einer Menge staatspolitischer Maßnahmen, einer Phase des Kapitalismus oder einer Ideologie, die den Markt entfesselt hat, um die Rentabilität für eine Klasse von Kapitalisten wiederherzustellen, schließe ich mich Michel Foucault und anderen an und begreife den Neoliberalismus als eine Ordnung normativer Vernunft, die, wenn sie an Einfluss gewinnt, die Form einer Regierungsrationalität annimmt und eine bestimmte Formulierung ökonomischer Werte, Praktiken und Metriken auf jede Dimension des menschlichen Lebens ausdehnt.[1]
Über die bloße Imprägnierung der Bedeutung oder des Inhalts von Demokratie mit Marktwerten hinaus greift der Neoliberalismus die Prinzipien, Praktiken, Kulturen, Subjekte und Institutionen der Demokratie im Sinne der Herrschaft durch das Volk an. Und über das bloße Wegschneiden des Fleisches der liberalen Demokratie hinaus ätzt der Neoliberalismus auch noch die radikaleren Ausdrucksformen der Demokratie weg, jene, die sich hie und da in der gesamten euroatlantischen Moderne Geltung verschaffen und mit robusteren Auffassungen von Freiheit, Gleichheit und Herrschaft des Volkes für ihre Zukunft kämpfen, als es die liberale Ausgestaltung der Demokratie zu tun vermag.
In dem Maße, wie sich eine derartige normative Ordnung der Vernunft über drei Jahrzehnte hinweg zu einer weit und tief verbreiteten Regierungsrationalität entwickelte, verwandelt der Neoliberalismus jeden Bereich und jedes Unterfangen des Menschen gemäß einem bestimmten Bild des Ökonomischen. Jedes Verhalten ist ökonomisches Verhalten; alle Bereiche des Lebens werden in ökonomischen Begriffen erfasst und gemessen, auch wenn diese Bereiche nicht direkt monetarisiert werden. Die charakteristische Signatur der neoliberalen Rationalität ist somit eine weit ausgedehnte Ökonomisierung von bislang nichtökonomischen Bereichen, Tätigkeiten und Themen, aber nicht notwendigerweise ihre Vermarktlichung oder Monetarisierung.
„Ökonomisierung” ist jedoch selbst ein weiter Begriff ohne einen konstanten Inhalt im Hinblick auf verschiedene historische und räumliche Erscheinungsformen von „Wirtschaft“. Wenn man sagt, dass der Neoliberalismus Subjekte als schonungslos ökonomische Akteure auffasst, dann erfahren wir nichts darüber, in welchen Rollen sie auftreten. Als Produzenten? Händler? Unternehmer? Konsumenten? Investoren?
Ebenso könnte sich die Ökonomisierung von Gesellschaft und Politik auch anhand des Modells des Haushalts, einer Nation von Arbeitskräften, einer Nation von Kunden oder Konsumenten oder einer Welt aus Humankapital vollziehen. Und das sind nur einige der Möglichkeiten, die die Ökonomisierung in den jüngsten Geschichten des Staatssozialismus, der Sozialstaatlichkeit, der Demokratie, des Nationalsozialismus und des Neoliberalismus realisiert hat. Tatsächlich behauptete Carl Schmitt, dass die liberale Demokratie bereits eine Form der Ökonomisierung des Staats und des Politischen sei, und für Hannah Arendt und Claude Lefort war die Ökonomisierung von Gesellschaft, Politik und Mensch eine Signatur des Marxismus in Theorie und Praxis.[2]
Was ist also charakteristisch für die neoliberale Ökonomisierung?
Ein Teil der Geschichte betrifft den vergrößerten Bereich der Ökonomisierung – sie ergreift Praktiken und verborgene Wünsche, die bislang unvorstellbar waren. Aber der Wandel ist mehr als nur graduell. Die heutige neoliberale Rationalität mobilisiert keine zeitlose Gestalt des ökonomischen Menschen und vergrößert nicht einfach ihren Einflussbereich.
Innerhalb der neoliberalen Vernunft und in den Bereichen, die von ihr beherrscht werden, sind wir bloß noch und überall Exemplare des Homo oeconomicus, der selbst eine historisch spezifische Form hat. Das bedeutet, dass der Homo oeconomicus über die Jahrhunderte hinweg keine konstante Gestalt und Haltung besitzt.
Vor zweihundertfünfzig Jahren war die Figur, die Adam Smith bekanntlich gezeichnet hatte, die eines Händlers oder Kaufmanns, der anhand von Tauschgeschäften unnachgiebig seine eigenen Interessen verfolgte. Vor zweihundert Jahren wurde das Prinzip des Homo oeconomicus von Jeremy Bentham als Vermeidung von Schmerz und das Verfolgen von Lust oder endlosen Kosten-Nutzen-Berechnungen neu gefasst. Vor dreißig Jahren, im Morgengrauen des neoliberalen Zeitalters, war der Homo oeconomicus immer noch durch sein Interesse und sein Gewinnstreben ausgerichtet, machte sich aber nun auf Schritt und Tritt zum Unternehmer und wurde als Humankapital bestimmt. Wie Foucault es ausdrückt, war das Subjekt jetzt der Ausbreitung und Vervielfachung der Unternehmensform innerhalb des Gesellschaftskörpers unterworfen.[3]
Heute dagegen unterhält der Homo oeconomicus zwar Aspekte dieses Unternehmertums, wurde jedoch als finanzialisiertes Humankapital bedeutend umgeformt: Sein Vorhaben besteht darin, auf solche Weise in sich selbst zu investieren, dass dadurch sein Wert gesteigert wird, oder Investoren durch die ständige Aufmerksamkeit auf seine wirkliche oder symbolische Kreditwürdigkeit anzuziehen und das in jedem Lebensbereich zu tun.[4]
Die heutige „Ökonomisierung” der Subjekte durch die neoliberale Rationalität ist somit auf mindestens dreierlei Weise charakteristisch.
