Verfassungsschutzchef Haldenwang warnt :
„Steil ansteigender Antisemitismus in Deutschland"
Ein Jahr nach dem Anschlag in Halle sieht der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz erhebliche Gefahren, die gerade jüdische Mitbürger betreffen.
Der Tagesspiegel, 09.10.2020
Am 9. Oktober 2019 hatte ein rechtsextremer Attentäter am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur versucht, in die Synagoge in Halle einzudringen und die Menschen dort zu töten. Er schoss auf eine Holztür und warf Sprengsätze. Als es ihm nicht gelang in die Synagoge hineinzkommen, erschoss er auf der Straße eine 40 Jahre alte Frau. Im Anschluss tötete er in einem nahen Döner-Imbiss einen 20 Jahre alten Mann. Ein Gespräch mit dem Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang über die Folgen der Tat und den Antisemitismus in Deutschland.
Herr Haldenwang, wie haben Sie den Tag erlebt, an dem der Attentäter Stephan Balliet versuchte, in die Synagoge von Halle einzudringen?
Ich war sehr betroffen. Wenn solche Ereignisse passieren, bin ich einer der Ersten, die davon erfahren. Es war schnell klar, dass es sich um einen Anschlag auf die Synagoge in Halle handelte. - Jeder Anschlag ist eine schreckliche Gewalttat gegen die Menschen in unserem Land und gegen den Staat, aber der Angriff auf eine Synagoge hat dann noch eine ganz besondere Qualität. Schon wegen der schrecklichen Ereignisse während des Nationalsozialismus trägt Deutschland eine besondere Verantwortung für jüdisches Leben.
Wie kann es passieren, dass sich ein junger Mann wie Balliet derart radikalisiert, dass er zum fanatischen Judenhasser und Terroristen wird?
Es gibt bei den Radikalisierungsprozessen Grundmuster, die sich bei Rechtsextremisten, Islamisten und anderen Extremisten kaum unterscheiden. - Das sind oft schwierige persönliche Verhältnisse, Scheitern in Schule und Beruf, ein problematisches Umfeld. Solche Leute suchen nach dem Schuldigen für ihre desolate Lebenssituation und meinen dann, die Ursache bei gesellschaft-lichen Minderheiten zu finden. Dann kommt das Abgleiten in den Extremismus. So war es auch bei Stephan Balliet.
Ein ähnlich motivierter Anschlag wie in Halle scheint der Angriff vom vergangenen Sonntag in Hamburg zu sein, wo ein Mann mit einem Klappspaten einen jüdischen Studenten vor einer Synagoge schlug. Hatte der Verfassungsschutz den Täter Grigoriy K. im Blick?
Er war bisher für den Verfassungsschutz unauffällig. Es gibt erste Hinweise, dass die Polizei ihn kannte. Aber nicht als Extremisten. Es ist noch zu früh, die Tat genau einzuordnen. Doch es fällt die zeitliche Nähe zum Jahrestag des Anschlags von Halle auf. Und der Tatort war auch in Hamburg wieder an einer Synagoge. Das Opfer ist ein Mann, der mit seiner Kippa als Jude erkennbar war. - Da ist es naheliegend, dass der Anschlag in Halle und der bevorstehende Jahrestag beim Tatmotiv eine Rolle gespielt haben könnten.
Welche Parallelen sehen Sie zum Anschlag in Halle?
Deutlich wird, wie in Halle, dass uns beim Rechtsextremismus nicht nur organisierte Gruppen, sondern gerade auch radikalisierte Einzeltäter große Sorgen machen. Ein solcher scheint mir der Attentäter in Hamburg auch zu sein. In dem Fall ist es zudem eine Person, die aus ihrer Gesinnung heraus mit einem einfachen Tatmittel angreift. - Das erinnert an Islamisten, die mit leicht zu beschaffenden Tatmitteln wie einem Messer oder einem Auto Anschläge begehen. Der Hallenser Attentäter hatte seine Tat lange vorher geplant und vorbereitet. Für die Tat in Hamburg gibt es für eine vergleichbare Vorbereitung und politische Begründung bisher noch keine Belege.
Juden fühlen sich nicht mehr sicher in Deutschland.
