Pragmatism doesn't work for me.
Raymond Smullyan
Die vierte Aufklärung:
Wer klärt wen, wann, wo, wie, worüber, womit und wozu auf?
UWD
Was ist Aufklärung?
Eine Diskussion zwischen den Aufklärungsforschern Robert Darnton, Jean Mondot und Werner Schneiders unter Leitung von Harro Zimmermann
Darnton: Meine Sicht der Aufklärung ist von Voltaire und Diderot geprägt. Man spricht viel über Naturrecht und auch über Toleranz, aber für mich war die Aufklärung vor allem ein Kampf. Ein Kampf gegen die katholische Kirche. Aber nicht nur gegen die Kirche, sondern auch gegen politische Institutionen. Ich sehe die Aufklärung als etwas, das in Paris be-gonnen und sich von dort verbreitet hat. Wenn es eine Aktualität der Aufklärung gibt, dann findet man sie heutzutage in der Ukraine, in Rußland, ja überall in Osteuropa.
Schneiders: Herr Darnton hat lange Jahre in Frankreich gelebt, und er ist von der französischen Aufklärungsforschung geprägt. Die deutsche Aufklärung war wesentlich eine protestantische, hat sich zeitweise sogar selbst als zweite Re-formation gefühlt und hatte deshalb auch ein ganz anderes Verhältnis zum Staat. Also kein revolutionäres; es gab auch keinen Verbalradikalismus wie in Frankreich. Das deutsche Wort "Aufklärung" gibt es in anderen Sprachen eigentlich nicht. "Les Lumières" ist etwas anderes ist als unser Terminus "Aufklärung" und "Enlightenment" ist ein Kunstwort des 19. Jahrhunderts, wenn es auf die Aufklärung angewendet wird, während das deutsche Wort "Aufklärung" als "Aufklä-rung des Verstandes" schon spätestens von 1690 an belegbar ist. Es hat beide Richtungen gegeben, die Aufklärung des Verstandes, also das, was man mit Reinigung der Begriffe beschreiben kann, und später die durch Kant betonte Auf-klärung als Selbstbefreiung, Ausgang aus der "selbstverschuldeten Unmündigkeit" usw. Wenn man sich an beide Bedeutungen von Aufklärung in Deutschland anschließt, an die rationalistische wie die emanzipatorische, dann ist Aufklärung eine Aufgabe, die nicht vollendet ist und nie vollendet werden kann. Insofern ist Aufklärung so aktuell wie
eh und je.
Mondot: Ich teile die Auffassung von Herrn Schneiders. Und trotzdem würde ich sagen, daß das polemische Element auch in der deutschen Aufklärung vorhanden ist. Denn man darf Lessing nicht vergessen und den Kampf gegen die etablierte Autorität, den Kampf gegen die etablierte Kirche, auch nicht die Goeze Polemik in Hamburg, zuletzt mit der Veröffentlichung der Reimarus Fragmente. Das zeigt, daß diese polemische Seite durchaus in Deutschland vorhanden ist, allerdings etwas später als in Paris. Hier hatte Voltaire nicht nur den Kampf gegen die Kirche angetreten, sondern, was für Europa und auch Deutschland prägend ist, den Kampf um Gerechtigkeit. Die Calas Affäre zum Beispiel doku-mentiert im 18. Jahrhundert ein wichtiges Moment der Bewußtwerdung der Rechte des Individuums. Und daß ein Schriftsteller gegen die Rechtsprechung des Königs, gegen diese hohen Tribunale, Gerechtigkeit geltend gemacht hat, das war ein Novum.
Schneiders: Aber Sie dürfen nicht vergessen, daß es in weiten Gebieten, insbesondere in Preußen, eine aufgeklärte Bürokratie gegeben hat, die sich durchaus als staatstragend und zum Teil als kirchenfromm verstanden, und zumindest geglaubt hat, daß sie von ihrer Position aus Reformen bewirken könnte.
