Arbeit, Anerkennung und Würde


 

Axel Honneth

 

Arbeit und Anerkennung. Versuch einer Neubestimmung

 

Noch nie in den letzten zweihundert Jahren hat es um Bemühungen, einen emanzipatorischen, humanen Begriff der Arbeit zu verteidigen, so schlecht gestanden wie heute . Die faktische Entwicklung in der Organisation von Industrie- und Dienstleistungsarbeit scheint allen Versuchen, die Qualität der Arbeit zu verbessern, den Boden entzogen zu haben: Ein wachsender Teil der Bevölkerung kämpft nur noch um den Zugang zu Chancen sub-sistenzsichernder Beschäftigung, ein anderer Teil arbeitet unter rechtlich kaum mehr geschützten Verhältnis-sen, ein dritter Teil schließlich erfährt im Augenblick die rapide Entberuflichung und Entbetrieblichung ihrer vormals noch statusmäßig gesicherten Arbeitsplätze.

 

Trotz aller Prognosen eines Endes der Arbeitsgesellschaft ist es nicht zu einem Relevanzverlust der Arbeit in der gesellschaftlichen Lebenswelt gekommen: Nach wie vor macht die Mehrheit der Bevölkerung die eigene soziale Identität primär von der Rolle im organisierten Arbeitsprozess abhängig. Von einem Bedeutungsverlust der Arbeit kann aber nicht nur in einem lebensweltlichen Sinn, sondern auch in einem normativen Sinn nicht die Rede sein: Arbeitslosigkeit wird weiterhin als soziales Stigma und individueller Makel erfahren, prekäre Beschäftigungsverhältnisse werden als belastend empfunden, die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes stößt in weiten Kreisen der Bevölkerung auf Unbehagen. Die Sehnsucht nach einem nicht nur subsistenzsichernden, sondern auch individuell befriedigenden Arbeitsplatz ist keinesfalls verschwunden, nur bestimmt sie nicht mehr die öffentlichen Diskussionen und die Arenen der politischen Auseinandersetzung; aber aus der eigentümlichen, beklemmenden Sprachlosigkeit zu schließen, dass Forderungen nach einer Umgestaltung der Arbeitsverhältnisse endgültig der Geschichte angehören, wäre empirisch falsch und nahezu zynisch.

 

Immanente und externe Kritik der Arbeitsverhältnisse


Wie nun müsste die Kategorie der gesellschaftlichen Arbeit heute in den Rahmen einer Gesellschaftstheorie einbezogen werden, damit eine nicht bloß utopische Perspektive auf qualitative Verbesserungen eröffnet wird? Um dieses komplexe Problem angehen zu können, will ich zunächst vorschlagen, die Unterscheidung von externer und immanenter Kritik auch auf die Absicht einer Kritik der existierenden Arbeitsverhältnisse anzuwenden: Von einer immanenten Kritik, in der die normativen Forderungen keinen bloßen Sollenscharakter mehr besitzen, können wir hier nur dann sprechen, wenn die Idee einer sinnvollen, gesicherten Arbeit als Vernunftanspruch in die Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion selbst eingebaut ist. Die gesellschaftliche Arbeit kann nur dann diese Rolle einer immanenten Norm übernehmen, wenn sie an die Anerkennungsbedingungen im modernen Leistungsaustausch gebunden wird: Jede Arbeit, die die Schwelle des bloß privaten, autonomen Tätigseins überschritten hat, muss in einer bestimmten Weise organisiert und strukturiert sein, um die gesellschaftlich in Aussicht gestellte Anerkennungswürdigkeit zu besitzen. Schließlich ist mit dieser strukturellen Verkoppelung von Arbeit und Anerkennung die Forderung einer Umgestaltung der modernen Arbeitswelt im Sinne einer gerechten Organisation der Arbeitsteilung verknüpft.

 

Utopie der kreativen Arbeit


Seit dem Beginn der Industriellen Revolution hat es an utopischen Entwürfen einer Neugestaltung der gesellschaft-lichen Arbeit nicht gemangelt. Als Triebkraft dieser emanzipatorischen Vorstellungen wirkte zu Beginn die Welt des Handwerkers: Während hier der Vollzug der Arbeit vollständig in den Händen der arbeitenden Person lag, die die gesamte Ausführung im Vertrautsein mit dem Material schöpferisch gestalten und im fertigen Produkt schließlich eine Objektivation der eigenen Fertigkeiten erblicken konnte, waren dem Arbeiter in der Fabrik solche ganzheitlichen Erfahrungen restlos verschlossen, weil seine Tätigkeit fremdbestimmt, zerrissen und initiativlos war. Je nach weltan-schaulicher Orientierung wurden an dem Modell der Handwerkstätigkeit entweder die Züge einer freiwilligen, selbst-gesteuerten Kooperation oder die Elemente einer individuellen Selbstobjektivation stark gemacht: Im ersten Fall erschien die neue, kapitalistische Form der Erwerbsarbeit deswegen als verdammenswert, weil sie das schöpferische Zusammenwirken der Arbeitssubjekte außer Kraft setzte, im zweiten Fall hingegen, weil sie den organischen Prozess der Vergegenständlichung eigener Fähigkeiten zerstückelte und in einzelne, für sich bedeutungslose Segmente aufteilte. Zusätzlichen Zündstoff erhielt diese Kritik an der kapitalistischen Organisationsform der Arbeit, sobald auch ästhetische Modelle der Produktion in die Vision einer unentfremdeten, eigeninitiativen Tätigkeit einbezogen wurden: Vor allem bei den sozialistisch orientierten Erben der deutschen Frühromantik machte sich die Vorstellung breit, dass alle menschliche Arbeit Züge jener selbstzweckhaften Kreativität besitzen sollte, die exemplarisch in der Verfertigung eines Kunstwerks zum Tragen kommen.

