Gerhart Baum: "Hüten wir uns vor dem Virus Sicherheitswahn"
Ex-Innenminister Gerhart Baum ist ein Verteidiger der Bürgerrechte. Im Interview spricht er über den Rechts-staat in Zeiten von Corona - und was Angela Merkel und Helmut Schmidt als Krisenkanzler gemeinsam haben.
Ein Interview von Severin Weiland - SPIEGEL - 28.03.2020
SPIEGEL: Herr Baum, Sie haben die Krisenzeit des RAF-Terrorismus erlebt, das Handeln des damaligen Kanzlers Helmut Schmidt. Wie schlägt sich Angela Merkel in der Coronakrise im Vergleich?
Baum: Ich finde ihr Handeln in Ordnung. Schmidt hätte das in der Substanz nicht anders gemacht, sie hätte ihm wohl gefallen. Natürlich ist Frau Merkel von der Persönlichkeit ganz anders als der damalige Kanzler. Schmidt stand gern auf dem Feldherrnhügel. Er wirkte ja sehr schneidig, etwa nach der Entführung Hanns Martin Schleyers im Herbst 1977 bei seiner Ansprache im Fernsehen, als er sich an die Bürgerinnen und Bürger, aber auch direkt an die Terroristen der RAF wandte.
SPIEGEL: Feldherrnhügel, sagen Sie. Wo steht Frau Merkel in der Coronakrise?
Baum: Sie macht es viel subtiler, aber nicht weniger eindringlich und wirkungsvoll.
Gerhart Baum, 87 Jahre alt und geboren in Dresden, bekleidete in der sozial-liberalen Koalition von 1978 bis 1982 das Amt des Bundesinnenministers. Der FDP-Politiker gehörte von 1972 bis 1994 dem Bundestag an, seit Jahrzehnten zählt der Jurist zu den profiliertesten Verteidigern des Rechtsstaates und war an mehreren erfolgreichen Verfassungsklagen beteiligt.
SPIEGEL: Sie sind 87 Jahre alt, gehören eindeutig zur Corona-Risikogruppe. Wie gehen Sie damit um?
Baum: Ich lasse Vorsicht walten, gehe mit meiner Frau viel spazieren und bin umsorgt durch meine Familie. Im Übrigen habe ich gerade ordentlich zu Hause zu tun. Mit Telefonschalten versuche ich, als Vorsitzender des Kulturrats NRW einen Beitrag dafür zu leisten, dass den Kunstschaffenden in dieser für viele existenziellen Krise schnell geholfen wird.
SPIEGEL: Sie kämpfen seit Jahrzehnten für die Bewahrung der Bürgerrechte. Wie stark ist die Gefahr, dass wir uns an die jetzigen Freiheitsbeschränkungen gewöhnen?
Baum: Wir sind auf einer Gratwanderung - zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz des Rechts. Die Frage ist - wo kommen wir an den Rand der Verfassung, wo werden die Grundrechte in ihrer Substanz gefährdet?
"Möglicherweise werden wir irgendwann vor die unbequeme Frage gestellt werden, ob wir mit den bisherigen Entscheidungen die wirtschaftliche Existenz unseres Gemeinwesens und die Handlungsfähigkeit des Staates aufs Spiel setzen."
SPIEGEL: Und wo steht der Rechtsstaat jetzt?
Baum: Bisher sehe ich einige Grenzüberschreitungen, so bei der Ermächtigung der Regierung, Maßnahmen durch Rechtsverordnung am Parlament vorbei zu treffen. Eine striktere und noch enger befristete Kontrolle durch das Parlament ist unbedingt notwendig. Hüten wir uns vor dem Virus Sicherheitswahn! Die Verfassung gilt gerade auch in schwierigen Zeiten. Wir können beide Ziele - Verfassung und Gesundheitsschutz - durchaus in Einklang bringen. Das Virus gefährdet unsere Gesundheit - es sollte nicht die Demokratie gefährden. Überhaupt müssen die Parlamente immer wieder gründlich abwägen und eingreifen können.
SPIEGEL: Wie weit könnte die Krise noch gehen?
Baum: Der Jurist prüft ja immer die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen. Möglicherweise werden wir irgendwann vor die unbequeme Frage gestellt werden, ob wir mit den bisherigen Entscheidungen die wirtschaftliche Existenz unseres Gemeinwesens und die Handlungsfähigkeit des Staates aufs Spiel setzen. Dann würden sich Maßnahmen womöglich als unverhältnismäßig erweisen.
SPIEGEL: Das heißt, es könnte auch aus Ihrer Sicht der Moment kommen, wo Ausgangsbeschränkungen gelockert werden müssen, um einen Zusammenbruch der Wirtschaft zu vermeiden, wie es in der FDP bereits diskutiert wird?
Baum: Es wären Extremsituationen, also der Zusammenbruch der staatlichen Ordnung oder die wirtschaftliche Existenzsicherung. Wir sind noch nicht so weit, aber es könnte kommen. Dann wird es eine sehr schwierige Güterabwägung geben müssen. Wir müssen deshalb umso schärfer darauf achten, dass sie jederzeit zurückgenommen werden können. Wir fahren ja auf Sicht.