Darnton: Ja, aber diese Angestellten und Bürokraten, wollten sie nicht eigentlich nur die Macht des Königs ergänzen?
Schneiders: Nein, das glaube ich nicht.
Darnton: Wie war es beim Volk? Die Menschen waren fast Sklaven in Preußen, man hat sich um das Volk gar nicht ge-kümmert. Es gab zum Beispiel die sogenannte Volksaufklärung, die Not und Hilfsbüchlein. Die Hauptsache dabei war, daß das Volk ruhig bleibt und betet. Ruhe ist des Bürgers erste Pflicht.
Schneiders: Wir können nicht von einer deutschen Aufklärung in dem Sinne sprechen, wie wir von einer französischen sprechen. Einfach weil Deutschland in so viele unterschiedliche Territorien zersplittert war, daß wir zwischen einer Göttingischen Aufklärung und einer Hamburgischen usw. unterscheiden müssen. Und die preußische Aufklärung glaubte sich zunächst in Übereinstimmung mit Friedrich II, was sich nach dem Siebenjährigen Krieg dann änderte und nach dem Tode Friedrichs 1786 erst recht. Und in dieser Zeit kommen auch die Kampfpositionen auf.
Darnton: In England sehe ich keine richtige Aufklärung, im Gegensatz zu Schottland.
Zimmermann: Erstaunlich ist die außerordentliche Blüte der Auklärungsforschung. Die ISECS, die Internationale Ge-sellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts. hat weit über 8000 Mitglieder weltweit, die Themeninnovation ist enorm, das Interesse ist groß, es wird debattiert. Ein vergleichbares Fortleben besitzen andere Epochen nicht, weder Renaissance, noch Romantik, noch Vormärz. Was steckt dahinter?
Mondot: Diese Forschung über Aufklärung hat immer etwas zu tun entweder positiv oder negativ mit den politischen Zuständen in den jeweiligen Ländern. Aufklärung ist und bleibt also ein Politikum in allen Ländern und die Forschung über Aufklärung gedeiht, wenn die politischen Zustände es zulassen. So ist zum Beispiel in Südamerika die Aufklärungs-forschung lange Zeit in Verzug gewesen, weil die Zustände das nicht zugelassen haben.
Schneiders: Und die deutsche Aufklärungsforschung nach 1945 ist eine Antwort auf den Zweiten Weltkrieg.
Mondot: Das bewahrheitet sich immer noch. In den islamischen Ländern, in den Maghreb Staaten etwa, kann von einer Aufklärungsforschung nicht die Rede sein, weil die politischen Zustände das nicht zulassen.
Darnton: Ich stimme völlig zu. Aber warum haben Adorno und Horkheimer so schlecht über die Aufklärung ge-schrieben? Sie haben sehr viel über bürgerliche Heuchelei gesprochen usw. Hat das etwas mit den Zuständen in Deutschland zu tun?
Schneiders: Sie spielen auf das Buch Dialektik der Aufklärung an. Es ist in den USA während des Krieges entstanden
und gegen den Faschismus gerichtet.
Mondot: Und den Kommunismus auch.
Schneiders: Und den Stalinismus auch. Aber wenn man den Text heute etwas distanziert liest, dann sieht man, daß er eigentlich gar nicht über Aufklärung handelt. Wenn Sie die Anfangsdefinition von Aufklärung in dem Buch lesen, dann wird Francis Bacon als erster genannt und das war 1600, da muß man schon den Aufklärungsbegriff sehr weit fassen. Und als zweites kommt Kant, das ist zweihundert Jahre später. Und dazwischen ist nichts. Also das, was wir als Auf-klärungsforschung verstehen, kommt überhaupt nicht vor in dem Buch, abgesehen vom Marquis de Sade.
Zimmermann: Wenn Aufklärung etwas mit Opposition zu tun hat, müßte sie gerade da wachsen, wo Restriktionen herrschen. Aber das ist offenbar nicht so.
