Wer Unsicherheiten akzeptiert, kann zu besseren Entscheiden kommen
In wenigen Wochen hat sich das Leben für viele Menschen radikal verändert. Was gewiss war, ist ungewiss. Wie soll man gute Entscheidungen in Unsicherheit treffen? Und warum hat die Ökonomie Mühe damit?
Gerald Hosp, NZZ, 30.03.2020
Alljährlich stellt das World Economic Forum (WEF) vor dem Jahrestreffen in Davos im Januar vielen Entscheidungsträgern die Frage, welche Risiken sie als die grössten für die Welt erachten. Für dieses Jahr wurden vor allem Umweltprobleme als die wahrscheinlichsten globalen Risiken genannt. Danach folgten Sorgen um Cyberattacken und Datendiebstahl. Zwei Monate später sieht die Welt anders aus: Die Lungenkrankheit Covid-19 hat den Globus im Griff und gefährdet neben Menschenleben auch den Wohlstand und die Freiheitsrechte.
Wie konnte dieses Risiko übersehen werden? Zur Ehrenrettung der Befragten: Die Umfrage fand zwischen September und Oktober vergangenen Jahres statt, also vor den ersten Berichten einer Verbreitung eines neuartigen Coronavirus. In solchen Umfragen sollte es jedoch um eine Einschätzung zukünftiger Risiken gehen. Infektionskrankheiten schafften es zwar nicht auf die Liste der zehn wahrscheinlichsten Risiken, aber wenigstens in die Aufzählung der Gefahren mit den grössten Auswirkungen (Rang 10). In der Studie selbst heisst es dann, dass eine Pandemie ein ernsthaftes Risiko dar-stelle, die «Gesundheitssysteme» hätten jedoch einen Plan, wie eine solche gedämpft werden könne.
Von Schwänen und Drachenkönigen
Offenbar wurde die Welt aber vom Coronavirus und von dessen Wucht überrascht. Der Ausbruch der Pandemie wird vielerorts als sogenannter schwarzer Schwan bezeichnet. Der Begriff geht auf den Autoren und früheren Derivate-händler Nassim Nicholas Taleb zurück. Er spielt damit darauf an, dass in einer Welt von weissen Schwänen ein schwarzer Schwan eine Überraschung sei. Taleb bezeichnet damit Ereignisse mit schwerwiegenden Konsequenzen, die nicht vorhersagbar sind – wie Finanzkrisen. Didier Sornette, Professor für unternehmerisches Risiko an der ETH Zürich, kritisiert dieses Konzept und stellt dem Schwan den Drachenkönig entgegen: statistische Ausreisser mit grossen Auswirkungen, die prinzipiell vorhersagbar sind. In einem NZZ-Interview von Mitte Februar meinte Sornette denn auch, dass die Epidemie kein schwarzer Schwan sei. Aber auch Taleb sagt von Pandemien, sie seien ein weisser Schwan: ein Ereignis, das mit Gewissheit eintritt.
Es verwundert zunächst tatsächlich, dass sich die Welt in der derzeitigen Situation befindet, zumal viele Berichte und Empfehlungen von Behörden und internationalen Organisationen vorhanden sind, die vor genau so einer Pandemie gewarnt haben. Im Jahr 2012 bezeichnete beispielsweise der Risikobericht der Schweizer Bundesbehörden eine um sich greifende Epidemie als das grösste Risiko von zwölf untersuchten Gefährdungen. Die Schweiz kennt einen nationalen Pandemieplan. Und das WEF veröffentlichte zum 100. Jahrestag der Spanischen Grippe eine Studie zu Infektions-krankheiten, in der sich die annualisierten Kosten einer weltweiten Epidemie den durch den Klimawandel verursachten Schäden annäherten. Sars, Mers und Ebola haben durchaus ihre Spuren in der Risikowahrnehmung hinterlassen.