 

So anschaulich und packend all diese Ideen einer Befreiung der Arbeit aber auch waren, so folgenlos sind sie am Ende doch für die tatsächliche Geschichte der Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit geblieben. Das romantisch ver-klärte Modell der Handwerkstätigkeit und das ästhetische Ideal der künstlerischen Produktion enthielten zwar genü-gend Schubkraft, um unsere Vorstellungen eines guten, gelingenden Lebens nachhaltig zu verändern; aber auf die Kämpfe der Arbeiterbewegung, auf die sozialistischen Bestrebungen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und nach Möglichkeit den Interessen der Produzenten zu überantworten, haben sie so gut wie keinen Einfluss nehmen können.

Die zwiespältige Wirkung, die von den Arbeitsutopien des 19. Jahrhunderts ausgingen, erklärt sich aus dem Umstand, dass sie sich kaum auf die Anforderungen der wirtschaftlich organisierten Arbeit beziehen ließen: Die Tätigkeitsweisen, die sie auszeichneten und zum paradigmatischen Vorbild erkoren, waren zu extravagant, als dass sie als Gestaltungs-modell für all die Vorrichtungen dienen konnten, die für die Reproduktion der Gesellschaft erforderlich waren. Hier, im Bereich der ökonomischen Sphäre, unterliegen die individuell vollzogenen Tätigkeiten besonderen Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit ihres Einbringens in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch ergeben. Ich will daher alle Versuche, die gegebenen, kapitalistischen Arbeitsverhältnisse im Lichte von Modellen des organischen, allein selbst-gesteuerten Produzierens zu kritisieren, als Formen einer externen Kritik bezeichnen: Sie berufen sich normativ auf Tätigkeitsweisen, die dem kritisierten Gegenstand bloß äußerlich bleiben, weil sie strukturell mit den in der Wirtschafts-sphäre erforderlichen Arbeiten unvereinbar sind. Was für das gute Leben des Einzelnen an Arbeitserfahrungen not-wendig sein mag, darf nicht zugleich als Maßstab an die Beurteilung der gesellschaftlich organisierten Produktions-sphäre herangetragen werden; denn hier herrschen Zwänge und Bedingungen, die es auch bei einer denkbar weiten Auslegung erforderlich machen, Tätigkeiten von einem ganz anderen Charakter als dem des Handwerks oder der Kunst auszuführen.

 

Die Schwelle zu einer immanenten Kritik der existierenden Organisation von gesellschaftlicher Arbeit wird erst in dem Augenblick überschritten, in dem moralische Normen herangezogen werden, die dem gesellschaftlichen Leistungstausch selbst als Vernunftanspruch innewohnen; mit der institutionalisierten Idee, die eigene Arbeit als Beitrag zur sozialen Arbeitsteilung zu verstehen, sind nämlich normative Ansprüche verknüpft, die bis auf die Ebene der Gestaltung der Arbeitsplätze durchschlagen.

 

Ein solcher Ansatz macht es allerdings erforderlich, den kapitalistischen Arbeitsmarkt nicht nur unter der funktionalis-tischen Perspektive der Steigerung von ökonomischer Effizienz zu betrachten; so würde an den Strukturen der moder-nen Arbeitsorganisation tatsächlich nur eine dünne Schicht strategischer Regelungen zu Tage treten. Wird hingegen berücksichtigt, dass der kapitalistische Arbeitsmarkt auch die Funktion der sozialen Integration zu erbringen hat, so ändert sich das Bild vollständig und wir stoßen auf eine Reihe von moralischen Normen, die der modernen Arbeitswelt zugrunde liegen.

 

Normative Bedingungen des kapitalistischen Arbeitsmarktes


Schon Hegel hat in seiner Rechtsphilosophie den Versuch unternommen, in den sich vor seinen Augen herausbildenden Strukturen der kapitalistischen Wirtschaftsorganisation die Elemente einer neuen Form der Sozialintegration zu ent-decken. Für ihn stand es von Beginn an außer Frage, dass sich die Leistungen des nunmehr marktvermittelten Systems der Bedarfsdeckung nicht allein in Kategorien der ökonomischen Effizienz messen lassen dürfen; zwar steigert auch aus seiner Sicht die neue Institution des Marktes die Produktivität des wirtschaftlichen Handelns beträchtlich, aber ihre Funktion darf sich nicht auf diese eine, bloß äußerliche Leistung beschränken, weil sie ansonsten ohne jede sittliche Verankerung in der Gesellschaft, also ohne die erforderliche moralische Legitimation bleiben würde. Daher versucht Hegel zu zeigen, dass das ganze System eines marktvermittelten Austauschs von eigener Arbeit gegen Mittel der Bedürfnisbefriedigung nur dann auf Zustimmung stoßen kann, wenn es bestimmte normative Bedingungen erfüllt.

Die erste integrative Leistung der neuen Wirtschaftsform besteht für ihn darin, dass sie die »subjektive Selbstsucht« des Einzelnen in die individuelle Bereitschaft verwandelt, »zur Befriedigung der Bedürfnisse aller anderen« tätig zu sein; in dem Augenblick, in dem der ökonomische Bedarf der Bevölkerung durch Transaktionen auf einem anonymen Markt gedeckt werden soll, muss jedes (männliche) Gesellschaftsmitglied dazu bereit sein, persönliche Neigungen des Müßig-gangs abzustreifen und durch eigene Arbeit zum allgemeinen Wohl beizutragen.