Darnton: Es ist sehr kompliziert. Vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren haben die sozialistischen Länder Aufklärungs-forschung kräftig unterstützt. Warum? Das war bürgerlicher Fortschritt. So ist sie sozusagen in den Kanon eingetreten. Der Begründer der Aufklärungsforschung in Italien, Franco Venturi, war sozusagen ein Verfassungspatriot und sah ganz deutlich eine Verbindung zwischen der Aufklärung in ganz Europa und einem neuen Anfang des bürgerlichen Lebens in Italien. So war es in Frankreich nicht, auch nicht in Großbritannien. Aber heutzutage in Osteuropa versteht man die Aufklärung nicht als einen Anfang, der von Robespierre zu Lenin und Stalin führte, sondern als eine Bewegung, die die Menschenrechte verteidigte. Das ist etwas ganz anderes.
Zimmermann: Welche entscheidenden Prozesse sind in der Aufklärung gelaufen? Vermittlungsformen in die Öffentlichkeit gab es ja auch schon in der Renaissance.
Darnton: Wir wissen noch nicht genug, es muß weiter geforscht werden. Es stimmt, daß es während der Renaissance eine Art öffentliche Meinung gab, auch Schmähschriften, lustige Geschichten und verbotene Bücher, letztere betrafen meistens die Religion.
Mondot: In der Renaissance findet der Anfang eines neuen Mediums statt, das ist die Presse. Aber im 18. Jahrhundert wird durch die Intensivierung des technischen Fortschritts eine neue Qualität der öffentlichen Meinung geschaffen. Und deshalb ist das eine Wende in der Geschichte des Abendlandes, in der Geschichte Westeuropas, weil allmählich alle diese kleinen Zeitungen und Zeitschriften eine wichtige öffentliche Meinung gebildet haben, vor der sich die Autoritäten zu verantworten hatten, ob sie wollten oder nicht.
Schneiders: In der deutschen Sprache kann man Aufklärung einerseits als eine allgemeine Aufgabe, ein Programm oder einen Prozeß beschreiben, und andererseits als ein historisches Phänomen: Das Zeitalter der Aufklärung. Viele Leute halten das für eine Zweideutigkeit der Sprache, die man möglichst vermeiden sollte. Ich denke, man sollte beides zusammenhalten, das aktuelle und das historische Problem. Dann kann man nämlich fragen und ich sage es jetzt einmal ganz grob: Was lernen wir aus der Geschichte? Wir können studieren: wie ist die Aufklärung des 18. Jahrhunderts gelaufen, was ist z. B. in der Französischen Revolution negativ zu bewerten? Ist die Französische Revolution das Begräbnis der französischen Aufklärung, ein Fehltritt, oder ist sie die Vollendung der französischen Aufklärung usw. Und man kann natürlich auch die Frage sehr strittig diskutieren: Was hätte in Deutschland anders laufen können? Was natürlich dann wieder die Gefahr in sich birgt, daß wir unhistorisch werden.
In letzter Zeit hat in Deutschland eine Diskussion über die Frage stattgefunden, ob man nicht den Aufklärungsbegiff aufgeben sollte zugunsten eines Begriffes von “Früher Neuzeit” der dann pauschal drei oder mehr Jahrhunderte umfaßt. Und ich denke, daß man das nicht sollte.
Zimmermann: Wie problematisch oder unproblematisch ist es, Aufklärung vor allem als Epochenbegiff festzulegen und eben nicht als übergreifenden, strukturbildenden Begriff der letzten zweieinhalb Jahrhunderte?
Mondot: Man könnte vielleicht auch andere Momente des Aufklärungszeitalters hineinziehen. Wir haben nur den Inhalt definiert, aber es gab vielleicht auch einen Stil der Aufklärung. Es gab z. B. Ironie, Witz, einen Stil der Polemik, und das hat die Schriften dieses Jahrhunderts, die Haltung der Epoche ungemein charakterisiert. Und das ist auch ein Teil des Reizes dieser Epoche, in der die Schwerfälligkeiten des 19. Jahrhunderts noch nicht da sind.