Erstens sind wir im Gegensatz zum klassischen ökonomischen Liberalismus überall Homo oeconomicus und nur Homo oeconomicus. Das ist eine der Neuheiten, die der Neoliberalismus in das politische und gesellschaftliche Denken einführt, und gehört zu seinen subversivsten Elementen. Adam Smith, Nassau Senior, Jean-Baptiste Say, David Ricardo und James Steuart widmeten der Beziehung zwischen dem wirtschaftlichen und dem politischen Leben große Aufmerksamkeit, ohne jemals das Letztere auf Ersteres zu reduzieren oder sich vorzustellen, dass die Ökonomie andere Lebensbereiche in und durch ihre eigenen Begriffe und Metriken umwandeln könnte.[5] Manche gingen sogar so weit und benannten die Gefahr oder die Unschicklichkeit, der Wirtschaft einen zu großen Einfluss auf das politische oder gar auf das moralische oder ethische Leben einzuräumen.
Zweitens nimmt der neoliberale Homo oeconomicus seine Gestalt als Humankapital an, das danach strebt, seine Wettbewerbspositionierung zu stärken und seinen Wert zu steigern anstatt als Figur des Austauschs oder Interesses. Auch das ist neu und unterscheidet das neoliberale Subjekt vom Subjekt, dessen Bild von klassischen oder neoklassischen Ökonomen gezeichnet wurde, aber auch von Jeremy Bentham, Karl Marx, Karl Polanyi oder Albert O. Hirschman.
Drittens und im Zusammenhang damit ist heute das spezifische Modell für Humankapital und seine Tätigkeitsbereiche zunehmend das des Finanz- und Investitionskapitals, und nicht nur des produktiven oder unternehmerischen Kapitals. Markthandel, der auf rentablen Tauschgeschäften und dem unternehmerischen Einsatz der eigenen Vermögenswerte und Bemühungen beruht, ist zwar noch nicht völlig verschwunden und bleibt ein Teil dessen, was das heutige Humankapital ist und tut. Zunehmend jedoch geht es, wie Michel Feher darlegt, dem Homo oeconomicus als Humankapital um die Steigerung seines Portfoliowerts in allen Lebensbereichen, eine Tätigkeit, die durch Praktiken der Investition in sich selbst und des Anziehens von Investoren realisiert wird.[6] Ob durch „follower”, „likes” und „retweets” sozialer Medien, durch Rankings und Ratings für jede Tätigkeit und jeden Bereich oder durch unmittelbare monetarisierte Praktiken, das Streben nach Bildung, Ausbildung, Freizeit, Fortpflanzung, Konsum und weiteren Dingen wird zunehmend als strategische Entscheidungen und Praktiken aufgefasst, die mit der Steigerung des zukünftigen Werts des zukünftigen Selbst zu tun haben.
Natürlich sind viele zeitgenössische Unternehmen auch weiterhin durch Interesse, Profit und Tauschgeschäfte auf Märkten ausgerichtet; die Kommodifizierung ist aus den kapitalistischen Wirtschaften nicht verschwunden und auch das Unternehmertum nicht. Der Punkt ist jedoch, dass das Finanzkapital und die Finanzialisierung ein neues Modell des ökonomischen Verhaltens hervorbringen, das sich nicht nur auf Investmentbanken oder Kapitalgesellschaften beschränkt. Selbst Unternehmen, die durch Kostensenkung, Entwicklung neuer Märkte oder Anpassung an sich ändernde Umgebungen auch weiterhin nach Gewinnen streben, verfolgen außerdem umsichtige Strategien des Risikomanagements, der Kapitalsteigerung, des wirksamen Einsatzes, der Spekulation und Praktiken, die Investoren anziehen und die Kreditwürdigkeit und den Portfoliowert steigern sollen.
Daher unterscheiden sich das Verhalten und die Subjektivität des Homo oeconomicus, die im Zeitalter des Finanzkapitals geformt werden, bedeutend vom Smithschen Handel und Austausch und vom Benthamschen Streben nach Lust und der Vermeidung von Schmerz. Während die neoliberale Rationalität den Menschen zu Humankapital umformt, wird eine frühere Fassung des Homo oeconomicus als Interessenmaximierer von einer Bestimmung des Subjekts als Mitglied eines Unternehmens und zugleich selbst als Unternehmen abgelöst, wobei es in beiden Fällen durch Steuerungspraktiken, die Unternehmen eigentümlich sind, angemessen geleitet wird. So ersetzen diese Praktiken sich ständig weiterentwickelnde neue Managementtechniken für eine von oben nach unten gerichtete Herrschaft sowohl im Staat, im Unternehmen als auch im Subjekt. Zentralisierte Autorität, Gesetz, Kontrolle, Regeln und Quoten werden durch vernetzte, teambasierte, praxisorientierte Techniken ersetzt, die Anreize, Richtlinien und Bezugsnormen betonen.
