Populismus


 

„Große Teile des Volkes sind dumm“

 

 

Nicht zufällig gehörte die rechtsnationale Politikerin Marine Le Pen zu den ersten, die Donald Trump zu seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl in den USA gratulierten. Weltweit scheint der Populismus auf der Erfolgsspur. Lässt sich daraus auf ein Versagen der bisherigen Eliten schließen? Nicht automatisch, meint der Politikwissen-schaftler Herfried Münkler.

 

Man müsse anerkennen, dass es große Teile des Volkes gebe, „die sind nicht besonders informiert, geben sich auch keine Mühe, glauben aber dafür umso besser genau zu wissen, was der Fall ist. Also: sie sind dumm.“ Das heiße aber nicht, dass man sie nicht klüger machen könne. Und das sei die Aufgabe der Eliten.

 

Moderation: Susanne Führer · 19.11.2016 - Deutschlandfunk Kultur

 

 

Das Interview im Wortlaut:

 

Deutschlandradio Kultur: Der Wahlsieg Donald Trumps in den USA beschäftigt weiterhin viele Menschen, auch im Hinblick auf die Frage, was das für uns in Europa bedeuten mag. Am Anfang der Wahlnachlese stand ja doch so ein bisschen die Wählerbeschimpfung im Vordergrund, die ist jetzt abgelöst worden von Kritik, auch von Selbstkritik, an

den Eliten. Ich sage mal Eliten, wahlweise könnte man auch sagen am sogenannten Establishment oder am Mainstream, also Kritik an den machthabenden Institutionen und an den Menschen, die in diesen Institutionen arbeiten, zum Beispiel Kritik an den amtierenden Regierungen, den etablierten Parteien, der Wissenschaft oder auch den Medien.

 

Zu Gast in Tacheles ist heute ein Mitglied dieser Elite, einer der führenden Vertreter seines Fachs, nämlich der Politik-wissenschaftler Herfried Münkler.

 

Herfried Münkler: Hallo.

 

Deutschlandradio Kultur: Schönen guten Tag, Herr Prof. Münkler.

 

Der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hat nach der Trump-Wahl geschrieben, ich zitiere: „Wir als politische Verantwortungseliten sollten aufhören, die Bevölkerung zu kritisieren.“ Und er meint: Stattdessen sollten sie eben eher die Probleme der Eliten selbst in den Blick nehmen.

 

Was mich zu der Frage führt, ob man aus der Tatsache, dass Politiker wie Donald Trump oder auch Marine Le Pen Erfolg haben, also, dass Populisten Erfolg haben, schließen kann, dass automatisch die Eliten versagt haben.

 

Herfried Münkler: Nein, das kann man nicht schließen. Dann müsste man gewissermaßen sich zunächst noch einmal anschauen, welche Alternativen hatten sie, wo haben sie etwas falsch gemacht: Und inwieweit kann man das im Nach-hinein, wenn man sehr viel mehr Zeit und sehr viel mehr Wissen hat und es immer leicht fällt, alles besser zu wissen, inwieweit kann man im Nachhinein zeigen, welche Entscheidung von ihnen falsch gewesen ist?

 

Deutschlandradio Kultur: Wer jetzt „ihnen“?

 

Herfried Münkler: Also, der Eliten. Das müsste man ihnen ja vor Augen führen.

 

Es gibt auch Situationen, in denen Alternativen gar nicht gegeben sind. Also, vielleicht war Frau Clinton die falsche Kandidatin gegen Trump. Gut, man kann sagen, der Umstand, dass Bernie Sanders als Gegenkandidat von Frau Clinton ihr so zu schaffen gemacht hat, war eigentlich ein Hinweis darauf, dass es eine sehr grundlegende Anti-Establishment-Stimmung in der amerikanischen Bevölkerung gibt, denn Sanders war ja auch ein Vertreter des Anti-Establishment, und dass man möglicherweise, wenn man jemanden gegen den Republikaner oder den Pseudo-Republikaner Trump stellt, der so sehr mit dem Establishment verbunden ist, einen Fehler macht.

 

Aber das wissen wir alles im Nachhinein sehr viel genauer als man das im Gefecht selber weiß. Insofern möchte ich jetzt auch für mich reklamieren, dass ich gewissermaßen der Wissenschaftler bin, der, „wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, sein Grau in Grau malt“, und nicht der Besserwisser, der im Frühjahr oder Sommer dieses Jahres alles schon gewusst hat.

 

Deutschlandradio Kultur: Aber das zeigt dann ja doch wiederum ein Versagen, zumindest dann der Elite der demo-kratischen Partei an, wenn Sie sagen: man kann sich fragen, war Hillary Clinton die richtige Kandidatin? Mir geht’s nur darum, dass man sagt, wir lassen jetzt mal die Wählerbeschimpfung bleiben. Weil, man kann ja auch sagen, die Leute sind einfach dumm und die rennen den Populisten hinterher …

 

Herfried Münkler: Das sind die ja vermutlich auch.

 

Deutschlandradio Kultur: … und die sind wütend ...

 

Herfried Münkler: Aber das hilft ja nichts. Also, man kann das den Leuten sagen, aber dadurch macht man sie nicht klüger. Und man macht Menschen, die in diesem Sinne auch vielleicht bösartig sind, dadurch nicht gutartig, dass man sie beschimpft. Das bringt also nicht sehr viel. Das ist vielleicht eine Feststellung. Das ist eine strategische Disposition. Niccolò Machiavelli, mit dem ich mich mal sehr intensiv beschäftigt habe, sagt: Na ja, der Pöbel folgt sowieso immer nur dem Schein. – Das kann man jetzt auch bestätigt finden.

 

Aber für Machiavelli ist das jetzt nicht etwas, woraus er schlussfolgert, wir müssen den Pöbel verachten, sondern wir müssen deswegen eine kluge Politik machen, dass der Schein nicht gegen uns spielt, sondern für uns spielt. Letzten Endes ist das die Herausforderung für politische Eliten.

 

Deutschlandradio Kultur: Sie haben ja gerade so ungeniert gesagt, Herr Münkler, ja, die Wähler sind ja wahrscheinlich auch dumm. Das kann natürlich kein Politiker öffentlich sagen. Und von unseren, also den deutschen Politikern, hat man ja gerade in der letzten Zeit, also seit den Wahlerfolgen der AfD vor allem, immer wieder diesen Satz gehört: Man müsse die Sorgen der Bürger ernst nehmen. Was ja eine kuriose Aussage ist, weil man eigentlich erstmal erwarten würde, dass das ohnehin passiert.

 

Aber jetzt in diesem Zusammenhang ja noch kurioser, weil ich mich dann frage: Was heißt das: „ernst nehmen“? Also, die politische Atmosphäre ist ja so aufgeheizt, und wenn jetzt jemand sagt, Ausländer sind alle Pack und Dreck und gehören abgeschoben oder Homosexuelle gehören in den Knast, wie soll ich das ernst nehmen?

 

Herfried Münkler: Ja, Sie haben das ja schon im Kern beschrieben. Selbstverständlich ist Politik Tag und Nacht damit beschäftigt, die sogenannten Sorgen und Nöte der Bürger ernst zu nehmen. Dafür haben sie die Demoskopen, die tagein, tagaus bei der Politik vorsprechen und denen das erläutern und Grundstimmungen darlegen usw.

 

Und wenn Politiker sagen, sie wöllten hinfort oder sie sollten die Sorgen der Bürger ernst nehmen, dann hat das so eine performative Bedeutung. Das soll gewissermaßen ein bisschen schulterklopfend auf diejenigen zugehen, die das Gefühl haben, sie seien abgehängt, sie würden nicht beachtet. Es hat so eine gewisse Hinwendung, ein Herunterbeugen, fast ein Streicheln, hat vermutlich die Funktion – jedenfalls bei Horst Seehofer würde ich das mal so vermuten – etwas po-pulistisches Wasser in den eigenen Elitenwein hineinzugießen, damit man nicht so elitär aussieht.