Darnton: ... und dieses Barocke nicht mehr.
Mondot: Aufklärung heißt also nicht nur Läuterung von Moral und Intellekt; der Gedanke inspiriert auch die Läuterung des Stils. Und wenn man sich die deutsche Sprache des 18. Jahrhunderts anschaut, wenn man etwa Lessing liest, spürt man: das ist ein ganz anderer neuartiger Schwung. Man merkt, das ist das moderne Deutsch, das plötzlich gebraucht wird. Das ist sicherlich ein Teil des Reizes dieses 18. Jahrhunderts: der Dialog, das Gespräch, die öffentliche Polemik, unterbaut mit Witz, Ironie und Sarkasmus. Voltaire ist auch, obgleich er es nicht zugeben wollte, ein Publizist ersten Ranges gewesen. Man wollte gelesen werden, man wollte gehört werden, man wollte verstanden werden und das prägte den Stil.
Schneiders: Man darf aber nicht übersehen, daß die Aufklärung nicht Witz, Zivilisation und Salonkultur hervorgebracht hat, man muß auch eine Verlustrechnung aufmachen: Die Aufklärung, weil sie oppositionell war, ist auch kritisch und negativ. Die Aufklärung zerstört, sie hat das ganze alteuropäische Leben verändert. Es gibt so viele Dinge, an die die Aufklärer zum Teil selbst noch geglaubt haben, die wir aber als Nachfolger der Aufklärung wegen der Aufklärung schon nicht mehr glauben. Die Aufklärung hat uns, grob gesagt, sehr viel Glauben genommen, sie hat nicht nur die Gespenster verscheucht, um es so auszudrücken, sondern sie hat uns auch den Glauben an die Engel weggenommen. Wir sind in dieser Hinsicht sehr viel ärmer. Und das bedeutet, daß wir bei unseren heutigen Bemühungen um Aufklärung vielleicht doch etwas reflektierter sein sollten als die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die ja zum Teil, wie Voltaire, einfach drauflos geschlagen haben.
Mondot: Da kommen wir auf Grundsätzliches. Der Grundsatz der Aufklärung ist schon in der Frühaufklärung vorhanden und heißt: Wie kann man sich moralisch verhalten, ohne z. B. an Gott zu glauben? Das ist immer das Problem gewesen. Wie kann ein Atheist sich moralisch behaupten? Wolff hat z. B. behauptet, er könne sich moralisch behaupten – und deswegen ist er aus Halle rausgeflogen.
Schneiders: Aber dann können Sie sofort weiterfragen: Warum soll ich mich moralisch verhalten?
Mondot: Diese Frage ist sicherlich eine Herausforderung nicht nur der Auflärung, sondern auch unserer Zeit. Schon Kant hat sich mit diesem Problem herumgeschlagen. Der französische Schriftsteller Peguy sagte, die Kantische sei eine schöne Moral, nur hätte sie keine Hände; d. h. damit könne man nicht handeln. Das ist natürlich die Frage. Entweder schöne Prinzipien, die aber nicht angewendet werden, oder man handelt und muß sich die Hände schmutzig machen. Dann ist es ein anderes Problem. Aus dieser Herausforderung sind wir heute noch nicht entlassen. Unsere Gesellschaften sind damit ständig konfrontiert. Denn je mehr man diesen Glauben zurückdrängt, von dem Herr Schneiders sprach, also Glauben an Engel oder Teufel, desto einsamer ist man mit den eigenen Problemen.
Zimmermannn: Und was ist der Gewinn der Aufklärung?