Es ist mir wichtig, auf die Problematik des steil ansteigenden Antisemitismus in Deutschland aufmerksam zu machen. Dazu hat das Bundesamt vor wenigen Wochen ein Lagebild Antisemitismus veröffentlicht, in dem alle Phänomen-bereiche dargestellt werden, nicht nur der rechtsextremistische Hass auf Juden. Gerade in den vergangenen zwei Jahren haben Straftaten, auch Gewalttaten, gegen Juden und jüdische Einrichtungen in Deutschland erheblich zugenommen.
Auch unser Lagebild zeigt, dass die Sorgen der jüdischen Mitbürger berechtigt sind, dass sie auf offener Straße Opfer von Anfeindungen bis hin zu gewaltsamen Attacken werden können. Hier müssen Sicherheitsbehörden äußerst wachsam sein. Vor allem muss der Gesellschaft ins Bewusstsein gebracht werden, gemeinsam gegen aufkommenden Antisemitismus vorzugehen.
John Barton: Die Geschichte der Bibel. Von den Ursprüngen bis zur Gegenwart
Stuttgart: Klett-Cotta Verla, 2020. 717 S., geb., 38,- Euro.
»Ein magistrales, wundervoll anregendes Meisterwerk, das die Bibel wieder zum Leben erweckt.« Observer
Souverän und umfassend erzählt John Barton die Geschichte der »Bibel«, des einflussreichsten und erfolgreichsten Buches der Welt. Eine grandiose Darstellung und Entschlüsselung des »Buches der Bücher«, das - wie wohl kein zweites - Denken und Glauben der Menschheit bis in unsere Gegenwart geformt hat und noch weiterhin prägen wird. Die Kultur des Westens ist ohne die Bibel gar nicht denkbar.
Für Judentum und Christentum ist sie das Fundament der Religion und die Autorität, die darüber Auskunft gibt, was wir glauben und wie wir leben sollen. Für Nicht-Gläubige ist das »Buch der Bücher« bis heute eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur, dessen Wirkung und Einfluss sich in unsere Sprache und in unserem Denken eingeschrieben hat. In seinem ebenso elegant wie zugänglich geschriebenen Buch erzählt einer der weltweit besten Kenner umfassend die verwickelte Entstehung und wandlungsreiche Geschichte des Alten und Neuen Testaments.
Glänzend entschlüsselt John Barton die ganze Vielfalt der Quellen und Traditionen, die den biblischen Texten zugrunde liegen, und erläutert luzide und allgemeinverständlich die mehr als 2000 Jahre währende Wirkung der Bibel: von ihren Ursprüngen über Antike, Mittelalter, Reformation, Aufklärung und das 19. Jahrhundert bis in die Moderne.
»John Bartons neues Meisterwerk weckt den schlafenden Riesen unserer Kultur.« Sunday Times
»Ein höchst informatives, hellund weitsichtig geschriebenes Buch, das nichts zu wünschen übrig lässt. Hier finden die Leser alles, was sie über die Bibel wissen wollen und können.« Literary Review
»Eine großartige Gesamtdarstellung. Sogar Leser, die mit der Bibel sehr gut vertraut sind, werden in diesem Buch viel Neues erfahren.« Telegraph
»John Bartons Buch ist ein Meilenstein.« Diarmaid MacCulloch
John Barton, A History of the Bible. The Book and Its Faiths
London: Penguin Books 2020
WINNER OF THE 2019 DUFF COOPER PRIZE - A SUNDAY TIMES BESTSELLER
'With emotional and psychological insight, Barton unlocks this sleeping giant of our culture. In the process, he has produced a masterpiece.' Sunday Times
The Bible is the central book of Western culture. For the two faiths which hold it sacred, it is the bedrock of their religion, a singular authority on what to believe and how to live. For
non-believers too, it has a commanding status: it is one of the great works of world literature, woven to an unparalleled degree into our language and thought.
This book tells the story of the Bible, explaining how it came to be constructed and how it has been understood, from its remote beginnings down to the present. John Barton describes how the
narratives, laws, proverbs, prophecies, poems and letters which comprise the Bible were written and when, what we know - and what we cannot know - about their authors and what they might have
meant, as well as how these extraordinarily disparate writings relate to each other. His incisive readings shed new light on even the most familiar passages, exposing not only the sources and
traditions behind them, but also the busy hands of the scribes and editors who assembled and reshaped them. Untangling the process by which some texts which were regarded as holy, became
canonical and were included, and others didn't, Barton demonstrates that the Bible is not the fixed text it is often perceived to be, but the result of a long and intriguing evolution.