Eine weltweit verbreitete Infektionskrankheit ist jedoch ein relativ seltenes Ereignis. Dem hohen Schadenspotenzial wird üblicherweise eine sehr kleine Wahrscheinlichkeit zugeordnet, was auch dazu führt, dass Pandemien im Vergleich mit anderen Risiken eine untergeordnete Rolle zugeteilt wird. Das geringe Auftreten und die potenziell hohen Kosten bedeuten auch, dass es unmittelbar gegen solche Infektionskrankheiten keine Versicherung gibt.
Dies wiederum heisst auch, dass der Staat als «Versicherung» für die Gesellschaft dient, was auch ein Ursprung der Staatsbildung ist. Damit unterliegt der Pandemieschutz dem politischen Prozess und – vor allem in einer Demokratie – einem Wettbewerb um Aufmerksamkeit: Ist nun Klimawandel, eine Pandemie oder eine Finanzkrise wichtiger? Pläne können vorhanden sein, die Frage ist jedoch, ob sie auch konsequent umgesetzt werden, weil andere Gefahren als dringender oder grösser betrachtet werden. Ein anderes Problem ist, dass sich Private weniger gegen Unsicherheit «versichern» und Vorkehrungen treffen, weil der Staat ohnehin zu Hilfe eilt.
Unsicherheit statt Risiko
Für Mervyn King, den früheren Governor der britischen Zentralbank, und den Ökonomen John Kay liegt das Grund-problem, dass Finanzkrisen oder Pandemien nicht vorhergesehen oder keine adäquaten Vorkehrungen getroffen werden, jedoch tiefer: Im jüngst erschienenen Buch «Radical Uncertainty» kritisieren sie den Standardansatz in der Ökonomie zur Unsicherheit, bei dem eine umfassende Liste an möglichen Situationen in der Zukunft benötigt wird, denen Wahrscheinlichkeiten zugeordnet werden. Daraus wird ein erwarteter Schaden oder Nutzen errechnet. Für eine Risikovorsorge ist dies jedoch problematisch, weil im Falle eines Falles der gesamte Schaden anfällt.
Demgegenüber verweisen sie auf die Unterscheidung zwischen Risiko und Unsicherheit, die auf den amerikanischen Ökonomen Frank Knight zurückgeht: Während Risiko gemessen werden kann, ist dies bei Unsicherheit nicht der Fall. King und Kay gehen so weit, zu behaupten, dass die Verwendung von Wahrscheinlichkeiten nur in Situationen sinnvoll sei, die stabil seien oder wiederholt werden könnten. Konkrete Zahlen würden die meisten Probleme und Frage-stellungen verschleiern, die sich in einer komplexen Welt ergäben, und eine falsche Gewissheit vermitteln. Sie warnen davor, dass eine evidenzbasierte Politik zu einer politikbasierten Evidenz führen könne.
King und Kay plädieren dafür, häufiger zu sagen: «Ich weiss es nicht» –und nicht mit Wahrscheinlichkeiten zu hantieren, die keine wirkliche Aussagekraft haben, sondern nur dazu dienen, Scheingenauigkeit vorzutäuschen. Es lohne sich, die Frage zu stellen: «Worum geht es eigentlich?» So banal und einfach dies klingt, so hilfreich ist es tatsächlich, wenn es um neue Probleme geht, für die es zwar historische Vergleiche geben mag, die aber dennoch andersartig sind.
Die richtigen Fragen stellen
Wenn nun ein Entscheidungsträger akzeptiert, dass er einer grossen Unsicherheit gegenübersteht, wie soll er dann reagieren? Und sind Prognosen im Zustand der Unsicherheit nicht unmöglich? Die Verbreitung von Covid-19 zeigt auf, dass auch solche Krisen nicht in einem Vakuum entstehen. Es gab bereits Pandemiepläne und Vorkehrungen. Das kann jedoch auch ein Nachteil sein, wenn sich neue Fragen ergeben, an die man zuvor nicht gedacht hat, und man in alten Denkmustern gefangen ist.