 

Diese generalisierte Verpflichtung zur Leistungserbringung beinhaltet für Hegel, die eigenen Fähigkeiten und Bega-bungen nach Möglichkeit so zu entwickeln, dass sie der Vermehrung des »allgemeinen, bleibenden Vermögens« zugute kommen können. Allerdings ist die Bereitschaft, auf solche Weise zum gesellschaftlichen Wohl beizutragen, nun umgekehrt an die Voraussetzung einer entsprechenden Gegenleistung geknüpft: Jeder Teilnehmer an dem markt-vermittelten Leistungsaustausch hat »das Recht, sein Brot zu verdienen«. Insofern erblickt Hegel die zweite normative Errungenschaft der neuen Wirtschaftsform darin, ein System der wechselseitigen Abhängigkeit zu schaffen, das die ökonomische Subsistenz aller seiner Mitglieder sichert; in der Sprache, die wir heute verwenden, ist die Erwartung der Leistungserbringung an die Bedingung der Gewährung eines Mindestlohns geknüpft, der die finanziellen Mittel zur ökonomischen Selbstständigkeit enthalten muss.

 

Im System des marktvermittelten Austauschverhältnisses erkennen sich die Subjekte wechselseitig als privatautonome Wesen an, die füreinander tätig sind und auf diese Weise durch ihre sozialen Arbeitsbeiträge ihr Leben erhalten.

 

»Bürgerliche Ehre«


Nun ist Hegel freilich schon hellsichtig genug, um auch die Entwicklungen der kapitalistischen Marktwirtschaft voraus-sehen zu können, die mit deren normativen Anerkennungsbedingungen in einen Widerspruch zu geraten drohen. Die gewinnorientierte Güterproduktion erzeugt über kurz oder lang das Problem, dass sich auf der einen Seite die »Reich-tümer« in den Händen Weniger konzentrieren, während auf der anderen Seite bei der »großen Masse« »Abhängigkeit und Not« entsteht. Im »Pöbel« findet sich ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung vereinigt, der bar jeder Chance der marktvermittelten Anerkennung von Arbeitsleistungen ist und daher unter dem Mangel an »bürgerlicher Ehre« leidet. Sozialstaatliche Transferleistungen würden daran nichts ändern.

 

Nach der Überzeugung Hegels gehört es zu den moralischen Bedingungen der kapitalistischen Arbeitsorganisation, dass die Arbeitsleistungen der Einzelnen nicht nur durch ein subsistenzsicherndes Einkommen entlohnt werden, sondern auch ihrer Gestalt nach eine Form bewahren, die sie als Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt; die ganze Idee des wechselseitigen Austauschs von Leistungen verlangt es, dass die einzelnen Tätigkeiten eine hin-reichend komplexe, Fertigkeiten demonstrierende Struktur behalten, um sich der allgemeinen Anerkennung als würdig zu erweisen, die mit der »bürgerlichen Ehre« verknüpft ist. Diverse soziale Institutionen müssen deshalb dafür sorgen, dass die Tüchtigkeiten ihrer Mitglieder genügend Pflege und öffentliche Aufmerksamkeit erhalten, um sich auch künftig allgemeiner Wertschätzung erfreuen zu können. Hegel lässt diese Korporationen mithin eine Aufgabe übernehmen, die in den Bestandsvoraussetzungen der neuen Organisationsform gesellschaftlicher Arbeit selbst als ein normativer Anspruch verankert ist.

 

Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass die berühmte These von Karl Polanyi, der zufolge der kapitalistische Arbeitsmarkt aus allen lebensweltlichen Rahmungen weitgehend »entbettet« worden ist, zumindest fragwürdig ist; in Übereinstimmung mit gegenwärtigen Versuchen, die sozialen und normativen Bestandsvoraussetzungen von Märkten wieder stärker zu betonen, müsste man wohl eher von einer wachsenden Verdrängung der normativen, ja moralischen Bedingungen des Marktgeschehens sprechen.

 

Denn die Strukturen eines kapitalistischen Arbeitsmarktes haben sich zunächst nur unter der höchst anspruchsvollen, ethischen Voraussetzung herausbilden können, dass die von ihnen erfassten Schichten die legitime Erwartung einer subsistenzsichernden Entlohnung und einer anerkennungswürdigen Arbeit hegen konnten. Das neue System des Marktes kann Hegel zufolge also nur unter zwei Bedingungen normative Zustimmung von den Betroffenen bean-spruchen: Dass es erstens die erwerbsmäßig erbrachte Arbeit mit einem Mindestlohn ausstattet und zweitens den vollzogenen Tätigkeiten eine Gestalt gibt, die sie als Beiträge zum allgemeinen Wohl erkennbar sein lässt.