Tracing its dissemination, translation and interpretation in Judaism and Christianity from Antiquity to the rise of modern biblical scholarship, Barton elucidates how meaning has both been drawn
from the Bible and imposed upon it. Part of the book's originality is to illuminate the gap between religion and scripture, the ways in which neither maps exactly onto the other, and how
religious thinkers from Augustine to Luther and Spinoza have reckoned with this. Barton shows that if we are to regard the Bible as 'authoritative', it cannot be as believers have so often done
in the past.
"As eminently readable as the best of travelogues, it floods with light a subject too often regarded by many as a closed book. ... An extraordinary tour de force." Peter Stanford, Sunday Times
Carel van Schaik, Kai Michel,
Das Tagebuch der Menschheit, Was die Bibel über unsere Evolution verrät,
Reinbek: Rowohlt 2017
Rezension von UWD am 06.08.2020 bei bücher.de:
Weder Aufklärung noch Wissenschaft
Der Evolutionsbiologe Carel van Schaik und der Historiker Kai Michel beanspruchen in ihrem Buch Das Tagebuch der Menschheit erstmals offen zu legen, was die Bibel über die Evolution des Menschen im Allgemeinen verrät.
Seit der Epoche der Frühen Neuzeit und Aufklärung haben jüdische und christliche Theologen mühsam gelernt und gegen Widerstände durchgesetzt, die hebräische Bibel und das christliche Neue Testament mit den ausgefeilten kultur-wissenschaftlichen Methoden der Archäologen und Historiker sowie mit den geisteswissenschaftlichen Methoden der Philologen und Theologen zu studieren und zu interpretieren. Aber jetzt maßen sich ein Naturwissenschaftler und ein Historiker an, die hebräische Bibel der Juden und das Neue Testament der Christen nicht mehr im Kontext der doch recht gut bekannten Geschichte des Alten Israel zu entschlüsseln und zu verstehen, sondern ihnen ein nur allzu simples einheitliches evolutionsbiologisches und anthropologisches Modell der Stufen der Entwicklung “des Menschen” im Allgemeinen überzustülpen.
Niemand wird bezweifeln, dass dadurch ein kunterbuntes Potpourri an interessanten Gedanken und “Perspektiven” herauskommen kann. Denn ein so inhaltsreiches und vielschichtiges Buch wie die Bibel generiert auch noch dann eine ganze Fülle von interessanten Gedanken, wenn sie anhand eines allzu simplen anthropologischen Schemas gelesen wird. Aber dabei handelt es sich dann nicht mehr wie zuvor um historisch-kritische Mutmaßungen von hoher Wahr-scheinlichkeit, sondern nur um evolutionistische Spekulationen.
Dass der Evolutionsbiologe Carel van Schaik keine Ahnung von der historisch-hermeneutischen Erforschung der Bibel hat, ist verständlich, denn schließlich ist er nicht vom Fach. Aber dass der Historiker Kai Michel sich für ein solches frag-würdiges populistisches Buchprojekt hergibt, ist kaum verständlich. Vielleicht wird man es nur damit erklären können, dass er an einen lukrativen Bestseller mitarbeiten wollte, der innovativ und sensationell zu sein verspricht. Aber der inhaltliche Ertrag ist weder aufklärerisch und wissenschaftlich, sondern ideologisch und populistisch. Denn da fehlen erkenntniskritische Skepsis und methodische Selbstkontrolle.
Pseudowissenschaftliche Bücher gibt es zuhauf und mit in diesem populären Genre lassen sich leichter Bestseller produzieren als mit seriöser Wissenschaft. Das Lob des angesehenen empirischen Anthropologen Tomasello mag die potentiellen Käufer beeindrucken, aber es ist keinen Pfifferling wert, da er vermutlich von historisch-kritischer Erfor-schung der Bibel ebenfalls keine Ahnung hat. Der evangelische systematische Theologe Friedrich Wilhelm Graf hin-gegen hätte es besser wissen müssen. Er hätte bemerken und bedenken müssen, dass die beiden Autoren mit ihrem populistischen Machwerk den Juden die Deutungsmacht über ihre hebräische Bibel und den Christen das primäre Interpretationsrecht für ihr Neues Testament bestreiten. Wer den Juden die Deutungsmacht über ihren Tanach nimmt, greift sie jedoch frontal an. Doch das ist in Zeiten eines anwachsenden Antisemitismus in Europa ungeheuerlich. Das Existenzrecht Israels würde sich ohne ihr Erstrecht der Interpretation auch kaum noch halten lassen, da es auf dem parochialen Narrativ des Exodus der Hebräer basiert.