Wenn sich die Auffassung vom Menschen und von menschlichem Verhalten als Homo oeconomicus auf jeden Bereich ausbreitet, einschließlich des politischen Lebens selbst, wandelt sie nicht nur die Organisation, sondern auch den Zweck und Charakter jedes Bereichs sowie ihre Beziehungen untereinander radikal um.
Im politischen Leben transponiert die Neoliberalisierung demokratische politische Prinzipien der Gerechtigkeit in eine ökonomische Sprache, verwandelt den Staat selbst in einen Manager der Nation nach dem Modell eines Unternehmens und höhlt einen Großteil der Substanz demokratischer Staatsbürgerschaft und sogar der Volkssouveränität aus. Daher besteht eine wichtige Auswirkung der Neoliberalisierung in der Bezwingung des ohnehin schon anämischen Homo politicus der liberalen Demokratie, eine Bezwingung mit gewaltigen Folgen für demokratische Institutionen, Kulturen und Vorstellungswelten.
Wie aber gelangen Menschen dahin, in allen Bereichen des Lebens als Homo oeconomicus und spezifischer noch als „Humankapital” zu erscheinen? Wie wird die charakteristische Form der Vernunft, die der Neoliberalismus ist, zu einer herrschenden Rationalität, die die Praktiken gewöhnlicher Institutionen und Diskurse des Alltagslebens durchdringt?
Obwohl die neoliberale Politik in den 1970er und 1980er Jahren häufig durch Anordnung und Gewalt aufgezwungen wurde, wird die Neoliberalisierung in der euroatlantischen Welt heute häufiger durch spezifische Regierungstechniken realisiert, durch Erfolgsmethoden und rechtliche Optimierungen, kurz durch „sanfte Gewalt”, die sich auf Konsens und Kooperation beruft anstatt durch Gewalt, diktatorische Befehle oder auch nur explizite politische Plattformen.
Der Neoliberalismus herrscht als raffinierter gesunder Menschenverstand, ein Realitätsprinzip, das Institutionen und Menschen überall umformt, wo es sich niederlässt, sich einnistet und Bestätigung erfährt. Natürlich gibt es auch handgreifliche Auseinandersetzungen, unter anderem Proteste und politische Auseinandersetzungen mit der Polizei, über die Privatisierung öffentlicher Güter, Gewerkschaftsfeindlichkeit, die Reduktion von Sozialleistungen, die Streichung öffentlicher Dienstleistungen und mehr. Aber die Neoliberalisierung ist im Allgemeinen eher termitenartig als löwenartig, ihr Vernunftmodus bohrt kapillarische Gänge in die Stämme und Zweige von Arbeitsplätzen, Schulen, öffentlichen Behörden, gesellschaftlichem und politischem Diskurs und vor allem des Subjekts. Nicht einmal die Termitenmetapher ist völlig passend: Foucault würde uns daran erinnern, dass jede aufsteigende politische Rationalität nicht nur zerstörerisch ist, sondern neue Subjekte, Verhaltensweisen, Beziehungen und Welten hervorbringt.
Innerhalb der neoliberalen Rationalität ist das Humankapital sowohl unser „Sein” als auch unser „Sollen” – als was wir gelten, was wir sein sollten und wozu uns die Rationalität durch ihre Normen und die Konstruktion von Umwelten macht.
Wir haben bereits gesehen, dass eine Hinsicht, in der der Neoliberalismus sich vom klassischen ökonomischen Liberalismus unterscheidet, darin besteht, dass alle Bereiche Märkte sind und wir überall als Marktakteure gelten. Ein weiterer Unterschied, der von Foucault unterstrichen wurde, ist, dass nach der neoliberalen Vernunft der Wettbewerb den Tauschhandel als Grundprinzip und elementares Gut des Marktes ersetzt.[7]
Dieser subtile Wandel vom Tauschhandel zum Wettbewerb als Wesen des Marktes bedeutet, dass alle Marktakteure als kleine Kapitalien konzipiert werden (und nicht als Eigentümer, Arbeiter und Konsumenten), die miteinander konkurrieren, anstatt Tauschhandel miteinander zu betreiben. Das konstante und allgegenwärtige Ziel des Humankapitals, ob es sich ums Studium, ein Praktikum, die Arbeit, die Planung des Ruhestands oder den Neuentwurf seiner selbst in einem neuen Leben handelt, besteht darin, seine Bemühungen als Unternehmen zu betrachten, seinen Wert zu steigern und sein Rating oder Ranking zu erhöhen. Darin spiegelt es den Auftrag für zeitgenössische Firmen, Länder, Hochschulinstitute oder Zeitschriften, Universitäten, Medien oder Websites wider: entrepreneurisieren, die Positionierung und den Wert im Wettbewerb steigern, Ratings oder Rankings maximieren.
Diese Gestalt des Menschlichen als eine Gesamtheit von unternehmerischem und Investitionskapital zeigt sich bei jeder Hochschul- und Stellenbewerbung, jedem Paket von Studienstrategien, jedem Praktikum, jedem neuen Fitness- und Diätprogramm. Die besten Universitätsgelehrten werden als unternehmerisch und investitionserfahren charakterisiert, und zwar nicht bloß im Hinblick auf die Beschaffung von Zuschüssen oder Stipendien, sondern im Hinblick auf die Generierung neuer Projekte und Veröffentlichungen anhand vormaliger Forschung, die Berechnung von Publikations- und Präsentationsorten und das Zirkulieren ihrer selbst und ihrer Arbeit gemäß dem, was ihren Wert steigern wird.