 

Kontrafaktische Geltung


Die größte Schwierigkeit liegt hier darin, dass diese Bedingungen einerseits auf die faktische Wirtschaftsentwicklung nur geringen Einfluss genommen haben und andererseits in ihr doch von allgemeiner Geltung sein sollen. Was soll es heißen, dass die kapitalistische Arbeitsorganisation in einen Horizont von legitimitätssichernden moralischen Normen eingebettet ist, wenn diese doch auch aus der Hegelschen Sicht eine Verselbstständigung der bloß gewinnorientierten Produktion kaum haben verhindern können? Eine Auflösung des damit umrissenen Widerspruchs kann nur darin be-stehen, diese Normen als kontrafaktische Geltungsgrundlage der kapitalistischen Organisation der Arbeit zu verstehen: Weil die Beteiligten die neue Wirtschaftsform nur dann verstehen und als zum »allgemeinen Wohl« beitragend betrachten können, wenn sie dabei gedanklich die beiden Normen voraussetzen, baut die marktvermittelte Organi-sation der Arbeit auf normativen Bedingungen auf, die auch bei faktischer Außerkraftsetzung ihre Geltung nicht verlieren. Diese »Einbettung« macht das Funktionieren des kapitalistischen Arbeitsmarktes von normativen Be-dingungen abhängig, die er selbst nicht zwangsläufig erfüllen können muss: Der Markt des Austauschs von Arbeit funktioniert unter der Voraussetzung von moralischen Normen, die auch dann in Geltung bleiben, wenn die historische Entwicklung gegen sie verstößt. Zugleich bilden diese normativen Hintergrundgewissheiten aber auch die moralische Ressource, auf die die Akteure zurückgreifen können, um die existierenden Regelungen der kapitalistischen Arbeits-organisation infrage zu stellen: Es bedarf dann nicht der Berufung auf jenseitige Werte oder universalistische Prinzipien, sondern nur einer Mobilisierung jener impliziten Normen, die als Verstehens- und Akzeptanzbedingung in die Ver-fassung des modernen Arbeitsmarktes eingelassen sind. Allen sozialen Bewegungen, die in der Vergangenheit gegen unzumutbare Lohnbedingungen oder die Dequalifizierung der Arbeit aufbegehrt haben, ging es um Ziele wie die Verteidigung von hinreichend komplexen, nicht vollkommen fremdbestimmten Arbeitsplätzen oder die Erkämpfung subsistenzsichernder Einkommen, also um durchweg normative Ansprüche, die Hegel im Begriff der »bürgerlichen Ehre« zusammengefasst hatte.

 

Die Moral der Arbeitsteilung

 

Einen energischen Versuch, auch Forderungen nach einer qualitativ sinnvollen Arbeit als immanente Ansprüche der neuen Wirtschaftsform zu begreifen, unternimmt allerdings erst Emile Durkheim. Auch er untersucht die Strukturen der kapitalistischen Arbeitsorganisation primär unter dem Gesichtspunkt, welchen Beitrag sie zur sozialen Integration moderner Gesellschaften leisten können; und auch er stößt dabei auf eine Reihe von normativen Bedingungen, die den marktvermittelten Austauschbeziehungen in Form kontrafaktischer Unterstellungen und Ideale zugrunde liegen. Die bloße Aussicht auf ökonomisches Wachstum und wirtschaftliche Effizienz reicht nicht aus, um die neue Wirtschaftsform mit der Art von moralischer Legitimation auszustatten, die für die soziale Integration erforderlich ist. Durkheim sucht aber nicht etwa nach Quellen der Solidarität außerhalb der sozialen Wirtschaftsorganisation sondern identifiziert in den Strukturen der neuen, kapitalistischen Arbeitsorganisation selbst die Bedingungen, die zu einem veränderten Bewusst-sein sozialer Zusammengehörigkeit führen könnten: Die Solidarität, die nötig ist, um auch moderne Gesellschaften sozial zu integrieren, soll nicht aus Quellen der moralischen oder religiösen Tradition, sondern der ökonomischen Wirklichkeit fließen.

 

Die kapitalistische Organisation der Arbeit darf dann aber nicht in ihrer zufälligen, empirisch gegebenen Gestalt präsentiert, sondern muss in den normativen Zügen zur Darstellung gebracht werden, die ihre öffentliche Recht-fertigbarkeit ausmachen; würde es nämlich nur beim Ersten bleiben, also der bloß empirischen Wiedergabe, so ließe sich nicht einsichtig machen, warum die neue Wirtschaftsform eine Quelle der sittlichen Integration oder der Solidarität sein sollte. Aus diesem Grund führt Durkheim vor, dass unter den neuen ökonomischen Bedingungen jedes erwachsene Mitglied der Gesellschaft einen Anspruch darauf hat, einen arbeitsteiligen Beitrag zum allgemeinen Wohlstand zu leisten, für den ihm im Gegenzug ein angemessenes, mindestens subsistenzsicherndes Einkommen zusteht. Mit der marktvermittelten Arbeitsteilung entstehen soziale Verhältnisse, in denen die Gesellschaftsmitglieder deswegen eine besondere, »organische« Solidarität ausbilden können, weil sie sich in der wechselseitigen Anerkennung ihrer jeweiligen Beiträge zum gemeinsamen Wohlstand aufeinander bezogen wissen. Durkheim legt dabei besonderes Gewicht auf die Fairness und Transparenz der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Nach seiner Überzeugung kann die neue Wirtschafts-form die Funktion der sozialen Integration nur dann übernehmen, wenn sie zwei moralische Bedingungen erfüllt, die als kontrafaktische Unterstellungen in allen Austauschbeziehungen des Arbeitsmarktes wirksam sind. Damit die Beschäf-tigten den Arbeitsverträgen tatsächlich aus freien Stücken zustimmen können, muss erstens ständig dafür gesorgt sein, dass gleiche Ausgangsbedingungen bei dem Erwerb der notwendigen Qualifikationen herrschen und alle sozialen Beiträge gemäß ihres realen Werts für die Gemeinschaft entlohnt werden. Gerechtigkeit und Fairness sind somit für Durkheim keine normativen Ideale, die von außen an die kapitalistische Arbeitsorganisation herangetragen würden, sondern bilden innerhalb ihres Rahmens funktional notwendige Unterstellungen, ohne deren Inkraftsetzung ein Bewusstsein sozialer Zusammengehörigkeit nicht entstehen könnte. Um die Funktion der sozialen Integration erfüllen zu können, müssen die marktvermittelten Arbeitsverhältnisse aber nicht nur gerecht und fair organisiert sein, sondern auch der Forderung genügen, die einzelnen Tätigkeiten möglichst transparent und übersichtlich aufeinander zu beziehen.