Darnton: Selbstbewußtsein, Mündigkeit, Freiheit. Also ich sehe eine ganze Menge an Werten, die als Gewinn gelten können. Und als Verlust? Vielleicht sollten wir noch einmal Max Weber lesen, der über die Entzauberung der Welt gesprochen hat. Das war eine Phase in diesem allgemeinen Prozeß, der nicht nur auf das 18. Jahrhundert beschränkt ist. Die Frage ist furchtbar kompliziert, denn ich nehme nicht an, daß man die Welt heute so wie Thomas Jefferson oder Voltaire sehen kann.
Zimmermann: Muß Aufklärung, muß Vernunft auch vor sich selber auf der Hut sein, Herr Schneiders?
Schneiders: Nein. Wenn man das Wort Vernunft vernünftig gebraucht!
Zimmermann: Jetzt schaffen Sie das Problem definitorisch aus der Welt. Die gesamte Debatte um instrumentelle Vernunft,
um Technokultur, alles was aus der postmodernen Sicht an Rationalitätskritik auf uns zugekommen ist, ist das alles gegen-standslos?
Schneiders: Nein, das ist nicht gegenstandslos, das ist einfach eine Verwirrung der Begriffe. So weit es um erkennende Vernunft geht, ist im 18. Jahrhundert selbst, also hauptsächlich durch Kant, schon das Wichtigste gesagt worden. Eine Vernunft, die sich selbst als vernünftig betrachtet, weiß, daß sie nicht alles erkennt. Wenn es aber um die praktischen Aspekte geht, also das, was mit dem Stichwort instrumentelle Vernunft angeschnitten worden ist, so möchte ich die These wagen, daß die Aufklärung schon eine Antwort auf die moderne Wissenschaft war. Die Aufklärung ist also nicht mit der modernen Wissenschaft gleichzusetzen. Aufklärung ist ganz etwas anderes und sehr viel mehr als Erkenntnisfortschritt. Die Aufklärung war schon der Versuch einer Antwort auf die Existenz der modernen Wissenschaft, d.h. wie man mit den Problemen einer rationalisierten Welt fertig wird, ohne auf den Glauben zu rekurrieren. Die Antwort mag unzureichend gewesen sein, jedenfalls am Ende des 18. Jahrhunderts.
Mondot: Wenn man die Antwort von Mendelssohn auf die Frage "Was ist Aufklärung?" liest, dann merkt man, er fragt sich, ob nicht alle Leute plötzlich dadurch, daß sie eine bessere Vernunft haben, und dadurch, daß sie nicht mehr glauben, zu Zynikern werden und ob das nicht schrecklich wäre. Es gibt dieses Moment der Angst in dem Text von Mendelsohn auch. Das bleibt immer auch ein Risiko der Aufklärung.
https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=8904&n=2&y=1&c=5#
Steven Pinker: "Aufklärung jetzt"
Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt: Fischer 2018.
Eine leidenschaftliche Antithese zum üblichen Kulturpessimismus und ein engagierter Widerspruch zu dem weit verbreiteten Gefühl, dass die Moderne dem Untergang geweiht ist.
Hass, Populismus und Unvernunft regieren die Welt, Wissenschaftsfeindlichkeit macht sich breit, Wahrheit gibt es nicht mehr: Wer die Schlagzeilen von heute liest, könnte so denken. Doch
Bestseller-Autor Steven Pinker zeigt, dass das grundfalsch ist. Er hat die Entwicklung der vergangenen Jahrhunderte gründlich untersucht und beweist in seiner fulminanten Studie, dass unser Leben
stetig viel besser geworden ist. Heute leben wir länger, gesünder, sicherer, glücklicher, friedlicher und wohlhabender denn je, und nicht nur in der westlichen Welt. Der Grund: die Aufklärung und
ihr Wertesystem.
Denn Aufklärung und Wissenschaft bieten nach wie vor die Basis, um mit Vernunft und im Konsens alle Probleme anzugehen. Anstelle von Gerüchten zählen Fakten, anstatt überlieferten Mythen zu
glaubenbaut man auf Diskussion und Argumente. Anschaulich und brillant macht Pinker eines klar: Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt sind weiterhin unverzichtbar für unser
Wohlergehen. Ohne sie wird die Welt auf keinen Fall zu einem besseren Ort für uns alle.