SPIEGEL: In einer Studie aus dem Innenministerium werden weitreichende Eingriffe in möglichen Szenarien aufgelistet, um die Ausbreitung unter Kontrolle zu bekommen. So etwa die Ausweitung der Tests, die Isolation der Infizierten, zu Hause oder in einer Quarantäne-Anlage. Was halten Sie davon?
Baum: Dass die positiv Getesteten unter häusliche Quarantäne gestellt werden, das ist heute Praxis und unabwendbar notwendig. Das wichtigste ist wohl im Moment aber die massive Ausweitung von Tests. Das Verbringen dieser Personen in eine sogenannte Quarantäne-Anlage ist nur im äußersten Notfall geboten und muss verhältnismäßig sein. Es gibt aber bisher keinerlei Hinweise für ein Misstrauen, dass diesen strengen Anordnungen nicht gefolgt wird. Wenn es um Kontrolle gehen sollte, kann diese etwa durch Hausbesuche erfolgen. Will man denn im Ernst Personen aus ihren Wohnungen holen und quasi kasernieren? Das wäre ja eine Art Untersuchungshaft auf dem Verwaltungswege.
SPIEGEL: Wären Sie betroffen, was würden Sie tun?
Baum: Ich würde sofort die Gerichte anrufen und die Maßnahmen auf Verfassungsmäßigkeit prüfen lassen.
SPIEGEL: Wie sehen Sie die Rolle des Parlaments in diesen Zeiten?
Baum: Natürlich müssen die Regierungen jetzt schnell handeln, aber die Parlamente sind unverzichtbarer Teil der Entscheidungsprozesse und sie müssen genauso gut beraten sein wie die Regierungen. Entscheidungen müssen jederzeit reversibel sein. Wir fahren ja auf Sicht.
SPIEGEL: Bundesgesundheitsminister Jens Spahn möchte gern die mobilen Daten von Infizierten nutzen, um Kontakt-personen ausfindig zu machen. Was halten Sie von dieser Form des digitalen Trackings?
Baum: Es zeigt sich an diesem Beispiel, wie verführbar wir sind durch die neuen Technologien. Wir könnten ja auch ein Armband verpflichtend einführen, dass die Körpertemperatur einer Behörde der Regierung zentral zur Verfügung stellt.
SPIEGEL: Aber das Tracking könnte helfen, sagen manche Experten.
Baum: Das Tracking im Gesundheitsbereich ist anders als etwa in der Kriminalitätsbekämpfung, wo diese Methode in bestimmten Grenzen möglich ist. Die Beobachtung der Bewegungen der Bürger durch Handy-Ausspähung über-schreitet in dieser neuen Dimension die verfassungsrechtliche Grenze.
SPIEGEL: Welche Rolle wünschen Sie sich von FDP-Chef Lindner und der FDP?
Baum: Die FDP wird auf dem Feld der Bürgerrechte stärker denn je gebraucht. Da reagiert Lindner jetzt in der Krise richtig. Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel. Aber wir müssen auch auf anderen Feldern Profil gewinnen. Die FDP muss sich auf den Weg machen zu neuer Sozialliberalität.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
Baum: Dazu gehört eine Reform kapitalistischen Wirtschaftens, weg von einer totalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Wirtschaftliches Handeln muss stärker ethischen Prinzipien unterworfen werden. Und wir müssen unser Leben entschleunigen.
SPIEGEL: FDP-Chef Christian Lindner hat in der Coronakrise Abstand von der schwarzen Null genommen. Das müsste Ihnen ja gefallen, oder?
Baum: Ich begrüße Lindners Kurskorrektur. Ob wir am Ende zur schwarzen Null zurückkehren können, weiß im Augenblick niemand.
SPIEGEL: Lindner hat angesichts der unterschiedlichen Maßnahmen in Europa, im Bund, in den Ländern und Kommunen eine Überprüfung des Föderalismus verlangt. Zu Recht?
Baum: Es ist jetzt keine Zeit für Debatten über den Föderalismus. Und die Forderung nach einer Korrektur ist im Kern auch nur bedingt richtig, denn Bund, Länder und Kommunen haben durchaus sinnvolle unterschiedliche Kompetenzen und arbeiten in der Krise verantwortungsvoll zusammen.
SPIEGEL: Aus manchen Branchen wird nach Staatshilfen gerufen. Steht damit auch der Wirtschaftsliberalismus in der Krise?
Baum: Jedenfalls in seiner Übertreibung. Nicht erst jetzt zeigt sich: Wir brauchen einen starken Staat, der unsere Daseinsvorsorge gewährleistet. Wir brauchen auch eine Industriepolitik. Die FDP sollte daher ihre manchmal unverständliche Furcht vor staatlichen Regelungen revidieren. Da ist sie auch beim Klimaschutz, einer fundamentalen Bedrohung der Menschheit, zu zögerlich. Überhaupt hätten wir alle entschiedener etwa gegen den Pflegenotstand vorgehen müssen, schon vor der Krise, mit den Mitteln, die wir jetzt anwenden. Und es war auch falsch, Krankenhäuser und die Produktion von Arzneimitteln so stark dem Wettbewerb auszusetzen, sodass jetzt die Versorgung leidet. Das war marktwirtschaftliches Denken an falscher Stelle.