 

Komplexität und Transparenz

 

Damit liefert Durkheim zugleich ein Kriterium für die erforderliche Gestaltung der individuellen Tätigkeiten. Von jedem einzelnen Arbeitsplatz aus muss überblickt werden können, in welchem kooperativen Zusammenhang die eigene Tätigkeit mit der aller anderen Beschäftigten steht; das jedoch ist nur möglich, wenn die verschiedenen Arbeitsvollzüge so komplex und anspruchsvoll sind, dass sie der Einzelne aus seiner Perspektive mit dem Rest der gesellschaftlich notwendigen Arbeiten in einen halbwegs sinnvollen Zusammenhang bringen kann. Die Forderung nach einer qualitäts-reichen, sinnvollen Arbeit ist demnach ein Anspruch, der in den normativen Bedingungen des kapitalistischen Wirtschaftssystems selbst verankert ist: »Die Arbeitsteilung setzt voraus, daß der Arbeiter, statt über seine Aufgabe gebeugt zu bleiben, seine Mitarbeiter nicht aus den Augen verliert, auf sie einwirkt und von ihnen beeinflusst wird. Er ist also keine Maschine, die Bewegungen ausführt, deren Richtung er nicht kennt, sondern er weiß, daß sie irgendwohin tendieren, auf ein Ziel, das er mehr oder weniger deutlich begreift. Er fühlt, daß er zu etwas dient.« Es mag sein, dass auch Hegel solche Vorstellungen vor Augen hatte, als er von der »bürgerlichen Ehre« als der Form von Anerkennung sprach, die jedem Mitglied der marktvermittelten Arbeitsgesellschaft zuzustehen hat; aber erst Durkheim ist konsequent genug, die normativen Implikationen der neuen Vergesellschaftungsform so weit auszubuchstabieren, dass auch Ansprüche auf eine als sinnvoll erlebbare Arbeit darunter fallen.

 

Eine nicht-utopische, immanente Chance, die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen zu kritisieren, bestünde daher darin, an diesen impliziten Voraussetzungen anzuknüpfen und sie erneut zur Geltung zu bringen.

 

Dieser Text ist die gekürzte Version eines gleichnamigen Vortragsmanuskripts.

 

http://www.polar-zeitschrift.de/polar_04.php?id=175

 


 

Birger P. Priddat

 

Wert, Kompetenz, Kommunikation, Spiel. Elemente einer modernen Theorie der Arbeit

 

In Deutschland herrscht noch immer eine moralische Auffassung von Arbeit, in der Pflicht einen höheren Wert hat als der Anreiz, in der Arbeit schöpferisch tätig zu sein. Arbeit darf kein Spiel sein; damit entgeht der Arbeit aber das innovative Moment.

 

Arbeit gliedert sich dreifach: 1. in die Dimension der Arbeit als ausführende Herstellung von etwas (und zugleich als Erwerbsquelle); 2. in die Dimension der Arbeit an sich selbst (Qualifikation und Anerkennung der Kompetenz); und

3. in die Dimension der Arbeit als Kommunikation mit anderen (mit Mitarbeitern im Unternehmen, mit Kunden und mit Mitarbeitern anderer Unternehmen). Die Dimensionen bauen auf die jeweils vorherigen auf, komplettieren sie. In diesem Sinne ist die Arbeit im 18. Jahrhundert von der Komplexion 1, im 19. Jahrhundert von der Komplexion 1,2 und

die modernen Arbeit des 20. Jahrhunderts von der Komplexion von 1,2,3.

 

Die 1. Dimension ist in der Neuzeit entfaltet worden: Hierbei wird Arbeit zum einen als Transformation von Natur in Wertform, später in Nutzen verstanden (Produktion); zum anderen ist Arbeit in Höhe der Erhaltung der künftigen Arbeitsfähigkeit (Reproduktion) zu entlohnen: Arbeit schafft Wert durch (a) die Leistung selbst und (b) durch das Einkommen.

Die 2. Dimension ist im 19. Jahrhundert betont worden: dass die Arbeit den Arbeitenden auch für sich selbst bilden müsse. Sie ist zuerst als philosophische Anforderung, später als sozialreformerische »Humanisierung« der Industrie-arbeit formuliert worden (»Aufhebung der Entfremdung durch Arbeit«); zuletzt wurde sie zur praktischen Anforderung der Qualifizierung: Arbeit schafft Kompetenz.

Die 3. Dimension ist im (späten) 20. Jahrhundert hinzugekommen: Kooperation und Kommunikation. Diese Dimension eröffnete sich erst, nachdem die hierarchisch-arbeitsteilige Produktion an ihre Grenzen stieß; wir befinden uns heute inmitten dieses Prozesses. Hinzu kommt die »virtuelle Revolution« der neuen Kommunikationstechnologien: Arbeit schafft Kommunikation.