 

Deutschlandradio Kultur: Umgekehrt ist ja das Problem, wenn man sagt, mit diesen lohnt es sich gar nicht zu dis-kutieren – man denke an die Ereignisse in Dresden am 3. Oktober –, dann bestätigt man ja auch wieder dieses Vorurteil: Na ja, die hören ja sowieso nicht zu.

 

Herfried Münkler: Ja, ich meine, das ist eine lange Diskussion der Parteiendemokratie. Und in der Interpretation des Grundgesetzes und teilweise im Grundgesetz selber ist ja auch der Gedanke, dass die Parteien an der Willensbildung des Volkes mitwirken. Das muss man vermutlich schon so verstehen, dass sie auch eine gewisse Führungs- und Leitungsaufgabe haben, Willen zu bündeln, Informationen zu verteilen, letzten Endes auch Bevölkerung zu erziehen.

Das sage ich so ganz bewusst, denn in der Geschichte Deutschlands ist es ja so, dass dieses Land mal sich über zwölf Jahre sehr tief nicht nur in Dreck und Niederlage, sondern auch in Schuld und Verbrechen hinein manövriert hat und dass es in dieser Situation keineswegs das Volk gewesen ist, die da revoltiert haben und ihrem Herrn an der Spitze die Gefolgschaft verweigert haben, sondern es waren relativ kleine Teile der Eliten, die versucht haben, in Form eines Staatsstreiches und eines Putsches diese Gruppierung loszuwerden. Das ist im Prinzip etwas, was in die DNA eines politisch bewussten Bundesbürgers Eingang gefunden hat oder haben sollte.

 

Deutschlandradio Kultur: Aber Sie haben zu Recht gesagt, ein relativ kleiner Teil der Eliten, also nicht, dass es so an-kommt, die Eliten hätten Hitler bekämpft und das Volk hätte ihm zugejubelt.

 

Herfried Münkler: Nein, nein, sicherlich nicht, sondern man kann sagen, Hitler schmiedete ein Bündnis mit den Eliten. Teilweise ist das schon im Vorfeld seiner Ernennung zum Reichskanzler der Fall. Definitiv ist das der Röhm-Putsch. Und das Ende dieses Bündnisses ist das Attentat. Von nun an ist Hitler gegenüber diesem Typ von Eliten, den preußischen Eliten und sicher auch allen, die einen Adelstitel tragen, zutiefst skeptisch und lässt ja auch einen nicht unerheblichen Teil von ihnen in Plötzensee und Moabit hinrichten.

 

Das sind also zehn Jahre, in denen er ein sehr enges Bündnis mit ihnen gehabt hat. Das gilt im Übrigen so ähnlich für Mussolini. Heißt: Man kann eigentlich gar keine Politik machen, wenn man nicht in einem Bündnis mit bestimmten Eliten steht, weil man sozusagen aus dem Stand heraus so gar nicht weiß, wie Apparate funktionieren.

 

Ohne jetzt diesen Vergleich zu eng machen zu wollen, gilt das natürlich auch für alle populistischen Politiker, die an die Macht kommen, gilt auch für Trump, der sozusagen einen Anti-Establishment-Kurs, eine Darstellung, eine Rhetorik fahren kann. Aber um den Apparat am Laufen zu halten, braucht er natürlich diese administrativen Eliten und militä-rischen Eliten, die diplomatischen Eliten. Ohne die kommt er nicht durch. Mit den kulturellen Eliten vielleicht ist das nicht so zwingend. Das sind ja auch eher Deutungs- und Kritikeliten. Gegen die kann man durchaus Politik machen. Aber um das operative Geschäft zu bewältigen, kann man nicht sagen, ich habe hier ein paar Freunde mitgebracht und ich über-nehme jetzt diesen Laden.

 

Deutschlandradio Kultur: Sie haben vorhin gesagt, Herr Münkler, dass Politiker auch die Aufgabe haben, das Volk zu erziehen. Dann muss ja vielleicht Donald Trump doch seine Erziehungsmethoden ändern, wenn er ein erfolgreicher Präsident sein will.

 

Ich habe Zahlen noch von vor der Wahl, die habe ich von dem Politologen Jan-Werner Müller, der sie aus Umfragen haben wird, dass 84 Prozent von Trumps Anhängern in Florida meinen, Hilary Clinton gehöre ins Gefängnis. Und vierzig Prozent meinen, sie sei buchstäblich eine Dämonin. – Da ist doch dann was in den Erziehungsmethoden schief gelaufen.

 

Herfried Münkler: Zweifellos. Ich meine, ich hatte mich in meinem Beispiel ja auch sehr stark auf Deutschland bezogen, was aufgrund seiner eigenen Geschichte im 20. Jahrhundert diesen Gedanken ja bis ins Grundgesetz hineingeschrieben hat, dass nicht immer Volkes Stimme Gottes Stimme sei. Das ist etwas, was wir so nicht glauben, nicht glauben können.

 

Deutschlandradio Kultur: Okay, dann nehme ich mal eine deutsche Zahl. Die bezieht sich jetzt auf die Medien. Ich glaube, ungefähr vierzig Prozent aller Befragten meinen, dass die Medien in Deutschland von der Bundesregierung gesagt bekommen, was und worüber sie schreiben oder berichten sollen.

 

Herfried Münkler: Ja, gar keine Frage. Da ist in den letzten Jahrzehnten, muss man, glaube ich, sagen, eine Menge schief gelaufen. Nun ist die Katastrophe des NS mit dem Kriegsende ja auch schon mehr als siebzig Jahre her. Das heißt sozusagen, sie verliert an Präsenz in unserer Wahrnehmung von Strukturen. Man kann freilich sagen, die bundes-deutsche Bevölkerung hat im Vergleich mit anderen europäischen Bevölkerungen eine sehr hohe Populismusresistenz aufgewiesen die ganze Zeit. Aber das hält natürlich nicht auf Dauer. Und politische Erziehungs- oder man sagt vielleicht etwas schicker politische Bildungsprozesse müssen auch immer wieder neu aufgelegt und durchgeführt werden. Also, das ist nicht so leicht.

 

Nehmen wir mal das Beispiel Kompromissbildung. Je mehr einer Bevölkerung, einer Bürgerschaft an Politik partizipie-ren, desto mehr haben einen Sinn für Kompromisse, wissen das zu schätzen. Populismus ist unter anderem auch, das

ist keine erschöpfende Definition, eine Verachtung gegenüber dem Kompromiss. Die Vorstellung, wir sind das Volk,

wie das ja auch bei Pegida in Dresden gerufen wird, wir sind das Volk und wir haben im Prinzip die Letztentscheidungs-instanz, egal, wie klug wir sind.

 

Dem hat das Grundgesetz schon eine Reihe von Riegeln vorgeschoben durch die Unveränderbarkeit von Teilen der Verfassung, aber auch Zweidrittelmehrheit und letzten Endes das Bundesverfassungsgericht als die Institution, die so manches dann überprüft.

 

Also, wir haben eine sehr starke Vorstellung davon, dass die Willensbildung des Volkes etwas ist, was schwierig ist und woran Politik teilhaben muss und wo sie den Leuten auch erklären muss, was die Probleme von Entscheidungen sind und was mögliche Folgen sind.

 

Deutschlandradio Kultur: Sie haben gerade gesagt, Herr Münkler, es sei in den vergangenen Jahrzehnten viel schief gelaufen in Deutschland, was man ja vielleicht auch an diesen Umfragewerten zur Presse, auch zur sogenannten Lügen-presse sehen kann oder auch an den guten Umfragewerten eben für die AfD, an den Pegida-Demonstrationen. – Was ist denn schief gelaufen?

 

Herfried Münkler: Vielleicht zwei Dinge, nämlich erstens: Wir haben in wachsendem Maße Politikvermittlung aus dem Parlament heraus in Talk-Shows verlagert. Das Parlament ist sicherlich auch der Ort kontroverser Diskussionen, aber zugleich der Ort der Bildung von Kompromissen. Das ist in Talk-Shows nicht erforderlich, im Gegenteil. Die Logik der Aufmerksamkeitsbündelung von Talk-Shows ist, dass man im Prinzip eine Prämie auf möglichst extreme Auffassungen auszahlt, weil die in höherem Maße Aufmerksamkeit mobilisieren können. Denken wir nur an die eigentümliche Frau

Illi, die neulich bei Anne Will gewesen ist in ihrer voll verschleierten Form. Aber warum man sich gut…

 

Deutschlandradio Kultur: Was Sie mit dem Parlament gesagt haben, das stimmt ja sozusagen theoriepolitisch, also in der politischen Theorie. In der Praxis sind es ja die Ausschüsse, in denen die Kompromisse gefunden werden, nicht im Parlament.