* * *
Rezension von Michael Hampe in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12.10.2018
Das Ideal des Wohlergehens
Seht doch nur all die philosophischen Schwarzmaler und Grübler: Steven Pinker möchte die Aufklärung retten und macht sich die Sache dabei sehr einfach.
Eine aufgeklärte Kultur ist kein Selbstläufer. Wie alle Kulturen muss auch sie durch die, die in ihr leben, erhalten und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Es gibt kein Gesetz der
Geschichte, dass sich Vernunft und Mensch-lichkeit "am Ende" von selbst durchsetzen. An welchem Ende, möchte man fragen. Zwar ist der Eindruck durch keine statistische Untersuchung belegt, doch
er wird von vielen geteilt: Die Menge an gedruckten und elektronisch verbrei-teten Texten, die Verschwörungstheorien, Lügen, haltlose Vermutungen verbreiten und die zu Hass und Gewalt auf-rufen,
nimmt immer mehr zu gegenüber der Menge an Texten, die von überprüften Erfahrungen, belegten Theorien, vielversprechenden Vermutungen berichten und zu Mitgefühl und Hilfeleistung ermuntern.
Dieser Eindruck legt nahe, dass wir in einer Zeit der Gegenaufklärung leben.
Solche Zeiten hat es immer gegeben. Wenn man unter aufgeklärten Epochen solche versteht, die sich der Verbreitung eines potentiell von der ganzen Menschheit teilbaren Wissens zum Zwecke einer
Steigerung des Wohlergehens aller auf der Welt verpflichten, dann sind die Tendenzen des religiösen Fundamentalismus, fanatischen Nationalismus und die Bullshit- und Desinformationsmaschinen des
Internets gegenaufklärerisch. Deshalb kann man das neueste, teilweise polemische, auf jeden Fall streitbare Buch von Steven Pinker mit dem Titel: "Aufklärung jetzt"
grundsätzlich nur be-grüßen. Denn es breitet nicht nur Ideale der Aufklärung neu aus. Sondern es stellt auch die Motive und Kräfte der Gegenaufklärungen dar und argumentiert gegen sie.
Pinker betont, dass sein Buch lange vor der Zeit von Trump geplant war, der gegenwärtig aufgrund der militärischen und wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten mit seiner "America
first"-Politik und der Verbreitung von Lügen und Verschwörungstheorien Anführer der politischen Gegenaufklärung ist, die Pinker auch als antihumanistisch ein-stuft. Humanismus definiert er als
das Streben, "menschliches Wohlergehen zu maximieren - Leben, Gesundheit, Glück, Freiheit, Wissen, Liebe, Reichtum an Erfahrungen", und zwar auf der Ebene der Menschheit. Politiken, die für die
Wohl-ergehensgewinne kleiner Gruppen in Kauf nehmen, dass andere leiden müssen, sind antihumanistisch.
Für die Begründung, dass Aufklärung einer Anstrengung bedarf, holt Pinker weit aus. Er geht bis zum zweiten Hauptsatz der Thermodynamik zurück. Dieser besagt, dass Unordnung in geschlossenen
energetischen Systemen zunimmt. Wer Ordnung erhalten will, muss dafür etwas tun. Leben ist ein energetisch unwahrscheinlicher Zustand, der durch Nah-rungszufuhr erhalten werden muss. Es zu
zerstören ist dagegen einfach. Oder, wie Pinker es mit den Worten des texa-nischen Abgeordneten Sam Rayburn formuliert: "Jeder Trottel kann eine Scheune zum Einsturz bringen, aber um sie zu
bauen, braucht man einen Zimmermann." Menschliches Wohlergehen beruht nun auf sehr komplexen kulturellen Ordnungen, die ebenfalls nur unter großem Aufwand erhalten werden können. Es ist sicher
nur eine Analogie, aber keine unplausible, wenn man behauptet, dass es ohne erheblichen wissenschaftlichen, erzieherischen, technischen und politisch-kooperativen Aufwand nicht möglich sein wird,
das Niveau des Wohlergehens, das Menschen gegenwärtig erreicht haben, zu erhalten, geschweige denn es global zu steigern.