Jetzt - am Übergang zum 21. Jahrhundert, zugleich zum 3. Jahrtausend - kommt eine 4. Dimension hinzu, deren Valenz wir gerade erst zu entdecken beginnen: dass die Arbeit eine offene Beziehung zum Spiel hat. Arbeit wird dort Spiel, wo sie nicht mehr als festgelegte Aufgabe - in einer hierarchischen Organisation - ausgeführt werden soll, sondern wo sie in den lernenden Prozessen die Arbeitenden ihre Kompetenz immer wieder neu entwickeln lässt, und wo sie in den inter-aktiven Prozessen der Kooperation und Kommunikation ihr Ergebnis erst finden muss. »Spielerisch« (nicht »verspielt«) sich in Interaktionen einzulassen, deren Resultate notwendig nicht vorhersagbar sind, wird neue Kompetenzen erfor-dern, die man gerne als »kreativ«, »innovativ« etc. bezeichnet.

Systematisch kann hier nur erst festgehalten werden, dass die 4. Dimension der Arbeit den neuen Umstand bezeichnet, dass die Arbeit sich immer wieder neu erfinden muss. In der Relation zum Spiel wird die Riskanz sichtbar, in die diese offene Form der Arbeit kommt. Diese Riskanz aber ist keine unnötige Restriktion, sondern der Raum der Selbsttätigkeit und Erfindungen, der notwendig geöffnet sein muss, um den sich ändernden Marktanforderungen gerecht zu bleiben.

 

Arbeit als Spiel?


Wert, Kompetenz, Kommunikation und Spiel sind die signifikanten Dimensionen der Arbeit im Übergang zum nächsten Jahrhundert: Im Wert wird das zweckhafte Resultat der Arbeit benannt; in der Kompetenz die unbedingte Voraus-setzung der gelingenden Arbeit; in der Kommunikation das soziale/interaktive Verfahren, die soziale Anerkennung; und im Spiel die Offenheit der Arbeitsprojekte.

 

Indem das Spiel ins Spiel kommt, bleiben die ersten drei Dimensionen der Arbeit zwar vollständig erhalten, werden aber neu interpretiert: Die Kommunikation/ S(piel) (inklusive der durch sie gestalteten Koordination) ist – aus der neuen Perspektive der Spiel/Arbeit-Relation – kein Informationsgeschehen, sondern eine Erörterungsarbeit, in der zwischen Mitarbeitern, Kunden und Externen gemeinsam festgestellt und begründet wird, was jeweils zu tun ist; die Kompetenz/S ist nicht mehr nur eine Eingangsbedingung für die Arbeitsausführung, sondern ein perennierender Lernprozess, der wesentlich durch das spielerische Riskieren/ Probieren und durch die kommunikative Erörterung sich verändert; der Wert/S der Arbeit wird schlicht dadurch neu bestimmt, dass die Herstellung von etwas nicht allein durch definierte Arbeitsprozesse geschieht, sondern durch zum Beispiel die Ko-Operation von »Kunden«, die traditionell für die gesamte Arbeit zahlen. Wie aber wird eine Arbeit bewertet, an der die »Kunden« mit-gearbeitet haben?

 

Erst wenn die Arbeiter- bzw. Angestelltenindividuen – auch diese Unterscheidung wird hinfällig werden – die Arbeit als Nexus von Wert, Kompetenz, Kommunikation und Spiel zu betrachten gelernt haben, werden die Elemente vital, die die zwischenzeitliche (industriegesellschaftliche) Trennung von Arbeit und Leben aufzuheben beginnen lassen. Dazu ist der gleiche Nexus in den Organisationen zu realisieren: als Angebot, das die Individualität der Arbeitenden zu spiegeln bereit ist. Niemand wird sich einbilden können, dass Routinen und angestrengte Monotonie beim Arbeiten aufhören werden; aber es kommt entscheidend darauf an, in welchem Kontext diese Anstrengungen gefordert werden. Wenn es ein selbst gestellter Kontext ist, sind die anstrengendsten Tätigkeiten genauso bewältigbar wie die ungewohntesten, neuen, überraschenden.

 

»Individualität« ist selbst eine Kompetenz, die zu den Standards neuzeitlicher Modernisierung des Abendlandes gehört. In den US-amerikanischen Organisationswelten wird sie hofiert; nicht in den japanischen. In der abendländisch-neuzeit-lichen Kompetenz aber steckt noch etwas, was sie von den US-amerikanischen Organisationswelten trennt: Es ist keine Individualität per se, sondern eine interaktiv bereits immer schon vermittelte: Arbeit ist auf Kooperation angelegt.

 

Exzentrizität als Asset


Die Chancen Europas – das sich aus anderen Gründen gerade zu einer Union verbinden will – stehen ganz gut, wenn wir aufhören, uns an unsere Traditionen der 1. und 2. Dimension der Arbeit zu binden, sondern uns der 3. und 4. Dimension öffnen. Gerade das, was wir, angesichts der hohen Arbeitslosenquoten, als inadäquate Antwort vielleicht meinen bei-seite schieben zu sollen: die sich öffnende kommunikative Dimension der Arbeit, ist eine Potenz der europäischen Na-tionen, die zum einen gerade ihre Traditionen – Arbeit als Zusammenarbeit zu verstehen – reaktualisiert, aber nicht im Gespensterkleid des 19. Jahrhunderts, das die Fahne der »Solidarität« hochhielt, sondern in der Extension der Individua-lität und ihrer Kommunikationen. Die »Zukunft der Arbeit« ist im Keim unserer Kultur angelegt, aber ihr konservativ-konservierender Gestus hindert uns, den nächsten Schritt zu tun: ihre Individualisierung zu betreiben, um ihre Exzentrik zu fördern.