 

Herfried Münkler: Ja, richtig, aber in der Wahrnehmung von Politik. Als ich ein junger Mann war, waren Parlaments-debatten, in denen natürlich auch solche Streiter wie Strauß und Wehner noch eine Rolle gespielt haben, eigentlich ein Ort, an dem die politische Kultur stattgefunden hat. Mit der Erfindung der Talk-Shows im Fernsehen ist das ausge-wandert. Also, der Bundestag ist doch eine relativ müde Veranstaltung.

 

Deutschlandradio Kultur: Das wird aber nicht der einzige Grund sein.

 

Herfried Münkler: Nein. Ich wollte auch nur sagen, das ist einer, aber es ist eine Prämie auf sehr extreme, ausgestellte Positionen und gleichzeitig eine Prämie auf das unverantwortliche Gerede, das man da haben kann. Im Parlament heißt das, wenn man die Mehrheit hat, muss man gewissermaßen das, was man gesagt hat, auch hinterher einlösen. Jeden-falls ist das der Anspruch. – Das ist der eine Gesichtspunkt.

 

Der andere ist: Wir haben nach der Wiedervereinigung viel zu wenig Aufmerksamkeit darauf verwandt, wie in der DDR die Nazizeit verarbeitet worden ist, und haben aus dem Auge verloren, dass die 'Nationalsozialismus' nie gesagt haben, bei denen hieß das immer 'Faschismus'. Das heißt, es ging nur um Kapitalismus, Sozialismus, die Rassenfrage spielte keine Rolle. Und relativ früh hat man sich dort als der Sieger der Geschichte gefühlt. Das heißt, diese Auseinander-setzung mit eigener Schuld, eigenem Tätertum, die hat dort nicht stattgefunden.

 

Und das ist für mich mit eine der Erklärungen dafür, warum erstens Pegida ein Dresdner oder ein sächsisches Phäno-men ist und warum auch, auch wenn die AfD in einer Reihe von westdeutschen Landtagen ist, aber die Zustimmung zur AfD in den neuen Bundesländern sehr viel höher ist. Das ist einfach verabsäumt worden, weil man gedacht hat, mehr als vierzig Jahre nach Kriegsende wird das doch kein Problem mehr sein.

 

Nur dann stellt sich heraus, es ist doch ein Problem, weil….

 

Deutschlandradio Kultur: Auch in Baden-Württemberg.

 

Herfried Münkler: Ja, ja, das will ich ja gar nicht bestreiten, dass es das auch gibt. Aber es gibt auch signifikante Dif-ferenzen zwischen Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern auf der einen und Baden-Württemberg auf der anderen Seite.

 

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja auch immer wieder den Vorwurf von konservativer Seite, dass die Mainstream-Medien, die Mainstream-Eliten, Wissenschaft, Politik usw. solche großen Zäune, Schutzzäune gezogen hätten im Namen der sogenannten politcal correctness. Donald Trump hat die ja immer eingerissen und ist dafür belohnt worden. Sehen Sie das in Deutschland wirklich als Problem? Sind die Tabus so groß?

 

Herfried Münkler: Ich würde jetzt nicht sagen, dass es ein dramatisches Problem ist, aber es spielt sicherlich eine Rolle, dass sozusagen in dem Sinne von political correctness ganz bestimmte Punkte nicht angesprochen werden durften. Und das ist aber etwas, was dadurch nicht aus der Welt ist und auch nicht kommunikativ aus der Welt ist, sondern man kann das ja dann auf den sozialen Medien durchaus finden.

 

Darüber muss man nochmal nachdenken, also inwieweit Verbeugungen vor political correctness möglicherweise den genau entgegengesetzten Effekt haben und natürlich sozusagen die deftige Sprache von Trump, die herabsetzende Sprache von Trump auch so etwas wie ein demonstratives Werben dafür gewesen, jetzt einmal wirklich wieder richtig das Maul aufzumachen.

 

Deutschlandradio Kultur: Wobei ich mich immer frage, was eigentlich diese berühmte political correctness, das ist so ein negativer Begriff geworden, was das eigentlich heißen soll. Wenn man sie abschafft, ist das dann ein Freibrief, um alle anderen Menschen zu beleidigen?

 

Aber es gibt zumindest, meine ich beobachtet zu haben, auch häufig in der politischen Diskussion seitens der sogenann-ten liberalen aufgeklärten Linken so eine Art Paternalismus. Sie sagten vorhin, ja, die Wähler sind eben auch dumm, die zum Beispiel Trump gewählt haben. Und hierzulande sagt man meinetwegen jetzt über – sagen wir mal – kriminelle Flüchtlinge, lasst uns mal lieber nicht drüber berichten. Das Volk ist zu dumm, um zu differenzieren. Die werden dann sagen, es sind alle Flüchtlinge kriminell.

 

Herfried Münkler: Ja. Gut, das würde ich jetzt aber auch für mich selber nicht eng schließen, sondern ich würde immer sagen: Ja, ja, das ist schon so, dass viele Leute wenig Ahnung von bestimmten Problemen haben, sei es, weil sie keine Zeit haben, sei es, weil sie sich nicht dafür interessieren. Aber das heißt nicht, dass man es ihnen nicht darlegen darf

und nicht darlegen sollte. Denn wenn man das nicht tut, also, wenn man gewissermaßen paternalistisch sozusagen mit bestimmten Sprechverboten, die man sich selber auferlegt, arbeitet, dann öffnet man eigentlich nur über kurz oder lang alle Türen des Misstrauens. Und dann…

 

Deutschlandradio Kultur: Und auch der Wut und auch berechtigterweise.

 

Herfried Münkler: Und auch der Wut und des Gefühls, wir werden hier an der Nase herumgeführt und Statistiken werden geschönt und derlei mehr. Also, auch wenn der Satz, glaube ich, nach wie vor gilt, nicht das Volk in seiner Gesamtheit, aber es gibt große Teile des Volkes, die sind nicht besonders informiert, geben sich auch keine Mühe, glauben aber dafür umso besser genau zu wissen, was der Fall ist. Also: sie sind dumm, wenn ich das mal so zusammen-fassen darf. Dann heißt das trotzdem nicht, dass man in der Demokratie sagen darf, deswegen sehen wir zu, dass wir sie aus dem Spiel heraus nehmen, indem wir ihnen bestimmte Informationen, die sie missverstehen könnten, missinter-pretieren könnten, vorenthalten. Das ist ganz falsch.

 

Das konnte man vielleicht früher, als man Informationsmonopole hatte. Da das heute nicht mehr der Fall ist, sollte man die Finger davon lassen, sondern Probleme ansprechen, über Probleme sprechen und in diesem Sinne auch darauf setzen, dass man Leute, auch wenn sie dumm sind, doch mit der Zeit klüger machen kann. – Da ich Hochschullehrer

bin, bin ich sozusagen mit diesem Problem ja professionell vertraut.

 

Deutschlandradio Kultur: Und dürfen die Hoffnung natürlich nicht aufgeben.

 

Herfried Münkler: Das will ich auch nie tun. Ich glaube auch, dass man sagen kann, in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts gilt nicht nur der Satz von Heiner Müller, „zehn Deutsche sind selbstverständlich dümmer als ein Deut-scher“, sondern es gilt auch die Beobachtung, die haben etwas gelernt im Verlauf ihrer Geschichte. Es müssen nicht unbedingt dieselben gewesen sein, aber als Kollektivsubjekt gibt es ein Lernen. Das kann man schon sagen. Das schließt aber auch ein, dass sie vorher dumm waren.