Diese Praxis der Vernetzung, die jetzt in allen Berufsbereichen so allgegenwärtig ist, ist eine Praxis, die Michel Feher „Anziehung von Investoren” nennt.[8] Diese Beispiele erinnern uns wieder daran, dass die Ausbreitung von Marktwerten und -metriken durch die neoliberale Rationalität auf neue Sphären nicht immer eine monetäre Form annimmt; vielmehr werden Bereiche, Personen und Praktiken auf Weisen ökonomisiert, die weit über die buchstäbliche Erzeugung von Wohlstand hinausgehen. Dieser Punkt wird für das Verständnis der neoliberalen Umgestaltung der Demokratie entscheidend sein.
Die Auffassung von Menschen als Humankapital hat viele Verzweigungen. Hier konzentriere ich mich nur auf diejenigen, die für meine Argumentation relevant sind.
Erstens sind wir nicht bloß für uns selbst Humankapital, sondern auch für den Betrieb, den Staat oder die postnationale Konstellation, deren Mitglieder wir sind. Auch wenn wir die Aufgabe haben, in einer Welt des Wettbewerbs mit anderen Humankapitalien für uns selbst verantwortlich zu sein, haben wir keine Garantie für Sicherheit, Schutz oder auch nur unser Überleben, insofern wir Humankapital für Unternehmen oder Staaten sind, denen es um ihre eigene Positionierung im Wettbewerb geht.
Ein Subjekt, das sowohl für sich selbst als auch für ein Unternehmen oder einen Staat als Humankapital aufgefasst und konstruiert wird, trägt beständig das Risiko des Scheiterns, der Arbeitslosigkeit und des Verlassenwerdens, ohne dass es selbst etwas dazu beiträgt, gleichgültig wie klug und verantwortlich es ist. Finanzkrisen, Stellenabbau, Outsourcen, Zwangsbeurlaubung – all diese Dinge und noch mehr können uns gefährden, auch wenn wir kluge und verantwortliche Investoren und Unternehmer gewesen sind. Diese Gefährdung reicht bis zum Minimalbedarf an Nahrung und Obdach hinunter, insofern alle Arten von Programmen zur sozialen Absicherung durch den Neoliberalismus abgebaut wurden.
Die Zerschlagung des Sozialen in unternehmerische und in sich selbst investierende Bruchstücke beseitigt Schutzschirme, die durch die Zugehörigkeit, sei es zu einem Plan für die Altersversorgung oder zu einer Bürgerschaft, sichergestellt wurden. Nur die Familienzuständigkeit bleibt ein akzeptabler sozialer Zufluchtsort, auch wenn die öffentliche Unterstützung des Familienlebens selbst, von erschwinglichen Wohnungen bis zur Bildung, vom Neoliberalismus abgebaut worden ist.
Außerdem haben Humankapitalien im Hinblick auf ihre politische und moralische Bedeutung nicht den Stellenwert Kantscher Individuen, die Zwecke an sich sind und intrinsischen Wert besitzen. Auch sind mit dem Humankapital keine spezifischen politischen Rechte verbunden; ihr Status wird immer unklarer und unzusammenhängender. Rechte können selbst ökonomisiert werden und eine massive Umgestaltung in ihrer Bedeutung und Anwendung erfahren. Als Humankapital ist das Subjekt zugleich mit sich selbst betraut, für sich selbst verantwortlich und doch auch ein instrumentalisierbarer und potentiell entbehrlicher Bestandteil des Ganzen. In dieser Hinsicht wird der liberal-demokratische Gesellschaftsvertrag völlig umgekrempelt.
Zweitens ist die Ungleichheit, und nicht die Gleichheit, das Medium und die Beziehung konkurrierender Kapitalien. Wenn wir in all unseren Handlungen und überall als Humankapital gelten, hört die Gleichheit auf, unsere mutmaßliche natürliche Beziehung untereinander zu sein. Die Gleichheit ist somit nicht länger ein Apriori oder Fundament der neoliberalisierten Demokratie. In der Gesetzgebung, in der Rechtsprechung und der Vorstellungswelt des Volkes wird die Ungleichheit zu etwas Normalem oder gar Normativem. Eine Demokratie, die aus Humankapital besteht, weist Gewinner und Verlierer auf und nicht Gleichbehandlung oder gleichen Schutz. Auch in dieser Hinsicht wird der Gesellschaftsvertrag umgekrempelt.
Drittens, wenn alles Kapital ist, verschwindet die Arbeiterschaft als Kategorie ebenso wie ihre kollektive Form, die Klasse, und nimmt die analytische Grundlage für Entfremdung, Ausbeutung und Zusammenschluss unter Arbeitern mit sich. Zugleich wird das eigentliche Grundprinzip für Gewerkschaften, Konsumentengruppen und andere Formen wirtschaftlicher Solidarität neben Kartellen unter den Kapitalien demontiert. Das bereitet den Weg für die Infragestellung mehrerer Jahrhunderte der Arbeitsgesetzgebung und anderer Schutzmaßnahmen und Sozialleistungen in der euroatlantischen Welt und – was vielleicht genauso wichtig ist – macht die Grundlagen solcher Schutzmaßnahmen und Sozialleistungen unlesbar.