 

Es ist eine Paradoxie des Kapitalismus, dass seine Form der Kultur, das Unternehmertum, kommen muss, um die Arbeiter dazu zu bringen, die Arbeit interessant zu finden, weil sie sie – innerhalb reorganisierter Organisationen – selber unternehmen sollen. Anstatt – wie in den sozialistischen Konzeptionen – die Arbeit an kollektive Organisations-prozesse zu binden und die Unternehmer abzuschaffen, zu »enteignen«, d.h. in die Zunftrepublik zurückzuführen, wird jetzt eine neue Konzeption virulent, in der die Arbeiter frei werden, Unternehmer im Unternehmen zu werden. Anstelle der Abschaffung die Verallgemeinerung der Unternehmer! Nach dem sozialistischen Experiment läuft jetzt das gegen-teilige, entrepreneuriale an.

 

Das ist konsequent: auf die Erfahrungswelten kollektiver Lebensformen können wir heute nicht mehr zurückgreifen, also greifen wir vor auf die mögliche Welt individueller Kreativität. Man darf sich nichts einbilden über die Breiten-wirkung, aber dass es ein neuer Stil der Arbeit ist, kann man nicht leugnen. Versuchen wir das nächste epochale Experiment!

 

http://www.polar-zeitschrift.de/polar_04.php?id=177#177

 


 

Christian Neuhäuser

 

Was machen Sie eigentlich so? Arbeit, Arbeitslosigkeit und Würde

 

Mit der Arbeit steht es wie mit manch anderen Übeln und Lastern auch. Ohne sie geht gar nichts, mit ihnen aber auch nicht viel. Ein Vergleich faktischer Arbeit mit der Idee eines Lebens in Würde zeigt schnell, warum das so ist.

 

Arbeit wird in unserer Gesellschaft verstanden als abhängige Lohnarbeit mit dem Zweck, den so genannten eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Das hat etwas Entwürdigendes an sich. Aber freiwillig oder erzwungenermaßen keine Arbeit zu haben, ist nicht weniger entwürdigend - und hierin steckt das Dilemma. Wer arbeitet, ordnet sich unter und knechtet, instrumentalisiert sich selbst, wird Teil des Systems, zum kleinen Rad in der großen Maschine. Wer arbeitet, verliert Integrität, Selbstachtung und Respekt, kurzum jede Würde. Wer nicht arbeitet, wird einsam und depressiv, nutzlos, zur Belastung und ganz schnell zum ›Sozialschmarotzer‹. Auch wer nicht arbeitet, verliert Integrität, Selbst-achtung und Respekt, kurzum jede Würde. Arbeit hat etwas Würdeloses und Arbeitslosigkeit auch. Also was tun?

 

Ein Ausweg scheint darin zu bestehen, das Dilemma einfach wegzudenken, die Idee von Arbeit ganz abzuschaffen und die - sagen wir - Ostberliner Republik der reinen Tätigkeit und kreativen Freiheit auszurufen. Doch nichts ist so viel einfacher gesagt als getan, und damit wäre dieser Vorschlag auch schon hinfällig. Stattdessen lohnt es sich, noch einmal einen Schritt zurückzutreten und danach zu fragen, warum es eigentlich entwürdigt, arbeiten zu müssen (?), und warum es entwürdigt, nicht arbeiten zu dürfen (!). Zunächst zum scheinbar eindeutigeren Fall, der Arbeitslosigkeit: Warum und wie verletzt Arbeitslosigkeit die Würde eines Menschen?

 

Arbeitslosigkeit und Entwürdigung hängen nicht unbedingt zusammen: Könige haben nie wirklich gearbeitet. Es muss also bestimmte entwürdigende Umstände geben, die den meisten Arbeitslosen unserer Zeit zu schaffen machen. Wer heute arbeitet, tut dies zumeist, um sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Wer nicht arbeitet, ist auf private oder staatliche Transferleistungen angewiesen. Hierin liegt ein wichtiger Aspekt der Entwürdigung: Insofern Arbeitslose nicht die Möglichkeit haben, für sich selbst zu sorgen, wird ihre Selbstachtung verletzt. Das liegt nicht an der Fürsorge allein, denn für eine schwerkranke Person muss es nicht entwürdigend sein, versorgt zu werden. Das Problem entsteht erst dadurch, dass viele Arbeitslose nicht für sich sorgen können, obwohl sie es eigentlich könnten. Es liegt nicht an ihnen, dass sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen; ihre Einschätzung, dass sie in der Lage wären, zu arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, trifft zu. Strukturelle Faktoren machen es ihnen unmöglich, durch Arbeit auf sich selbst zu achten. Die königliche Erwerbsarbeitslosigkeit hingegen ist freiwillig. Selbstbild und Selbstachtung könnten besser nicht übereinstimmen, wie verquer beide auch sein mögen.