 

Deutschlandradio Kultur: Insgesamt kann man ja aber feststellen, dass sich schon der politische Diskurs nach rechts verlagert hat. Also, die AfD hat die Wahlerfolge und es gibt ja den einen oder anderen konservativen Politiker, der sich Erfolg davon verspricht, indem er ihre Parolen kopiert. Oder blicken wir nach Frankreich, wo Nicolas Sarkozy sich häufig genug ja auch anhört wie ein Mitglied des Front National.

 

Das heißt, auch wenn die AfD in Deutschland noch keine absoluten Mehrheiten einfährt, aber doch dafür gesorgt hat, dass sich die Koordinaten im politischen System schon verschoben haben.

 

Herfried Münkler: Ja, das ist eine interessante Beobachtung, die Sie da ins Spiel bringen. Denn gleichzeitig hat man ja auch immer gesagt, und das gilt vermutlich bis heute: Frau Merkel hat die CDU nach links verschoben oder sie hat sogar die Mitte nach links verschoben. Der Raum für die Sozialdemokraten ist kleiner geworden. Und dann könnte man zweierlei daraus schlussfolgern. Nämlich erstens, dass es sozusagen eine Gleichzeitigkeit gibt der Verschiebung des Mainstreams der politischen Auffassungen.

 

Deutschlandradio Kultur: Zu den Rändern hin?

 

Herfried Münkler: Eher gewissermaßen zu einer linken Mitte hin und damit ein Sichtbarwerden nicht eingebundener rechter Auffassungen, konservativer Auffassungen, nationalistischer Auffassungen, also ein Problem innerhalb der CDU. Und andererseits befinden wir uns gesellschaftlich in einer Situation, in der wir nicht mehr sagen können so ohne Weiteres, wir sind eine nivellierte Mittelstandsgesellschaft, wie Schelsky das formuliert hat. Das heißt, den sichtbar werdenden Spaltungslinien in der Gesellschaft sozialer Art entsprechen auch stärkere Unterschiede politischer Art.

Viele derer, die populistisch wählen, ich vermute mal, ziemlich egal, ob links- oder rechtspopulistisch, sind enttäuscht von dem System, fühlen sich ausgegrenzt, abgehängt und machen gewissermaßen politisch einmal ihr Bäuerchen.

Das heißt nicht, dass sie eine sehr genaue Vorstellung davon haben, wie Politik anders läuft. Das weiß man ja auch aus den Umfragen, dass viele AfD-Wähler sich gar nicht mit deren Programmatik beschäftigt haben. Sondern sie wollen Denkzettel verteilen, gelbe Zettel ankleben und drauf schreiben: Hallo, das Volk, also ich, war hier.

 

Deutschlandradio Kultur: Genau, Denkzettel verteilen. Jürgen Kaube schrieb neulich in der FAZ so schön, dass die Politiker nicht begriffen hätten, dass es nicht darum geht, dass da unbedingt was Kluges drauf steht. Hauptsache der Denkzettel wird verteilt.

 

Herfried Münkler: Das hat der Jürgen Kaube ganz richtig gesehen, glaube ich.

 

Deutschlandradio Kultur: Es stehen ja einige Wahlen an in Europa in den kommenden Wochen und Monaten, also zu-erst die Präsidentschaftswahl in Österreich, wenn sie denn stattfindet, ist gemein, nicht? – dann die Parlamentswahlen …

 

Herfried Münkler: .. haben die Ösis verdient.

 

Deutschlandradio Kultur: .. in den Niederlanden im März, Präsidentschaftswahlen in Frankreich April und Mai. Und bei all diesen Wahlen haben Populisten, sagen wir mal, doch realistische Chancen, an die Spitze zu kommen.

 

Herfried Münkler: Ja, ich glaube, was wir zurzeit konstatieren können – in die Liste, die Sie aufgeführt haben, könnte man ja auch noch Brexit, die Viségrad-Staaten und deren nationalkonservative bis rechtspopulistische Regierungen und schließlich den Wahlsieg von Donald Trump einrechnen –, all das, ein Bedürfnis, die Welt kleinräumiger zu gestalten, eine Rückkehr zu Staaten mit klaren Grenzen, weg von komplexen globalen Zusammenhängen, die auch keiner durch-schaut und bei denen man möglicherweise investiert, ohne dass man ausschließlich selber als Investor das auch konsumiert.

 

Was ich damit im Auge habe, ist ein in der Tat intellektuelles Vermittlungsproblem großräumiger Ordnung, also, sagen wir mal, der EU oder von Welthandelssystemen, nämlich dass es so etwas gibt wie kollektive Güter, die für alle bereit gestellt werden und von deren Genuss auch diejenigen nicht ausgeschlossen werden können, die zu deren Zustande-kommen nichts beigetragen haben.

 

Das ist natürlich für das so genannte gesunde Gerechtigkeitsempfinden ein Skandalon. So sind aber nun mal kollektive Güter – wie saubere Luft. Da gibt es also welche, die sie verpesten und kaputtmachen. Und die haben trotzdem den-selben Anspruch darauf wie möglicherweise Leute, die nur mit dem Fahrrad fahren oder mit dem Roller oder was auch immer.

 

Deutschlandradio Kultur: Aber das ist interessant. Sie sprechen von einem Vermittlungsproblem. Das ist ja, was viele Politiker tun und was ja dann auch wieder viele Menschen ärgert, weil da drin ja steckt: Wir haben Recht, du hast es nur noch nicht verstanden.

 

Herfried Münkler: Ach, ich weiß nicht, ob das heißt, wir haben Recht, sondern: Wenn du willst, dass wir eine großräum-liche Ordnung haben, die in ganz anderer Weise an der Frage der Generierung der Summe des Gesamtwohlstands orientiert ist, dann musst du bereit sein, bestimmte Konsequenzen zu tragen. Also, dann muss man bereit sein zu akzeptieren, dass die Bundesrepublik Deutschland sehr viel mehr in die EU investiert, als sie von ihr heraus bekommt. Das ist nun mal so.

 

Nun könnte man sagen, okay, dann gefällt uns die EU aber nicht mehr, wie das ja in den Anfangsgründen der AfD in der Frage des Euros und überhaupt der EU-Skepsis der Fall gewesen ist, und wir scheiden aus, mit der Vorstellung, ja, dann zahlen wir aber diese Milliarden nicht mehr ein und die bleiben dann bei uns.

 

Das ist natürlich sehr kurz gesprungen, und da zeigt sich ein strukturelles Problem, das den Prozess der Globalisierung in demokratietheoretischer Hinsicht begleitet, nämlich dass man ein ausgesprochen kluges, weitsichtiges, mit hoher Urteilskraft ausgestattetes Volk braucht, um in einem solchen System an den zentralen Gelenkstellen sitzen zu können.

Die Franzosen haben das nicht. Schauen Sie: Wenn man erklären will, warum die deutsch-französische Lokomotive nicht mehr funktioniert, kann man vielerlei sagen, aber ein wichtiger Punkt ist die Stärke des Front National in Frankreich mit dem Ergebnis, dass die Franzosen, weder eine sozialistische Regierung, noch eine bürgerliche Regierung, die Struktur-reformen hinbekommen hat, die dringend erforderlich wären, weil sie immer sozusagen in den rechten oder linken Rückspiegel gucken und sich fragen: Was macht die Blonde?, also Marine Le Pen. Und dann zaudern sie wieder, weil sie ihr unter keinen Umständen Futter geben wollen – mit dem Ergebnis, dass Frankreich in Europa nicht mehr die Rolle spielt, die es mal gespielt hat, mit der Folge, dass Deutschland noch eine sehr viel stärkere Rolle spielt.

 

Heißt aber: Wenn wir eine starke AfD im Bundestag haben, wird Deutschland diese Rolle nicht mehr spielen können, wird vermutlich das auch auf eine weitere Erosion oder Agonie der EU hinauslaufen etc.

 

Deutschlandradio Kultur: Sie haben das Stichwort gegeben. Wir haben ja gerade diese ganzen Länder aufgezählt, ich ein paar, Sie ein paar mehr, wo ein Rechtsruck droht oder schon stattgefunden hat. Im Spätsommer, Frühherbst wird es ja Bundestagswahlen geben. Und Sie haben eingangs gesprochen von der Populismusresistenz der Deutschen. – Setzen Sie noch auf die?