Ein Beispiel für diese Unlesbarkeit ist die wachsende, weitverbreitete Opposition gegen Altersrenten, Arbeitsplatz-sicherheit, bezahlten Urlaub und andere schwer erkämpfte Leistungen durch Arbeitskräfte im öffentlichen Dienst. Ein anderes Maß dafür ist die fehlende Empathie für die Auswirkungen lebensbedrohlicher Sparmaßnahmen, die den Südeuropäern inmitten der Krisen der Europäischen Union auferlegt wurden. Die berüchtigte Rede der deutschen Kanzlerin Merkel über die „faulen Griechen” während dieser Krise war nicht nur bedeutsam für die Anheizung reaktionärer populistischer Gefühle in Nordeuropa, sondern auch dafür, die Forderung, dass spanische, portugiesische und griechische Arbeiter kein angenehmes Leben oder einen ebensolchen Ruhestand genießen sollten, als gesunden Menschenverstand auszugeben.[9]
Viertens, wenn es nur den Homo oeconomicus gibt und wenn der Bereich des Politischen selbst in ökonomischen Begriffen gefasst wird, dann verschwindet auch die Grundlage für die Staatsbürgerschaft, die sich um öffentliche Dinge und das gemeinsame Wohl kümmert. Hier besteht das Problem nicht einfach nur darin, dass öffentliche Güter nicht mehr finanziert und gemeinsame Zwecke von der neoliberalen Vernunft entwertet werden, obwohl das der Fall ist, sondern dass die Staatsbürgerschaft selbst ihre politische Valenz und ihren politischen Ort verliert.
Valenz: Der Homo oeconomicus betrachtet alles als Markt und kennt nur Marktverhalten; öffentliche Zwecke oder gemeinsame Probleme kann er sich nicht auf eindeutig politische Weise vorstellen. Ort: Das politische Leben und insbesondere der Staat werden von der neoliberalen Rationalität umgestaltet.
Die Ersetzung des Staatsbürgerseins, bestimmt als Sorge um das öffentliche Wohl, durch ein Staatsbürgersein, das auf den Bürger als Homo oeconomicus reduziert ist, beseitigt auch die eigentliche Idee eines Volkes, eines Demos, das seine kollektive politische Souveränität behauptet.
Während der Neoliberalismus Krieg gegen öffentliche Güter und die eigentliche Idee einer Öffentlichkeit führt, einschließlich der über die Mitgliedschaft hinausgehenden Staatsbürgerschaft, dünnt er auf drastische Weise das öffentliche Leben aus, ohne die Politik zu töten. Es bleiben Kämpfe um Macht, hegemoniale Werte, Ressourcen und zukünftige Entwicklungen.
Dieses Fortbestehen der Politik inmitten der Zerstörung des öffentlichen Lebens und insbesondere des gebildeten öffentlichen Lebens in Kombination mit der Vermarktlichung der politischen Sphäre ist ein Teil dessen, was die heutige Politik besonders unattraktiv und schädlich macht – sie ist voller Phrasendrescherei und Posen, es fehlt ihr an intellektueller Ernsthaftigkeit, sie appelliert an eine ungebildete und manipulierbare Wählerschaft und Medien-unternehmen, die prominenz- und skandalhungrig sind. Der Neoliberalismus erzeugt einen Zustand der Politik, in dem demokratische Institutionen fehlen, die eine demokratische Öffentlichkeit und alles, was eine solche Öffentlichkeit im günstigsten Fall darstellt, unterstützen würden: aufgeklärte Leidenschaft, umsichtige Überlegungen, Streben nach Souveränität, deutliche Einschränkung der Mächte, die sie außer Kraft setzen und untergraben würden.
Fünftens, in dem Maße, wie die Legitimität und Aufgabe des Staats ausschließlich durch Wirtschaftswachstum, globale Wettbewerbsfähigkeit und die Aufrechterhaltung einer hohen Bonität bestimmt wird, weichen liberal-demokratische Gerechtigkeitsanliegen zurück. Die Wirtschaft wird zum organisierenden und regulativen Prinzip des Staats und postnationaler Gebilde wie der Europäischen Union. Das wurde durch Obamas Rede zur Lage der Nation vom Januar 2013 deutlich: Gerechtigkeit, Frieden oder Nachhaltigkeit mit Bezug auf die Umwelt können nur in dem Maße verfolgt werden, wie sie ökonomische Zwecke fördern. Es wurde auch durch die Rettungsaktionen der EU in Südeuropa unterstrichen: Das Wohlergehen von Millionen wurde geopfert, um Schuldenausfälle und Währungsabwertungen abzuwenden – so sieht das Schicksal der Staatsbürgerschaft aus, die in Humankapital umgewandelt wurde. Nicht geschlossene öffentliche Dienste, sondern die Auswirkung auf die Börse, auf Amerikas Bonität und auf die Wachstumsrate beherrschten die Sorge der Experten um die Manövrierunfähigkeit der Regierung im Herbst 2013 und den Aufruhr im Kongress angesichts der Anhebung der Schuldenobergrenze.