Da werden mitten in Europa wieder Synagogen und Friedhöfe, Kathedralen und Kirchen angezündet und geschändet. Und da greifen anarchistische, islamistische und nationalistische Individuen und Gruppen Juden und Christen an, aber die beiden Autoren schlagen den Juden und Christen ihre einmaligen Heiligen Schriften und Quellen der Erinnerung und damit den Grund für ihre geschichtliche Identität aus der Hand und wollen diese alten und ehrwürdigen parochialen Kulturgüter durch ein allzu simples evolutionsbiologisches Denkschema ins allgemein Menschliche übertragen. Das mag in manchen biologistischen Ohren fortschrittlich klingen, kann jedoch ganz zurecht auch als zutiefst antisemitisch und antichristlich verstanden werden.
Das kann sich nämlich als der gedanken- und pietätlose Akt einer naturalistischen Brandstiftung und einer biologis-tischen Marginalisierung der parochialen Geschichte, Tradition und Identität der Juden und Christen entpuppen. Denn auch dann, wenn es die beiden Autoren nicht so gemeint haben, ist nicht alles, was als vermeintlich fortschrittlich daher kommt, am Ende auch hilfreich. Die Nationalsozialisten und Stalinisten waren auch angeblich fortschrittliche Natura-listen, die sich auf Darwin und Marx berufen haben, und die meinten, im Namen des wissenschaftlichen Fortschrittes zu agieren, als sie Juden und Christen unterdrückten, verfolgten und ermordeten.
Schade, dass die beiden Autoren nicht ahnen, was sie da getan haben. Naturwissenschaftler und Philosophen sollten nicht meinen, alle historischen und kulturellen Phänomene ganz allein erklären und verstehen zu können. Wenn sie nicht anerkennen, dass sie nicht für alles in der Welt zuständig sind, laufen sie Gefahr, eine naturalistische oder uni-versalistische Ideologie zu produzieren, die weder aufklärerisch noch wissenschaftlich ist. Statt dessen sollten sie anerkennen, dass es im gemeinsamen Haus der modernen Wissenschaften und Kultur methodisch und ontologisch pluralistisch zugeht, und dass nicht alle Anderen nach der Pfeife der sozialdarwinistischen Evolutionsbiologen und der als Philosophen getarnten naturalistischen Ideologen tanzen wollen.
Was verrät die Bibel über die Evolution des Menschen im Allgemeinen? Gar nichts! Oder jedenfalls nur das, was man nach einem allzu simplen Schema in sie hinein liest. Was lässt sich von der Bibel mit historisch-kritischen Methoden über die spezifische Geschichte der Hebräer und des Alten Israel sowie über die parochiale Geschichte der Frühen Christen in der Antike lernen? Sehr viel, wenn man davon wie manche Historiker Israels und des Frühen Christentums wirklich etwas versteht. UWD
Square für Künstler: Carte Blanche für Alexandre Arcady (Arte)
Im Januar 2020 reiste der französische Filmregisseur Alexandre Arcady zum 75. Jahrestag der Befreiung des Lagers Auschwitz nach Israel. Dort besuchte er den Jerusalemer Friedhof, auf dem zehn der elf Opfer der seit 2006 in Frankreich begangenen antisemitischen Morde begraben sind. Die Reise veranlasste den Regisseur dazu, diesen Film zu drehen.
Diese Reise und der Anblick der Gräber veranlasste den Regisseur dazu, diesen Film zu drehen, damit die Opfer des mörderischen Antisemitismus nie vergessen werden. Seine Dokumentation ist eine Hommage an alle Opfer des Terrorismus, in der der Schauspieler Richard Berry das Plädoyer von Maitre Ouaknine Melki während des Prozesses zu den Anschlägen im Januar 2015 rezitiert. Alexandre Arcady führt in seinem Film vor Augen, wie der Antisemitismus sich heute zeigt.
https://www.youtube.com/watch?v=G6C8Kad4kt0