 

Herfried Münkler: In gewisser Hinsicht schon. Und wenn wir auch die von mir aus besorgniserregenden Ergebnisse der AfD in Deutschland vergleichen mit dem, was unsere Nachbarn in ihrem Wahlverhalten an den Tag legen, dann – glaube ich – kann man sie immer noch beobachten, aber sie ist nicht mehr so stark. Sie ist sozusagen kein Bollwerk mehr. Man muss sich wieder um sie bemühen. Man muss auch wieder investieren in die Sachverständigkeit des Bürgers oder des Wählers.

 

Das ist kein Vorgang, den man ein für allemal gemacht hat und danach hat man nur noch kluge Wähler, sondern das ist eigentlich ein tagtäglicher Prozess oder ein tagtägliches sich Abmühen.

 

Deutschlandradio Kultur: Herzlichen Dank für das Gespräch.

 

Herfried Münkler: Gerne.

 

https://www.deutschlandfunkkultur.de/politikwissenschaftler-herfried-muenkler-grosse-teile-des-100.html

 


 

Die Zeiten werden instabiler

 

Der Rechtspopulismus und die Erosion der Volksparteien, wirtschaftliche Umbrüche und eine neue Welt-ordnung: Das neue Jahrzehnt werde unruhiger als das alte, sagt Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Zugleich warnt er vor zu viel Schwarzmalerei.

 

Vergleiche mit den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, mit der Weimarer Republik, sind derzeit in Mode. Tatsächlich könne man einiges lernen aus der Geschichte, meint Herfried Münkler: Zum Beispiel, wie eine Weltwirt-schaftskrise ins politische Verderben führen könne; oder wie die Domestizierung der Faschisten um Hitler scheiterte.
Dies könne auch eine Lehre für die heutige Zeit sein, sagte Münkler mit Blick auf die rechtspopulistische Alternative für Deutschland AfD. Dort hätten sich auf breiter Front die radikalen Kräfte des völkisch-nationalen Flügels durchgesetzt. „Insofern kann ich da nur abraten zu sagen, wir machen Koalitionen mit der AfD, um diese auf diese Weise zu ent-zaubern“, sagt Münkler. Weil gleichzeitig die großen Parteien schrumpften, werde die Regierungsbildung in den nächsten Jahren aber schwieriger.
Noch sei die wirtschaftliche Lage, anders als in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stabil. Allerdings hinke Deutschland wie Europa auf vielen Feldern hinter China und den USA her, bei der Digitalisierung zum Beispiel oder bei der Entwicklung künstlicher Intelligenz.
Bestehen könne Europa in diesem Wettbewerb nur, wenn es gelinge, das wirtschaftliche und politische Auseinander-driften stoppen. Denn auch die geopolitischen Rahmenbedingungen hätten sich grundlegend geändert: „Wir werden eine neue Weltordnung haben, die keinen Hüter mehr hat, wie das die USA gewesen sind.“
Europa müsse auf eigenen Beinen stehen, fordert Münkler. Dabei komme Deutschland eine entscheidende Führungsaufgabe zu. „Da bin ich ein bisschen skeptisch mit Blick auf den amtierenden Außenminister, der viel zu wenig davon begreift, was die damit verbundenen Herausforderungen sind.“
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Das Interview im Wortlaut:
Deutschlandfunk Kultur: Wir blicken heute, am 4. Januar 2020 auf das gerade angebrochene Jahrzehnt. Und wir fragen: Was bringen die neuen 20er-Jahre? Wie gefestigt ist unsere Demokratie? Und welchen Sinn machen eigentlich historische Vergleiche, Vergleiche mit der Weimarer Republik? Darüber wollen wir sprechen mit dem Politikwissen-schaftler Herfried Münkler.
Herr Münkler, Deutschland im Jahr 2020 ist eine reiche Nation, ein reiches Land, eine gefestigte Demokratie, gewachsen in Jahrzehnten des Friedens. Deutschland im Jahr 1920 war eine junge Republik nach einem verheerenden Krieg, ge-prägt von Armut und Massenelend. Können wir trotzdem etwas aus der Geschichte lernen? Machen historische Ver-gleiche in diesem Sinne Sinn?
Herfried Münkler: Wenn man den Vergleich versteht als eine andere Herangehensweise als eine Gleichsetzung, das wird ja häufig miteinander verwechselt, dann, glaube ich, macht das durchaus einen Sinn, weil man Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede beobachten kann. Unterschiede, wie Sie sie eben gerade angesprochen haben, so dass man also nicht in die Selbstsuggestion hinein gerät, alles, was vor hundert Jahren gewesen sei, werde sich heute so wiederholen. Der große Vorzug ist, wir haben die Vergangenheit als Spiegel.
Wir können daraus lernen, also – was weiß ich – wie man eine Weltwirtschaftskrise beziehungsweise ihren Ablauf nach 1929 vermeiden kann durch eine andere Wirtschaftspolitik, als die von Heinrich Brüning etwa. Man kann auch etwas lernen im Hinblick auf Friedensordnung, also die Probleme in der Regel des Versailler Vertrags, aber eigentlich müsste man sagen, der Pariser Friedensordnung. Insofern kann man schon was lernen, aber man sollte nicht in die Suggestion verfallen, dass sich Geschichte 1:1 wiederholt.

Risiken im kollektiven Gedächtnis

 

Deutschlandfunk Kultur: Und wir können auch etwas daraus lernen, wie wir das Scheitern einer Demokratie verhindern?
Münkler: Im Prinzip ja. Aber da ist vielleicht jetzt die Weimarer Situation nur begrenzt lehrreich. Natürlich kann man sagen, die Erosion der sozialen Mitte aufgrund der von Ihnen schon angesprochenen ökonomischen Probleme, etwa der Enteignung oder Verarmung von Teilen des Mittelstandes durch die Inflation von ’23; die Wiederholung dessen, jedenfalls in ihren sozialen Folgen, die Intensivierung noch einmal durch die Weltwirtschaftskrise, das hat auch dazu geführt, dass die gesellschaftliche Mitte politisch auseinandergebrochen ist, dass die Extreme, insbesondere von rechts, bis weit, weit, weit in die Mitte hineingedrungen sind.
Deutschlandfunk Kultur: Aber da, sagen nun viele unter Blick auf die Statistiken, ist die Situation heute eine ganz andere. Wir haben so eine lange Aufschwungsphase hinter uns, wie wir das auch in den Jahrzehnten des Nachkriegs-deutschlands selten erlebt haben. Ist das nicht der gravierendste Unterschied zu den 1920er-Jahren?
Münkler: Das ist sicherlich eine der ganz zentralen Differenzen. Da kann man auch sagen, dass jetzt in den 10ern, in
den zurückliegenden 10er-Jahren die Deutschen doch eine relativ lange und in mancher Hinsicht nach wie vor zu beobachtende Resistenz gegenüber den Suggestionen vor allem des Rechtspopulismus haben, hat auch etwas damit
zu tun, dass sie die 1920er-Jahre gewissermaßen im kollektiven Gedächtnis präsent haben und eine ganz andere Vorstellung von den Risiken, die damit verbunden sind, rechtspopulistischen Sirenengesängen da zu folgen.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist eine gewagte These, weil gerade in einer Phase von einer so großen wirtschaftlichen Stabilität entdecken wir ja genau das, nämlich das Erstarken des rechten Randes – einer Bewegung, die diese Demo-kratie doch fundamental infrage stellt.
Münkler: Ja, das ist richtig. Aber wenn wir mal vergleichen mit unseren europäischen Nachbarn, kann man sagen, die Deutschen sind von einer erstaunlichen Gelassenheit, jedenfalls, wenn man in die Geschichte zurückguckt, von einer erstaunlichen Gelassenheit im Unterschied zu den Franzosen, im Unterschied zu den Italienern, die ja im Prinzip eine Koalition aus Rechts- und Linkspopulisten bis vor kurzem gehabt haben und jetzt einen Regierungswechsel durch-geführt haben, der aber sehr instabil ist – auch im Unterschied in vieler Hinsicht zu den skandinavischen Ländern, also all jenen, die meiner Generation jedenfalls immer wieder als kritischer Spiegel mit Blick auf den Untergang der Weimarer Republik vorgehalten worden sind.