Der Erfolg der neoliberalen Rationalität bei der Umgestaltung des Staatsbürgerseins und des Subjekts wird durch das Fehlen einer empörten Reaktion auf die neue Rolle des Staats bei der Priorisierung, der Bedienung und der Stützung einer vermeintlich freien Marktwirtschaft angezeigt. Die Ökonomisierung von allem und allen Bereichen, einschließlich des politischen Lebens, macht uns weniger empfindlich für den krassen Widerspruch zwischen einer vermeintlich freien Marktwirtschaft und einem Staat, der jetzt voll und ganz in ihrem Dienst steht und von ihr kontrolliert wird. In dem Maße, wie der Staat selbst in all seinen eigenen Funktionen von einer Marktrationalität privatisiert, umfasst und beseelt wird und wie seine Legitimität zunehmend auf der Erleichterung, Rettung oder Steuerung der Wirtschaft beruht, wird er gemessen wie jede andere Firma auch. Tatsächlich besteht eine der Paradoxien der neoliberalen Umwandlung des Staats darin, dass er zwar nach dem Modell der Firma umgestaltet wird, obwohl er gezwungen ist, einer Wirtschaft zu dienen und sie zu erleichtern, die er nicht anrühren, geschweige denn in Frage stellen soll.
Das Fehlen einer empörten Reaktion auf die Rolle des Staats bei der Stützung von Kapital und der Degradierung von Gerechtigkeit und dem Wohlergehen der Bürger ist auch der Effekt der Umwandlung der Grundprinzipien der Demokratie durch den Neoliberalismus von einer politischen zu einer ökonomischen Bedeutungsordnung. Mehr als nur degradiert zu werden, wird die Realisierung der Gerechtigkeitsprinzipien durch den Staat von der neoliberalen Rationalität umgewandelt, wenn in Foucaults Worten „der Neoliberalismus die globale Ausübung der politischen Macht anhand von Prinzipien einer Marktwirtschaft regeln kann [...] und das ökonomische Raster die Prüfung des Regulierungshandelns und die Bemessung seiner Gültigkeit ermöglichen kann und soll”.[10] Wenn eine solche Ökonomisierung den Staat als Manager einer Firma einrichtet und das Subjekt als eine Einheit unternehmerischen und in sich selbst investierenden Kapitals, ist der Effekt nicht einfach nur, die Funktionen von Staat und Bürgern einzuengen oder den Bereich der ökonomisch definierten Freiheit zu Lasten der gemeinsamen Investition in das öffentliche Leben und öffentliche Güter zu erweitern. Vielmehr besteht er darin, die Bedeutung und Praxis demokratischer Anliegen im Hinblick auf Gleichheit, Freiheit und Souveränität von einem politischen in ein ökonomisches Register zu transponieren.
Das geschieht folgendermaßen: In dem Maße, wie die Freiheit vom politischen zum ökonomischen Leben verlagert wird, wird sie der wesentlichen Ungleichheit des Letzteren unterworfen und ist dann ein Teil dessen, was diese Ungleichheit sichert. Die Garantie von Gleichheit durch die Rechtsstaatlichkeit und die Teilhabe an der Souveränität des Volkes wird durch einen Marktansatz von Gewinnern und Verlierern ersetzt. Die Freiheit selbst wird auf Marktverhalten eingeengt und ihrer Verbindung mit der Bewältigung der Lebensbedingungen, mit existenzieller Freiheit oder mit der Absicherung der Herrschaft des Volkes beraubt. Freiheit, insofern sie minimal als Selbstbestimmung und auf umfassendere Weise als Beteiligung an der Herrschaft durch das Volk verstanden wird, wird abgelöst von der Übereinstimmung mit einer instrumentellen Rationalität des Markts, die sowohl Entscheidungen als auch Zielsetzungen beschränkt.
Mit der Überwindung des Homo politicus, des Geschöpfs, das sich selbst regiert und das als Teil des Demos regiert, gibt es keine offene Frage mehr, wie man das Selbst gestalten oder welche Wege man im Leben gehen soll. Das ist einer der vielen Gründe dafür, warum Institutionen der Hochschulbildung jetzt keine Studenten mit dem Versprechen rekrutieren können, die eigene Leidenschaft durch eine geisteswissenschaftliche Ausbildung zu entdecken. Tatsächlich kann kein Kapital, außer ein selbstmörderisches, seine Tätigkeiten oder seinen Lebenslauf frei wählen oder gegenüber den Innovationen seiner Konkurrenten oder den Erfolgsparametern in einer Welt der Knappheit und Ungleichheit gleichgültig sein.
In der neoliberalen politischen Vorstellungswelt, die eine Wendung im Hinblick auf das Verantwortungsbewusstsein genommen hat, sind wir nicht mehr Geschöpfe der moralischen Autonomie, Freiheit oder Gleichheit. Wir wählen nicht mehr unsere Zwecke oder die Mittel für sie. Wir sind nicht einmal mehr Geschöpfe des Interesses, die sich schonungslos zu befriedigen versuchen.[11] In dieser Hinsicht lässt die Auffassung des Homo oeconomicus als Humankapital nicht nur den Homo politicus auf der Strecke, sondern auch den Humanismus selbst.