 

Arbeitslosigkeit ist aber noch aus einem zweiten Grund entwürdigend, der mit der sozialen Dimension von Würde zu tun hat und schon durch den Mangel markiert wird, der im Wort Arbeitslosigkeit zum Ausdruck kommt. Wer nicht arbeitet, hat Schwierigkeiten, auf das allgegenwärtige Was machen Sie denn so? eine unverfängliche Antwort zu geben. Denn hinter dieser so unschuldig wirkenden Frage verbergen sich in einer Erwerbsarbeitsgesellschaft noch zwei andere: Welchen Sinn hat Ihr Leben? Und: Was tragen Sie zum Gemeinwohl bei? Abstrakt lassen sich natürlich beide Fragen zurück-weisen: Was für ein Sinn und welches Gemeinwohl können hier schon gemeint sein? Doch praktisch geht es um gesell-schaftliche Anerkennung, darum, als grundsätzlich Gleiche ein würdevolles Leben führen zu können. In unserer Gesell-schaft bedarf es dazu einer ganzen Menge sozialen und kulturellen Kapitals aus anderen Quellen, wenn man nicht zumindest auf Sinn und Gemeinnutzen der eigenen Lebensweise als Arbeitende verweisen kann. Das aber greift die Würde der Betroffenen und nicht nur ihre Ehre an, weil es nicht um einen etablierten sozialen Status als Hochschul-lehrerin oder Kunstschaffende geht, sondern darum, überhaupt als respektables Mitglied der Gesellschaft akzeptiert zu werden.

 

Wir sind die Roboter


Warum dann nicht allen Menschen irgendeine Arbeit geben? Das würde das Problem nicht aus der Welt schaffen. Denn erstens ist es einfach pervers, auch nur die soziale Würde eines Menschen an seine Arbeit und ganz besonders an seine marktförmig verwertbare Arbeit zu binden. Wie viele Eigenschaften, Fähigkeiten und Eigenheiten bleiben da völlig un-berücksichtigt? Zweitens geht die Erwerbsarbeit bekanntlich langsam, aber sicher aus – schon jetzt gibt es weltweit mehr als eine Milliarde Arbeitslose, Tendenz steigend. Drittens reicht es sicher nicht, einfach irgendeine Arbeit anzu-bieten, denn auch Arbeit kann entwürdigen. Wer einen Job ohne Gestaltungsspielraum hat, in dem die Aufgaben in keiner Weise selbst bestimmt und eigenverantwortlich erfüllt werden können, arbeitet nicht als Mensch, sondern als besonders beweglicher und gut programmierbarer Roboter. Das ist entwürdigend, weil in solchen Arbeitszusammen-hängen die Selbstachtung als Mensch, als vernünftiges, moralisches und empfindsames Wesen kaum aufrecht zu erhalten ist. Auch hier ist die Entwürdigung darin begründet, dass die Arbeiterin nicht selbstständig und eigenverant-wortlich handeln kann, obwohl sie es ja könnte. Denn das wäre nicht effizient und vielleicht sogar gefährlich, zumindest für die hierarchischen Unternehmensstrukturen. Lean production und andere Modelle der Mitarbeiteraktivierung schaffen hier keine Abhilfe, denn ihnen geht es nur darum, dass die Arbeitenden genau wissen, was von ihnen verlangt wird, ohne dass es ihnen extra gesagt werden muss.

 

Jemanden bloß als Humanressource aufzufassen und nach dem Beitrag zu den Quartalszahlen zu beurteilen, heißt diese Person zu instrumentalisieren. Denn dann geht es nicht darum, diesem besonderen Menschen mit seinen Fähig-keiten und Schwächen, Bedürfnissen und Beiträgen keinen Gestaltungsraum im sozialen Gefüge zu geben – vielmehr wird er eine beliebig austauschbare Ressource, ein mehr oder weniger nützliches Ding. Dies wirkt sich auch auf das Verhältnis der Arbeitenden untereinander aus, die ihr Miteinander in maximal rationalisierten und systematisierten Arbeitswelten als verdinglichte Austauschbeziehung wahrnehmen. Jede Menschlichkeit und die dazu gehörige Würde werden zuhause gelassen: Als Mensch würde ich ja ganz anders handeln, aber als Managerin… Wenn ich als Mediziner könnte, wie ich wollte! Aber als niedergelassener Arzt… Ich verstehe ja ihren Ärger, aber als Kundenbetreuer… Nahezu völlig regel- und moralbefreite Marktmechanismen und Unternehmensstrukturen, aber auch die Folgen einer allgegen-wärtigen Bürokratie organisieren die meiste Arbeit auf diese für alle Beteiligten erniedrigende Weise.

 

Würde für alle


Angesichts dieses Szenarios erscheint eine Gesellschaft, in der weder Arbeiten noch Nichtarbeiten in irgendeiner Weise entwürdigen, ein frommer Wunsch zu bleiben. Die Würde des Menschen ist möglicherweise nicht zerstörbar, aber offen-sichtlich äußerst fragil und leicht zu verletzen. Tatsächlich spricht dies jedoch nicht gegen, sondern für Bemühungen, beiden Lebensweisen, mit und ohne (Erwerbs-) Arbeit, zu ihrer Würde zu verhelfen: Bedingungsloses Grundeinkommen, Ausweitung des Ehrenamts, Demokratisierung von Betrieben, Mindestlohn, Anerkennungserzählungen aktiver Arbeits-loser und Halbierung der maximalen Arbeitszeit gehen in diese Richtung. Bei all dem geht es nicht einfach nur darum, irgendwelche Systeme zu stützen oder stürzen – es geht darum, einzelne Gesellschaften und globale Strukturen so zu gestalten, dass sie den Menschen, und zwar den arbeitenden wie den nichtarbeitenden, ein Leben in Würde ermög-lichen. Dazu gehört, neben dem Zugang zu Grundgütern, eben auch die Möglichkeit, auf sich selbst zu achten, und die tatsächliche Möglichkeit, als Arbeitende oder Nichtarbeitende in menschlicher Würde, als selbstbestimmtes, empfind-sames, bedürftiges, kreatives und vor allem soziales Wesen zu leben.

 

http://www.polar-zeitschrift.de/polar_04.php?id=178#178