Alle Macht dem Volk?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eugene Delacroix, Die Freiheit führt das Volk (1830)

 

 

Wohin die totale Herrschaft des Volkes führen würde

 

Populisten hetzen gegen Eliten und versprechen, die Rechte des Volkes zu stärken: Alle Macht dem Volk.

Das klingt gut. Aber wäre es wirklich wünschbar?

 

Thomas Ribi; NZZ - 18.03.2017

 

Putin ist einer. Erdogan auch. Und Trump sowieso: Alle sind sie Demokraten. Wenigstens sagen sie das von sich. Und manchmal versteigen sie sich sogar zur Behauptung, ganz besonders gute Demokraten zu sein. In seiner Inaugura-tionsrede hat der amerikanische Präsident eine einzige Botschaft transportiert: Alle Macht dem Volk! Natürlich wollte Trump damit in erster Linie klarstellen, wem die Macht nicht gehört: nicht den Funktionären, nicht dem Parlament, nicht der Administration und nicht den Gerichten. Das klingt urdemokratisch. In einer Demokratie liegt das letzte Wort beim Volk und nicht bei denen, die in seinem Namen tätig sind.

 

Auch Christoph Blocher wird nicht müde, das zu betonen, wenn er über die «classe politique» herzieht, die in eitlem Machtstreben nur an den eigenen Vorteil denke. Doch Grundsatzkritik an Parlamenten ist bei weitem nicht nur Sache von Populisten und Radikaldemokraten. Prozesse und Verfahren der institutionellen Politik stossen in intellektuellen Milieus bürgerlicher wie linker Prägung zusehends auf Vorbehalte oder sogar auf offene Ablehnung. Politische Entscheide würden über die Köpfe der Bevölkerung hinweg getroffen, wird geklagt; Parlamente seien «chambres séparées», in denen sich keiner darum schere, was draussen vor sich geht. Als Ideal wird dagegen die urkommu-nistische Idee der Basisdemokratie beschworen, in der sich Kollektive nach eigenen Gesetzen regieren.

 

Ideal mit Widerhaken

 

Die Kritik an der repräsentativen Demokratie kann sich auf einen illustren Kronzeugen berufen. Jean-Jacques Rousseau, ein Gründervater der modernen Demokratietheorie, würde ihr zustimmen. Er vertrat entschieden die Ansicht, Sou-veränität könne nicht delegiert werden. Der Gemeinwille, schrieb er 1762 im «Contrat social», gehöre unauflöslich zur Gemeinschaft und könne auf niemanden übertragen werden. Und er ging noch weiter: In dem Augenblick, in dem ein Volk Entscheide delegiert, gibt es seiner Ansicht nach nicht nur die Freiheit auf, sondern hört auf, als Volk zu existieren. Abgeordnete sind für Rousseau also nicht Vertreter, sondern nur Angestellte des Volkes. Und die einzige wahre Form der Demokratie ist für ihn die Volksversammlung, wo alle einander in die Augen schauen und gemeinsam in mystischer Einheit entscheiden. Jeder Einzelne gehorcht da eigentlich nur sich selber. Die Entscheide dieses in substanzieller Einheit verbundenen Volks sind unfehlbar. Denn der Gemeinwille ist für Rousseau nicht einfach die Summe der Einzelinteressen aller Beteiligten, sondern Ausdruck einer höheren Vernunft.

 

Natürlich war sich Rousseau bewusst, dass er damit einen Zustand beschrieb, der in der Praxis nicht existiert. Im 18. Jahrhundert nicht, und heute erst recht nicht. Wir stehen nun einmal nicht um ein Lagerfeuer herum, wenn wir darüber beraten, wie wir die Sozialwerke sanieren oder unser Verhältnis zur EU gestalten wollen. Es ist eine Sache der Effizienz, dass wir Entscheide delegieren. Doch Rousseau setzte mit seinem Idealbild der Demokratie Widerhaken, an denen wir uns bis heute verfangen. Da ist einerseits die Idee, der Gemeinwille des Volkes sei unfehlbar. Anderseits die Vorstellung, zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten klaffe ein tiefer Abgrund und repräsentative Elemente machten die Demokratie zunichte.

 

Die totale Herrschaft des Volkes,

wie Populisten sie propagieren, wäre kein demokratisches Paradies,

sondern eine absolutistische Hölle.