In dem Maße, wie der Bezirk und die Bedeutung von Freiheit und Gleichheit vom Politischen zum Ökonomischen neu festgelegt werden, wird die politische Macht als ihr Feind vorgestellt, als eine Störung beider. Diese offene Feindseligkeit gegenüber dem Politischen schmälert das Versprechen des modernen liberal-demokratischen Staats, Inklusion, Gleichheit und Freiheit als Dimensionen der Volkssouveränität sicherzustellen. Da jeder Begriff auf die Wirtschaft verlagert und in ökonomischer Sprache neu gefasst wird, verkehrt sich Inklusion in Konkurrenz, Gleichheit in Ungleichheit, Freiheit in deregulierte Märkte, und die Volkssouveränität ist nirgendwo auffindbar. In einer Formel komprimiert, ist das das Mittel, durch das die neoliberale Rationalität sowohl die demokratische Vernunft als auch eine demokratische Vorstellungswelt, die über sie hinausginge, aushöhlt.
Darüber hinaus werden die neoliberalen Staaten in ihrer frisch ökonomisierten Form so weit wie möglich die Kosten für die Entwicklung und Reproduktion des Humankapitals abstoßen. So ersetzen sie die öffentliche Hochschulbildung durch eine individuell schuldenfinanzierte Bildung, soziale Sicherheit durch persönliche Ersparnisse und endlose Anstellung, öffentliche Dienste aller Art durch individuell erworbene Dienste, öffentliche Forschung und Erkenntnis durch privat gesponserte Forschung, den Gebrauch öffentlicher Infrastruktur durch Gebühren. Jedes dieser Dinge verstärkt Ungleichheiten und beschränkt die Freiheit neoliberalisierter Subjekte, von denen verlangt wird, dass sie jeweils als Einzelne das beschaffen, was einst gemeinsam zur Verfügung gestellt wurde.
Es ist schwer, die Bedeutung dieser Umgestaltungen des Zwecks und der Orientierungen sowohl von Staaten als auch von Bürgern für die Demokratie überzubewerten. Gewiss folgt daraus die drastische Einschränkung öffentlicher Werte, öffentlicher Güter und der Teilhabe des Volkes am politischen Leben. Sie begünstigen die zunehmende Macht von Großunternehmen im Hinblick auf die Gestaltung von Gesetzen und politischen Maßnahmen zu ihren eigenen Zwecken, wodurch das öffentliche Interesse nicht einfach verdrängt, sondern offen herabgestuft wird. Außerdem verdrängt eine Regierung nach Marktmetriken offensichtlich klassische liberal-demokratische Anliegen im Sinne von Gerechtigkeit und des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen.
Aber die Neoliberalisierung löscht noch etwas anderes aus. Da ökonomische Parameter zu den einzigen Parametern für jedes Verhalten und alle Anliegen werden, wird die begrenzte Form der menschlichen Existenz, die Aristoteles und später Hannah Arendt als „bloßes Leben” bezeichneten und die Marx ein „durch Notwendigkeit eingeengtes” Leben nannte – die Sorge um das Überleben und den Erwerb von Wohlstand –, diese begrenzte Form und Vorstellungswelt wird allgegenwärtig und total durch alle Klassen hindurch.[12] Die neoliberale Rationalität eliminiert das, was diese Denker „das gute Leben” (Aristoteles) oder „das wahre Reich der Freiheit” (Marx) nannten, womit sie nicht Luxus, Freizeit oder Genuss meinten, sondern vielmehr die Kultivierung und den Ausdruck charakteristisch menschlicher Fähigkeiten zu ethischer und politischer Freiheit, Kreativität, unbegrenzter Reflexion oder Phantasie.
Marx schreibt Folgendes: „Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte. [...] Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, dass [...] die assoziierten Produzenten diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann.“[13]
Für Aristoteles, Arendt und Marx wird das Potential der menschlichen Gattung nicht durch, sondern jenseits des Kampfes ums Überleben und der Anhäufung von Reichtum verwirklicht. Für diesen Punkt brauchen wir uns nicht einmal außerhalb des Liberalismus zu begeben: Auch für John Stuart Mill ist das, was die Menschheit „zu einem edlen und schönen Gegenstand der Betrachtung” macht, Individualität, Originalität, „Lebensfülle” und vor allem die Kultivierung unserer „höheren Natur”.[14]
Die normative Herrschaft des Homo oeconomicus in allen Bereichen bedeutet dagegen, dass es keine Motivationen, Antriebe oder Bestrebungen außer ökonomischen gibt, dass Menschsein nichts außer „bloßem Leben” bedeutet. Der Neoliberalismus ist die Rationalität, durch die der Kapitalismus am Ende die Menschheit verschlingt – nicht nur mit seiner Maschinerie zwanghafter Kommodifizierung und vom Profit angetriebener Expansion, sondern auch durch seine Form der Wertsetzung. In dem Maße, wie die Ausbreitung dieser Form den Inhalt der liberalen Demokratie entleert und die Bedeutung von Demokratie schlechthin verwandelt, unterdrückt er demokratische Sehnsüchte und gefährdet demokratische Träume.