In einer Situation der Unsicherheit kommt es zunächst darauf an, das Problem zu erfassen und zu umschreiben. Dabei ist es wichtig, sich zu fragen, ob man die richtigen Fragen stellt. Was vorher gewiss war, ist in einer solchen Situation ungewiss. Wenn man wichtige Parameter in einem grösseren Kontext erkannt hat, müssen relevante Daten gesammelt werden. Falls möglich, sollte das grosse Problem in kleinere, einfacher zu überschauende Problemschritte aufgeteilt werden, für die es möglicherweise schon eine Lösung gibt oder die leichter zu kalkulieren sind. Dann gilt es auch, Szenarien zu erstellen sowie durch Ausprobieren und Fehler zu lernen.
Im Fall des neuartigen Coronavirus heisst dies, dass Daten zu den bestätigten Infizierten zwar Zahlen sind, mit denen man hantieren kann, diese verschleiern aber auch viel. Wie hoch ist die Dunkelziffer? Wie steht es um Informationen zu Alter, Art der Symptome, Schweregrad und Krankheitsverlauf? Wo und zu welchem Zeitpunkt treten Erkrankungen gehäuft auf? Wie hoch ist tatsächlich die Sterberate in welcher Alterskohorte? Je besser dies verstanden wird, desto eher können auch Güterabwägungen getätigt werden zwischen der Notwendigkeit, die Gesundheit zu schützen, und dem Versuch, einen Kollaps der Wirtschaft zu vermeiden.
Licht in die Dunkelziffer
In einer zu Berühmtheit gelangten Studie von Wissenschaftern um Neil Ferguson vom Imperial College London wird beschrieben, welche Auswirkungen einzelne Massnahmen auf die Verbreitung von Covid-19 haben. Das ernüchternde Ergebnis war, dass kontaktreduzierende Massnahmen über sehr viel längere Zeiträume hinweg aufrechterhalten wer-den müssen, als dies bisher von vielen Behörden kommuniziert worden war. Die USA und Grossbritannien reagierten offenbar auf die Studie mit einer Kursänderung.
Gleichzeitig wurde aber das Modell von anderen Wissenschaftern kritisiert, die darauf verwiesen, dass es nach einer deutlichen Verringerung der Zahl der Neuinfektionen genügen würde, die Erkrankten und gefährdeten Personen gezielt zu isolieren, wie derzeit die Erfahrung in Südkorea zeigt. Zudem gilt es grosse Infektionsherde schnell zu erkennen und einzudämmen. Das heisst auch, dass es unabdingbar ist, Licht in die Dunkelziffer zu bringen, zum Beispiel mit einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung, die darauf getestet wird, ob sie Antikörper gegen Sars-CoV-2 entwickelt hat.
Ohne Unsicherheit kein Fortschritt
In einer von Unsicherheit geprägten Welt sollte nicht vorgegeben werden, die Zukunft zu kennen, vielmehr sollten Entscheidungsträger sich eingestehen, wenn sie etwas nicht wissen. Robuste Pläne sollen darauf abzielen, Optionen nicht zu verengen, sondern offenzuhalten, falls sich etwas in der Zukunft verändert, was noch nicht berücksichtigt werden konnte. Gerade in Krisenzeiten heisst es auch, dass der Ausstieg aus extremen Massnahmen mitgedacht werden muss. Dabei helfen «verrückte» Szenarien, die dazu beitragen, die Zukunft auszuloten.
Zudem sollten Denkverbote und Gruppendenken vermieden werden. Diese können dazu führen, dass allzu lange an früher sinnvollen Massnahmen festgehalten wird, die aber unter neuen Umständen obsolet sind. Und es heisst auch, dass Vorsorge für das Unbekannte getroffen werden muss. Das alles ist freilich leichter gesagt als getan. Die Menschheit ist aber schwarzen und weissen Schwänen, Drachenkönigen oder anderen unsicheren Fabelwesen nicht einfach ausgeliefert. Die Hoffnung liegt darin, dass Unsicherheit nicht nur lähmend wirkt, sondern auch anstachelt. Wenn alles sicher wäre, gäbe es keinen Fortschritt.
John Kay und Mervyn King: Radical Uncertainty – Decision-making for an unknowable future. The Bridge Street Press, 2020.