Als wesentliche Kraft der Gegenaufklärung unter den Intellektuellen betrachtet Pinker die Fortschrittsskeptiker. Zwar würden auch sie die Früchte des Fortschritts gern genießen und sich lieber
mit als ohne Narkose operieren lassen und lieber Computer zum Schreiben benutzen als Tinte und Federkiel, trotzdem zweifelten sie an, dass sich die Welt durch Forschung verbessern ließe. Hier
teilt Pinker ziemlich heftig und pauschal gegen "die Crème de la Crème der Geistes-wissenschaften" aus und nennt Nietzsche, Schopenhauer, Heidegger, Adorno, Benjamin, Sartre, Fanon, Foucault,
Edward Said und Cornel West als "Schwarzmaler", die Fortschritte der Aufklärung nicht anerkennen. Das ist philosophie-historisch starker Tobak. Nietzsches Diagnose am Ende des neunzehnten
Jahrhunderts, dass das Verschwinden des Christentums als Sinnspender zu einem Nihilismus führen wird, in dem sich Menschen an charismatischen politischen Führern als Ersatzsinngebern berauschen
und in Kriege stürzen werden, war eine gute Prognose der Schrecknisse von zwei Weltkriegen. Auch Adornos Diagnose und Warnung, der Kapitalismus werde alles zur Ware machen, eingeschlos-sen die
sozialen Beziehungen, kann man angesichts von Facebook nur als hellsichtig bezeichnen.
Pinker scheint nicht zu verstehen, dass die Freude über fließend Warmwasser, reduzierte Kindersterblichkeit, abneh-menden Welthunger, immer weniger Tote durch Gewalt und Infektionskrankheiten
nicht bedeutet, dass man sich der Kritik an Lebensverhältnissen enthält. Aufklärung ist einerseits ein Wohlergehensprojekt. Aber sie ist auch ein kritisch emanzipatorisches Vorhaben. Wer nichts
zu essen hat und fürchten muss, erschlagen zu werden, wird sich keine Ge-danken über den Sinn des Lebens machen. Da hat Pinker recht. Doch dass gegenaufklärerische Bewegungen wie nationale und
religiöse Fanatismen mit Sinn- und Partizipationsverlusten zu tun haben, die durch Wohlstandsprojekte nicht aufgefangen werden können, scheint er nicht zu sehen.
Verächtlich polemisiert er gegen moralphilosophische Vorlesungen, in denen Studenten lernen, Probleme des Utilita-rismus und deontologischer Ethik "herunterzurattern", und behauptet: "Eine in
einer kosmopolitischen Welt umsetz-bare Moralphilosophie darf nicht aus Schichten komplizierter Argumentation bestehen oder auf tiefgründigen meta-physischen oder religiösen Überzeugungen
beruhen. Sie muss ihre Kraft aus einfachen, transparenten Prinzipien beziehen, die jeder verstehen und akzeptieren kann. Das Ideal des menschlichen Wohlergehens ist genau solch ein Prinzip, da es
auf nicht mehr (und nichts weniger) basiert als auf unserem gemeinsamen Menschsein."