AfD bundesweit bei 15 Prozent eingependelt

 

Hier in Deutschland kann man sagen: Na ja, bei 15 Prozent scheint sich die rechtspopulistische AfD eingependelt zu haben. Im Osten ist sie höher. Aber im Osten ist die Zeit des Untergangs der Weimarer Republik und vor allen Dingen die Zeit des Nationalsozialismus auch anders behandelt worden, nämlich unter der Überschrift „Faschismus“, wohin-gegen die alte Bundesrepublik – sagen wir mal ab den späten 60er-, frühen 70er-Jahren – das Thema auch betrachtet hat im Hinblick auf bestimmte Volksgemeinschaftsvorstellungen, antiindividualistische Dispositionen, die Heraus-arbeitung des Antisemitismus als Bestandteil des Rassismus und derlei mehr. Das scheint doch eine gewisse Im-prägnierung bewirkt zu haben.
Deutschlandfunk Kultur: Das heißt: 30 Prozent würden Sie der AfD oder einer rechtspopulistischen Bewegung in Westdeutschland nicht zutrauen?
Münkler: Nein. Das zeigen alle Umfragen im Augenblick. Ein Argument war ja: „Prosperität schützt vor politischer Erosion der Mitte“. Das tut sie in gewisser Hinsicht auch – aber wir können natürlich nicht sicher sein, wie lange an-gesichts der Herausforderungen – Stichwort Globalisierung, Digitalisierung – diese Prosperität in Deutschland halten wird.
Deutschlandfunk Kultur: Da kommen wir gleich noch zu. Das Erstarken des Rechtspopulismus ist begleitet oder vielleicht auch erst möglich geworden durch die Erosion der Volksparteien. Da stellen wir doch fest, dass viele diesen großen Parteien, die jahrzehntelang doch eine politische Stabilität garantiert haben, nicht mehr zutrauen, dass sie die gravierenden Probleme lösen. Nach den jüngsten Landtagswahlen in Ostdeutschland war vom Verlust der politischen Mitte die Rede. Da ist dann ja schon die Frage, wenn in der Mitte ein Vakuum entsteht: Wer füllt das aus?
Münkler: Gut. Nun muss man, wie ich es ja schon gesagt habe, doch deutlich unterscheiden zwischen der politischen Entwicklung in Ostdeutschland und in Westdeutschland. Das ist nicht nur eine Frage des Sozioökonomischen – zweifel-los auch, sondern auch eine Frage der politischen Kultur, die sich nun mal im Osten ganz anders entwickelt hat, wo die Volksparteien eigentlich immer eine ziemlich überschaubarer Mitgliederzahl hatten, sodass sie also auch – Beispiele jüngster Art aus Sachsen-Anhalt lassen da grüßen – relativ leicht unterwanderbar ist durch Leute, die auf der Grundlage gewisser Kadervorstellungen im Prinzip Volksparteien auf kommunaler Ebene kapern können.

Erosion der Volksparteien

 

Deutschlandfunk Kultur: Aber die Erosion der Volksparteien sehen wir auch in Westdeutschland.
Münkler: Ja.
Deutschlandfunk Kultur: Ist der Unterschied, dass da andere Kräfte, etwa die Grünen, dort in der Mitte Fuß fassen?
Münkler: Ja, ich meine, wenn man davon ausgeht, dass die Grünen auch in einiger Zeit noch so um die 20 Prozent sich positioniert haben und diese Verluste auch zu Lasten der CDU, aber vor allen Dingen zu Lasten der SPD gehen, wenn man das mit einiger Ruhe betrachtet, kann man sagen: Rechnen wir sie noch einmal zusammen, SPD und Grüne und die Linkspartei, dann hat sich innerhalb des Parteienspektrums so dramatisch viel gar nicht verschoben. Die einzige folgen-reiche Verschiebung ist das Auftauchen der AfD, die in gewisser Hinsicht eine ähnliche Funktion hatte für die CDU wie es für die SPD die Grünen waren, also einen Teil ihres Wählerpotenzials abgezogen hat.
Wobei man sagen kann, bei der AfD dürften auch materielle Werte, also das Bedrohtheitsgefühl durch andere, Fremde, was auch immer, die gesamte xenophobe Grundierung innerhalb des Auftritts der AfD auf der einen Seite Rolle spielen, auf der anderen Seite aber auch postmaterielle Erwägungen wie etwa kulturelle Tradition, Identität und Ähnliches mehr.
Wir sollten davon ausgehen, dass die Volksparteien jedenfalls nicht mehr in der Lage sein werden, Werte über 40 Pro-zent zu erreichen. Bei der Sozialdemokratie würde ich auch sagen, wenn sie über 20 Prozent kommen, dann können sie sich rechts und links auf die Schulter klopfen – jedenfalls in der augenblicklichen Situation. - Das heißt im Ergebnis, um Ihre Frage aufzunehmen: Regierungsbildung ist schwieriger.
Deutschlandfunk Kultur: Aber das macht Ihnen keine Sorge?
Münkler: Na ja, gut. Ich meine, es wäre doch furchtbar, wenn die Republik immer so wäre, wie sie in den 60er und
70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewesen ist; sondern natürlich gehört mit veränderten Herausforderungen, veränderten europapolitischen, weltpolitischen Lagen auch eine Veränderung der Parteienlandschaft dazu. Und Par-teien haben mitunter auch ihre Programme verbraucht beziehungsweise die Werturteile – sagen wir mal bei der CDU die ausgesprochene Kirchenbindung – erodieren auch. Das können wir beobachten. Und so wie bei der CDU die Kirchenbindung in ihrem Rückgang ein Problem ist, ist es bei den Sozialdemokraten vermutlich die Erosion der Gewerkschaften, auch im Hinblick auf ihre Mitglieder. Dass das Folgen hat, also ein aufsteigender Individualismus innerhalb einer Gesellschaft Folgen hat, das ist eigentlich ziemlich klar und zu erwarten.
Deutschlandfunk Kultur: Herr Münkler, Sie haben eben die Grünen erwähnt und deren Bedeutung für die SPD und dass sich im Prinzip auf dem linken Flügel so viel mathematisch auch nicht verändert hat, aber dass die AfD im Prinzip das für die CDU jetzt bedeutet. Die Integration der Grünen ist ja ganz gut gelungen. Also, würden Sie da sagen, auch die AfD ins demokratische System zu integrieren kann gelingen und vielleicht sogar belebend, beflügelnd wirken, weil sie Themen einbringt, weil sie Bevölkerungsgruppen für das demokratische System bindet?
Münkler: „Hätte gelingen können“, würde ich darauf antworten.
Deutschlandfunk Kultur: Die Chance ist vorbei?
Münkler: Ja. Es spricht ja vieles dafür, dass der Flügel, also, würde man das jetzt auf die Grünen blenden, die kleinen Gruppierungen, die früher beim KBW gewesen sind und die in die Grünen eingetreten sind und dort dann politische Karriere gemacht haben, gewissermaßen das als eine Plattform benutzt hätten, um ihre ursprünglichen steinzeit-kommunistischen Vorstellungen mit Nordkorea und Albanien als Vorbild umzusetzen.
Deutschlandfunk Kultur: Bei den Grünen haben sich die Realos durchgesetzt.
Münkler: Ja.