Gewiss war die liberale Demokratie nie unbefleckt von kapitalistischen Kräften und Bedeutungen. Die Geschichte ist bekannt: Nachdem sie wiederholt verschiedene republikanische und radikal-demokratische Aufstände und Experimente an den Rand gedrängt oder für sich ausgenutzt hatte, erschien sie im ganzen modernen Europa und in Nordamerika als eine sehr beschränkte und zwangsverpflichtete Form der Demokratie. Konturiert durch die Souveränität von Nationalstaaten, den Kapitalismus und den bürgerlichen Individualismus, war der Inhalt dieser Form überall (auf unterschiedliche Weise) voller innerer Ausschlüsse und Unterordnungen – zusätzlich zu denen, die sich auf die Klasse beziehen, gibt es noch jene, die das soziale Geschlecht, die Sexualität, Rasse, Religion, ethnische Zugehörigkeit und die globale Herkunft betreffen. Die liberale Demokratie wies sowohl imperiale als auch koloniale Voraussetzungen auf. Sie hat das Privateigentum abgesichert und damit auch das Vorhandensein von Besitzlosen, sie begünstigte die Akkumulation von Kapital und damit auch die Ausbeutung der Massen, und sie setzte Privilegien für ein bürgerliches, weißes, heterosexuelles, männliches Subjekt voraus, um sie dann zu verankern. All das ist Allgemeingut.
Mehrere Jahrhunderte lang hat die liberale Demokratie aber auch die Sprache und das Versprechen einer inklusiven und geteilten politischen Gleichheit, Freiheit und Volkssouveränität getragen – oder monopolisiert, je nach Standpunkt, den man einnimmt.
Was aber geschieht, wenn diese Sprache verschwindet oder pervertiert wird, um das Gegenteil der Demokratie zu bezeichnen? Was geschieht mit dem Streben nach Volkssouveränität, wenn das Volk diskursiv zerschlagen wird? Wie greifen Subjekte, die auf Humankapital reduziert sind, nach der Macht des Volkes, oder wie wünschen sie sich auch nur diese Macht? Worauf stützen sich radikale Bestrebungen nach Demokratie, nach der gemeinsamen Gestaltung und Kontrolle des Schicksals der Menschen, im Sinne von subjektiven Wünschen, die als Paradoxien oder legitimierende Grundsätze mobilisiert werden können? Kurzum: Was geschieht, wenn die neoliberale Rationalität Erfolg hätte mit der vollständigen Umgestaltung sowohl des Staats als auch der Seele in ihrem Sinne? Was dann?
* Der Beitrag basiert auf „Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört“, dem jüngsten Buch der Autorin, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist.
[1] Meine frühen Bemühungen zur Entwicklung von Foucaults Darstellung des Neoliberalismus als politischer Rationalität erschienen in dem Text: Neoliberalism and the End of Liberal Democracy, in: „Theory and Event“, 1/2003, wiederabgedruckt in: Edgework: Critical Essays on Knowledge and Politics, Princeton 2005.
[2] Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München und Leipzig, 1923, S. 23-25; Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2014, S. 99-119; Claude Lefort, Democracy and Political Theory, Minneapolis 1988, S. 2-4 und 10-12.
[3] Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a. M. 2004, S. 210.
[4] Michel Feher, der Denker, der am ausführlichsten die Implikationen des Wechsels vom produktiven zum Finanzkapital für das Subjekt und die Subjektivität theoretisch erfasst hat, scheint zu behaupten, dass der Wechsel kompromisslos und vollständig ist. Ich möchte nahelegen, dass beide Modalitäten heute gegenwärtig sind, dass das nach dem Vorbild des Unternehmers verstandene Humankapital nicht tot ist und in derselben Person mit Humankapital nach dem Investitionsmodell koexistieren kann. Siehe Michel Feher, Rated Agencies: Political Engagements with Our Invested Selves, i.E., und ders, Self-Appreciation; or the Aspirations of Human Capital, in: „Public Culture“ 1/2009.
[5] Siehe Kapitel 4 der ausgezeichneten Arbeit von Murray Milgate und Shannon C. Stimson, After Adam Smith: A Century of Transformation in Politics and Political Economy, Princeton 2009.
[6] Feher, Self-Appreciation, a.a.O., S. 21-41.
[7] Foucault, Die Geburt der Biopolitik, a.a.O., S. 170 f.
[8] Michel Feher, On Credit, Self-Esteem, and Sharing: an Introduction to the Neoliberal Condition, Vorlesung, Cornell University, November 2013; und Feher, Rated Agencies, a.a.O.
[9] Florian Gathmann und Veit Medick, German Chancellor on the Offensive: Merkel Blasts Greece over Retirement Age, Vacation, www.spiegel.de/international, 18.5.2011.
[10] Foucault, Die Geburt der Biopolitik, a.a.O., S. 187 und 340.
[11] Die Responsibilisierung in Kombination mit dem Austeritätskapitalismus fordert von uns, dass wir auf Weisen, die von außen bestimmt werden, in uns selbst investieren, doch unser Gedeihen wird durch diese Selbstinvestition oder das verantwortliche Verhalten nie garantiert, insofern wir ein Anhängsel einer größeren Ordnung sind, deren Ziele das Versprechen, uns Sicherheit zu gewähren, nicht einschließen.
[12] Hannah Arendt, Vita activa, a.a.O.; Aristoteles, Politik, Hamburg 1922; Karl Marx, Über das Reich der Notwendigkeit und das Reich der Freiheit, in: Karl Marx, Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3, Berlin 1989, S. 828.
[13] Marx, a.a.O.
[14] John Stuart Mill, Über die Freiheit, Hamburg 2009, S. 83-90.
(aus: »Blätter für deutsche und internationale Politik« 12/2015, Seite 69-82)
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2015/dezember/der-totale-homo-oeconomicus#_ftn13