 

Beides ist falsch. Und beides ist richtig. Natürlich kann auch ein Volk bedenkliche Entscheidungen treffen. Doch das ist nicht der springende Punkt. Denn in politischen Fragen geht es nicht um richtig oder falsch, sondern um Opportuni-täten und weltanschauliche Konzepte. Entschieden wird darüber, nach welchen Rezepten man verfährt, ob Maximal-forderungen realisiert oder Kompromisse gesucht werden. Und es ist das Kennzeichen der liberalen Demokratie, dass es in ihr keine absoluten Wahrheiten gibt. Man handelt gültige Lösungen aus, und zwar immer wieder neu. Von der höheren Vernunft, die Rousseau beschwört, ist dabei oft wenig zu spüren. Unfehlbar ist das Volk nicht. Aber es hat immer recht – weil wir uns darauf geeinigt haben, die Resultate der institutionellen Prozesse als verpflichtend zu akzeptieren.

 

Auch Rousseaus zweiter Einwand ist so richtig wie falsch: Das Volk und seine politischen Repräsentanten sind nicht deckungsgleich. Ich habe nicht die geringste Gewähr dafür, dass Parlamentarier so entscheiden, wie ich entscheiden würde, auch wenn ich sie selber gewählt habe. Selbstverständlich entfernt ein Parlament das Volk von Entscheidungs-prozessen. Parlamente tendieren dazu, zu geschlossenen Gesellschaften zu werden. Und natürlich können sich Volksvertreter vom Volk lösen. In letzter Konsequenz könnte die durch den Einsatz von Institutionen intendierte Selbstherrschaft des Volkes sogar zu einer Fremdherrschaft über das Volk werden. Nur, was heisst das? Das Volk ist genauso wenig eine feste Grösse, wie die Parlamentarier es sind. Und es verfügt in liberalen Demokratien über Mittel, parlamentarische Entscheide zu korrigieren. «Die da oben» stehen unter Beobachtung. Und alle paar Jahre werden sie neu gewählt.

 

Politische Gefühlsduselei

 

Trotzdem schmerzen Rousseaus Widerhaken. Sie treffen die Demokratie an der empfindlichsten Stelle. Vor allem ent-larven sie eine Lebenslüge der Volksherrschaft: die Vorstellung, in der Demokratie herrsche das Volk über sich selber. Das würde ja heissen, dass es in demokratischen Staaten keine Machtstrukturen gibt und alles in seliger Einigkeit von statten geht. Richtig ist das Gegenteil. Gerade in Demokratien muss diskutiert, gerungen und gestritten werden. Und bei Abstimmungen entscheiden immer Mehrheiten über Minderheiten. Erträglich ist das nur, weil sich in Demokratien die Mehrheitsverhältnisse dauernd ändern: Ich gehöre bald zu den «Gewinnern», bald zu den «Verlierern» – und ein Demokrat bin ich nur dann, wenn ich mir das dauernd vor Augen halte.

 

Populisten, Extremisten und Wutbürger setzen bei Rousseaus radikaldemokratischer Kritik am Parlamentarismus an. Ihre Einwände sind in vielem berechtigt. Nur garnieren sie das Ganze mit einer gehörigen Portion politischer Gefühls-duselei. Sie pflegen das Zerrbild eines total korrumpierten Parlamentarismus und setzen dem eine Neuordnung ent-gegen, die das Volk wieder in die Rechte einsetzt, die ihm machtgierige Parlamentarier und regulierwütige Beamte geraubt haben. Im Grunde versprechen sie nichts anderes als eine Überwindung der institutionellen Politik: einen Zustand, in dem das Volk ganz über sich selber herrscht, ohne Repräsentanten und Institutionen. Denn sie sind in der Sprache der populistischen Volksfreunde nicht Instrumente der Demokratie, sondern Mittel, echte Demokratie zu verhindern.

 

Solche Versprechungen bedienen eine verbreitete Sehnsucht nach dem Unpolitischen. Sie überzeugen aber höchstens so lange, als man den politischen Romantizismus, den sie propagieren, nicht zu Ende denkt. Denn die Frage ist gar nicht, ob Wilders, Le Pen, AfD, Syriza, Podemos, Cinque Stelle und Konsorten in der Praxis je halten könnten, was sie ver-sprechen. Der Punkt ist vielmehr, dass die totale Herrschaft des Volkes, die sie propagieren, kein demokratisches Paradies, sondern eine absolutistische Hölle wäre. Demokratie ist mehr als ein Verfahren zur Entscheidfindung. Ihre vornehmste Aufgabe ist es, die Freiheit des Einzelnen zu schützen – auch vor der Vereinnahmung durch die Gemein-schaft. Alle Macht dem Volk? Es gehört zu den Widersprüchen der Demokratie, dass dies nur auf Kosten der individu-ellen Freiheit möglich wäre. Der Absolutismus des Volks, den die Populisten propagieren, ist nichts anderes als eine Tyrannis der Mehrheit – zumindest solange wir nicht von der höheren Vernunft beseelt sind, von der Rousseau einst träumte.

 

https://www.nzz.ch/meinung/die-demokratie-der-populisten-rousseaus-traum-ld.152056