In der AfD haben sich die radikalen Kräfte durchgesetzt

 

Deutschlandfunk Kultur: Bei der AfD scheint sich der völkische Flügel durchzusetzen.
Münkler: Das macht den Unterschied. Strukturell auf den ersten Blick ist es eine Spiegelung der jeweiligen Außenseiten. Bei den Grünen ist aber die Entwicklung ganz anders gelaufen. Man kann sagen, den Grünen ist das tatsächlich ge-lungen, was Gauland immer nur behauptet, nämlich die Entwicklung zu einer bürgerlichen Partei.
Und wenn für die 20er-Jahre zu erwarten steht, dass es sogenannte Schwarz-Grüne-Koalitionen gibt, ist das ja der Ausweis dessen, dass hier ein arriviertes Bürgertum, dem es nicht wesentlich darauf ankommt, noch mehr an mate-riellen Gütern und Steuererleichterungen zu haben, sondern gewisse Werte und Zukunft im Auge zu haben, dass die Koalition mit liberal-konservativen Parteien, etwa der CDU, eingehen.
Das, glaube ich, wird bei der AfD nicht der Fall sein. Dafür haben sich in den letzten zwei, drei Jahren zu viele Entwick-lungen vollzogen – von dem Sturz von Lucke, Sturz von Petri und der Durchsetzung eigentlich immer stärker national-konservativer, um nicht zu sagen „national-sozialer“ Positionen.
Deutschlandfunk Kultur: Aber jetzt gibt es ja auch einen konservativ-bürgerlichen Flügel in der AfD. Der völkische Flügel ist vor allem in Ostdeutschland sehr stark dominant. Also, ist das für Sie schon klar, dass die AfD auch als Bündnispartner für die anderen demokratischen Parteien ausfällt?
Münkler: Na ja, das eine ist sozusagen der Blick auf die Gegenwart. Nun kann man sagen, in Baden-Württemberg, aber auch in Bayern hat dieser völkische Flügel sich ganz schön durchgesetzt, offenbar darum, weil er besser organisiert ist, besser strukturiert ist, in höherem Maße kooperiert und einen Plan hat. Das ist offenbar auf der konservativ-bürger-lichen Seite so nicht der Fall. Deswegen verlieren die eine Auseinandersetzung tendenziell nach der anderen.
Und da ist es nicht uninteressant, nochmal zurückzuschauen in die späte Phase der Weimarer Republik. Denn da scheinen mir dann doch auffällige Ähnlichkeiten zu bestehen, wo man ja auch sagen kann: Koalition der radikalen Elemente, also Teilen der NSDAP, war eine Koalition mit konservativ-bürgerlichen Gruppierungen, von der DNVP bis hin auch zu Teilen des Zentrums, die dann übergelaufen sind. Letzten Endes konsolidiert Hitler seine Macht, indem er den linken Teil der NSDAP in der „Nacht der langen Messer“, also 1934, liquidieren lässt und begründet darauf ein Bündnis mit den konservativen Eliten – mit dem Ergebnis allerdings, dass politisch die konservativen Eliten ziemlich stillgestellt sind.

AfD kein Koalitionspartner

 

Deutschlandfunk Kultur: Also, die Integration oder die „Domestizierung“, wie das ja auch damals genannt wurde,
der nationalsozialistischen Bewegung ist gescheitert. Können wir daraus, wenn ich Sie richtig verstehe, die Folgerung ziehen, diese Domestizierung sollte man heute auch nicht in Erwägung ziehen? Also, die AfD als Bündnispartner fällt aus.
Münkler: Ja, in der augenblicklichen Situation, wo man beobachten kann, dass der Flügel ganz eindeutig die AfD strukturell im Griff hat und dass andere Personen so ein bisschen was wie Maskierungen sind oder vorgeschobene Zeichen von Bürgerlichkeit, hinter denen sich aber ganz andere Kräfte verbergen und organisiert haben. Insofern kann ich mir auf absehbare Zeit nicht vorstellen, dass es eine Domestizierung der AfD gibt oder ein Aufsaugen durch eine große Volkspartei, wie man das etwa in den 1950er Jahren mit BHE und anderen beobachten kann. Die FDP ist im Prinzip die einzige, die sich da als Alternative behauptet. Insofern kann ich da nur abraten zu sagen, „wir machen Koalitionen mit der AfD, um diese auf diese Weise zu entzaubern, denn dann müssten sie gewissermaßen an den Fleischtöpfen der Macht zeigen, dass sie auch nur mit Wasser kochen“. Oder gar die radikalen Elemente in solchen Koalitionen auszu-schalten, das sehe ich nicht, sondern da lohnt auch der vergleichende Blick sonst nach Europa. Salvini etwa in Italien ist in der Koalition mit Cinque Stelle, also einem eher linkspopulistischen, einer eher linkspopulistischen Organisation stark und stark und stärker geworden. Und es ist überhaupt keine Domestizierung gelungen und auch keine Entzauberung. Ich denke, dass man im Konrad-Adenauer-Haus so etwas durchaus vor Augen hat und deswegen auch entsprechenden Überlegungen von einigen Polit-Desperados in den neuen Bundesländern innerhalb der CDU, Koalitionen mit der AfD einzugehen – beziehungsweise, die sagen das so nicht, sondern „Minderheiten-Regierung“, die da von der AfD toleriert würden – dass man denen eine Absage erteilt.

Nachholbedarf gegenüber Asien und USA

 

Deutschlandfunk Kultur: Herr Münkler, wenn in einer Phase wirtschaftlicher Stabilität, wir haben das angesprochen, dieses demokratische System schon infrage gestellt hat, lohnt der Blick auf das, was kommt, nämlich möglicherweise wirtschaftlich unruhigere Zeiten – Stichwort demographischer Wandel, Stichwort Digitalisierung. Da sind wirtschaftliche Strukturwandel zu erwarten. Was bedeutet das für die politische Stabilität? Müssen wir uns da dann nicht wirklich Sorgen machen, dass eine echte Krise vielleicht erst noch kommen kann und dann auch das demokratische System vielleicht doch noch mehr infrage gestellt wird?
Münkler: Das kann man sicher nicht ausschließen, wenn Sie das so beschreiben. Die 20er-Jahre werden vermutlich nicht durch eine doch so hohe wirtschaftliche und politische Stabilität gekennzeichnet sein. Es kommt ja nicht nur hinzu, dass die von Ihnen angesprochenen Probleme – demographischer Wandel, Digitalisierung und derlei mehr – da sind, sondern auch natürlich Dekarbonisierung, also der Ausstieg unserer Wirtschaft aus fossilen Energien auf der einen Seite, ohne gleichzeitig in massiver Weise auf Atomenergie zurückgreifen zu können, weil wir das so politisch nicht wollten.
Das sind natürlich auch Chancen. Ich würde jetzt nicht nur die Probleme beschreiben für die 20er-Jahre, sondern auch die Möglichkeiten und Herausforderungen etwa im Bereich der Künstlichen Intelligenz, wo die Europäer in ihrer Ge-samtheit einen dramatischen Nachholbedarf gegenüber Ostasien, gegenüber den USA und anderen haben. Wenn man da, gerade als Bundesrepublik Deutschland, innerhalb des europäischen Verbundes sich als eine wirtschaftlich-techno-logische Lokomotive erweisen kann, dann sollte eigentlich da auch relativ viel an Prosperität in dieses Land hinein-fließen. Das sind aber natürlich Konditionalsätze. Ob das gelingt, weiß keiner.

Deutschland kommt in Europa eine Führungsrolle zu

 