Das Problem mit dem "gemeinsamen Menschsein" ist leider, dass es unter anderem kulturell in Erziehungsprozessen entsteht (was Pinker in anderen Publikationen bestritten hat). Mitglieder des
"Islamischen Staates" interessieren sich halt mehr für das Jenseits und die (vermeintlichen) Befehle Mohammeds als für globales Wohlergehen. So sind sie erzogen worden. Pinker wird einwenden,
dass sie eine Gehirnwäsche erlitten, bei der sie Prinzipien der Vernunft auf-geben mussten. Doch wo verläuft die Grenze zwischen vernünftiger Erziehung zu Mündigkeit auf der einen und
Mani-pulation auf der anderen Seite? Lässt sie sich einfach durch Hinweis auf "unser gemeinsames Menschsein" ziehen? Pinker tut so, als würden sich Philosophen über die Natur von Begründungen,
die Vernunft, Autonomie von Einzelnen und Gruppen nur deshalb komplizierte Gedanken machen, weil sie Lust an Komplikationen haben. Da irrt er.
Letztlich wird die Fortsetzung der Aufklärung nicht nur ein anstrengendes wissenschaftliches, politisches und kulturelles Projekt sein. Sie wird auch ein schwieriges philosophisches und
erzieherisches Unternehmen. In ihm müssen "wir", die Menschheit, ein gemeinsames Verständnis von Wahrheit, Erziehung und Freiheit über Kulturgrenzen hinweg ent-wickeln. Das ist nicht durch
Hinweis auf ein paar Studien der empirischen Psychologie möglich, wie Pinker zu glauben scheint. Denn hier geht es um die Antwort auf die normative Frage, wie wir auf diesem Globus leben wollen:
in einer gemeinsamen Welt, die sich transparentem Wissen in ihrem Handeln verpflichtet, oder in hysterischen Stämmen, die von Mythen aufgepeitscht Kämpfe gegeneinander führen, mit deren Hilfe
sich einige wenige entschieden bereichern können.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Marcus Willaschek, Kant und das Projekt der Aufklärung heute
Abstract
Kant versteht Aufklärung als den Übergang von der Unmündigkeit zur Mündigkeit, von der Abhängigkeit zur eigen-ständigen Urteilsbildung. „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ ist nach Kant der Wahlspruch der Aufklärung; „Selbstdenken“ lautet ihre Maxime. Ausgehend von wenigen aufgeklärten Individuen verbreitet sich die Aufklärung Kant zufolge vor allem über Publikationen, die sich an die lesende Öffentlichkeit richten: das „Publikum“.
Doch wie tragfähig ist Kants Konzept der Aufklärung als Selbstdenken in Zeiten des Internets und der social media noch? Was genau unterscheidet eine aufgeklärte Person im Sinne Kants von heute sogenannten „Querdenkern“, die doch, wie es scheint, durchaus den Mut haben, von ihrem eigenen Verstand Gebrauch machen, aber trotzdem Ver-schwörungserzählungen aufsitzen? Und sind die Milliarden von Nutzern von Google, Facebook, Instagram und Co.
nicht der Inbegriff eines Publikums, von dem Kant sich die Verbreitung der Aufklärung versprach – ein Publikum, das sich heute in vielen Fällen wechselseitig in abstrusen Behauptungen und menschenverachtenden Ideologien bestärkt?
Nach einer kurzen Rekapitulation der wichtigsten Aspekte der kantischen Konzeption der Aufklärung und einem Seitenblick auf die Aufklärungskritik Horkheimers und Adornos geht der Vortrag der Frage nach, ob Kants Aufklärungs-konzeption im Zeitalter von Fake News, Facebook und Filterblasen noch aktuell ist.
Das Digitale Kant-Zentrum NRW verknüpft in kooperativer Weise mehrere Forschungsprojekte, deren gemeinsame Grundfrage ist, wie kantische Antworten auf gesellschaftspolitische Fragen ausfallen könnten; es soll also Kant für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden. Weitere Informationen finden Sie unter https://kant-zentrum-nrw.de/Gefördert wird das Digitale Kant-Zentrum NRW durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen.
Prof. Dr. Markus Willaschek lehrt Philosophie der Neuzeit an der Goethe-Universität in Frankfurt