Deutschlandfunk Kultur: Die Lissabon-Strategie mit genau diesem Ziel, nämlich Europa zur modernsten Wirtschafts-form der Welt zu machen, gab es schon vor 15 Jahren. Viel rausgekommen ist nicht. Europa befindet sich eigentlich in einem permanenten Abwehrkampf, um den Zerfall der politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft zu verhindern.
Münkler: Ja gut, das ist ein klassisches Problem Europas. Wir beobachten es zurzeit in Frankreich, sozusagen im Kampf zwischen Macron und – na sagen wir mal „der Straße“, was auch immer das ist, erst Gelbwesten, jetzt sozusagen die Antireformbewegung im Hinblick auf die Renten und Pensionen; Italien, das seine Probleme durch immer weiter wachsende Verschuldung zu lösen versucht und dadurch natürlich nicht lösen kann. Hier kommt, wenn man so will,
der Bundesrepublik eine Führungsrolle zu.
Deutschlandfunk Kultur: Die Sie ihr zutrauen?
Münkler: Ja, würde ich ihr schon zutrauen. Das hat natürlich etwas damit zu tun, wer die nächste Regierung stellt, wie die aufgestellt ist, wie energisch sie die Herausforderungen annimmt und Chancen nutzt. Aber ich glaube, dass das als Problem innerhalb der politischen Klasse in Berlin erkannt ist. Natürlich kann man sagen: „Angst essen Seele auf“. Denn sich auf so was wirklich langfristigerweise einzulassen, hat auch seine Risiken, nicht nur seine Chancen. Wenn man alle Risiken vermeiden will, dann kann man auch keine Chancen wahrnehmen. Insofern wird das Kabinett nach diesem letzten Kabinett Merkel Entscheidungen von weitreichender Art zu treffen haben, die letzten Endes ausschlaggebend dafür sein werden, wie die 20er-Jahre verlaufen.
Deutschlandfunk Kultur: Das ist ja auch insofern interessant: Um nochmal die Parallele zur Weimarer Zeit herzustellen, das war eine Phase, die unter einer instabilen internationalen Ordnung gelitten hat, das eigentlich nie hat kompensieren können – Versailler Vertrag als eine Grundlage. Das unterscheidet die Weimarer Zeit von der Nachkriegszeit. Jetzt stellen wir fest, eine stabile Ordnung mit einer Führungsmacht USA, das war die Grundlage. Müssen wir sagen „war“ oder „ist“ sie das noch?
Münkler: Sie war das, aber sie ist es nicht mehr, klar. Obama war der Erste, der das schon infrage gestellt hat im Hin-blick auf die Präferenz der USA für den pazifischen gegen den atlantischen Raum. Und den Rest von Geschirr, der noch im Schrank war, hat Donald Trump jetzt zerschlagen.

„Wir werden eine neue Weltordnung haben“

 

Das heißt, wir werden eine neue Weltordnung haben, die keinen Hüter mehr hat, wie das die USA gewesen sind. Das wird zur Folge haben, dass Weltordnung entnormativiert wird, dass Regeln und Verträge eine andere Bedeutung haben, als das zuletzt der Fall war.
Und da wird es darauf ankommen, ob die Europäer Objekt oder Subjekt bei der Gestaltung dieser neuen Weltordnung sein werden. Hier kommt der Bundesrepublik dann auch eine entsprechende Aufgabe zu. Da bin ich ein bisschen skeptisch mit Blick auf den amtierenden Außenminister, aber der muss es ja dann nicht mehr sein, der sozusagen viel
zu wenig davon begreift, was die damit verbundenen Herausforderungen sind.
Aber wenn es gelingt, Europa als einen der großen Akteure aufrechtzuerhalten oder gar wieder ins Spiel zu bringen, dann ist das erstens eine deutsche Aufgabe und zweitens setzt das auch viel politische Weitsicht und Klugheit voraus. Das ist aber keine schlechte Anforderung dafür, dass im Ergebnis auch gute Politik gemacht wird.
Deutschlandfunk Kultur: Sie haben viele Konjunktive benutzt. Sie haben eben selber ein Bild von Europa gezeichnet mit Blick auf Italien, mit Blick auf Frankreich – einst die Garanten von europäischer Einigungspolitik – die fallen quasi aus. Auch der deutsch-französische Motor ist jetzt nicht wirklich vielversprechend. Also: Woher nehmen Sie den Optimismus, dass das trotzdem gelingen kann und wir nicht in ein paar Jahren vor einem europäischen Scherbenhaufen stehen, der dann wiederum die Ähnlichkeit mit Weimarer Verhältnissen doch heraufbeschwört?
Münkler: Ja, sowas kann man natürlich nie ausschließen. Ich weiß auch, dass es eine gewisse Suggestivität der Medien gibt, sozusagen Schwarz in Schwarz zu malen, und dass das natürlich sehr viel mehr sexy ist für manche Zuschauer und Zuhörer. Aber ich bin doch der Überzeugung, dass Zuversicht und Selbstvertrauen die Voraussetzungen dafür sind, dass man Chancen wahrnimmt.
Wenn man gewissermaßen nur Probleme beschreibt und nicht das, was damit auch an Herausforderungen verbunden ist, dann wird man vermutlich im Sinne der Pascal'schen Wette das auch verloren, diese Auseinandersetzung. Also, Zuversicht und Zuvertrauen, wie ich das jetzt auch zu kommunizieren versucht habe, sind die Voraussetzungen dafür, dass wir den Untergangsszenarien entkommen und eine gute Zukunft haben.

Der Euro hat sich als Spaltpilz erwiesen

 

Deutschlandfunk Kultur: Das ist ja auch insofern wichtig, weil die Herausforderungen nicht gerade geringer werden. Nun erleben wir, Ursula von der Leyen, die neue EU-Kommissionspräsidentin, bringt einen „Green Deal“ auf den Weg. Könnte das ein Projekt sein, das den Glauben an ein entscheidungsfähiges, politisch geeintes Europa aufleben lässt? Oder wie kann dieses Europa belebt werden? Dieser Glaube scheint ja doch mehr und mehr verloren zu gehen.
Münkler: Also, er kommt sicherlich nicht von der Wirtschaft, sondern der Fiskalpolitik. Denn Euro und alles, was damit zusammenhängt, dem man mal diese Funktion zugedacht hat, haben sich eher als Spaltpilz erwiesen und die Trenn-linien zwischen den einzelnen Ländern sehr viel stärker und deutlicher gemacht, vor allen Dingen die zwischen dem Norden und dem Süden in der Europäischen Union.
Von daher könnte „Green Deal“ eine Möglichkeit sein, aber auch das andere, nämlich die Annahme der Heraus-forderung durch eine zerbröselnde Peripherie, also Investitionen sehr viel stärker in eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik. Denn es ist keine Frage: Der zerfallende und zerbrechende Nahe Osten wird unser Problem sein, genauso wie die gegenüberliegende Mittelmeerküste, also Maghreb-Region und die dahinter liegende Sahelzone.
Ich glaube, wenn aus der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 eines in die 20er-Jahre hinüberreicht, dann dies, dass man solche Entwicklungen nicht wird verhindern können, wenn man nicht langfristig in die ökonomische und politische Stabilität der Peripherie investiert. Das ist ein Projekt, das können die Europäer nur gemeinsam schultern, so wie sie vielleicht auch begriffen haben, dass 2015 eine gemeinsame Herausforderung für alle Europäer waren, auch wenn man im Schluss sagen kann: Gelöst haben sie letzten Endes doch wesentlich die Deutschen.

Konzentration auf ein liberales Kerneuropa?

 

Deutschlandfunk Kultur: Nun zeigt der Blick zum Beispiel auch nach Osteuropa, nach Polen, nach Ungarn, nach Tschechien auch, dass dieses Europa schon Schwierigkeiten hat, sich auf gemeinsame demokratische Grundwerte noch zu einigen – etwa Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz. Das macht jetzt nicht gerade Hoffnung, dass dieses Europa weiter zueinander findet. Deshalb die Frage: Wäre eine Konzentration auf die Länder, die wollen, ein liberales Kerneuropa möglicherweise der Ausweg aus diesem Dilemma?
Münkler: Ich glaube schon, dass angesichts der Spaltungslinien, die in der EU ja erkennbar sind zwischen Norden und Süden und Westen und Osten, die einen eher politisch-kultureller Art, die anderen eher sozio-ökonomischer Art, dass man angesichts dessen herausfinden muss: Wer ist eigentlich die Kraft des Zentripetalen, also diejenige, die zusammenhält angesichts dieser Fliehkräfte, die Sie ja auch beschrieben haben?
Das könnte entweder eine Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse sein – unter der Voraussetzung, dass Macron in Paris durchhält und eben nicht nur Sprüche macht, sondern es ihm auch tatsächlich gelingt, das Land wieder ökonomisch robust zu machen. Oder es müsste die Bundesrepublik in Verbindung mit einer Reihe von Small Countries, also kleineren Ländern, diese Aufgabe übernehmen.
Wenn man etwas, was in der EU ja angelegt ist aufgrund der Inkongruenz von Europäischer Gemeinschaft, Schengen-Raum und anderem mehr, Euroraum, das System als einen Kreis aus Kreisen oder eine Ellipse aus Ellipsen weiter entwickelt, auch in formeller Hinsicht, dann könnte das eine Lösung für dieses Problem darstellen.
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