Statement zur sexuellen Vielfalt und sexualpädagogischen Professionalität
Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V.
In den letzten Wochen wurden in verschiedenen Medien Meinungen zur Sexualpädagogik vertreten, die nicht den fachlichen und ethischen Debatten und Auseinandersetzungen der Sexualpädagogik entsprechen. In diesen Äußerungen spiegelt sich eine Mischung aus kontroversen Positionen, Zuschreibungen und Ängsten,die mit dem Thema sexuelle Vielfalt verbunden sein können. Auf Initiative der Gesellschaft für Sexualpädagogik (GSP) werden mit diesem Text Grundsätze sexualpädagogischer Professionalität im Umgang mit sexueller Vielfalt benannt, die von den unterzeichnenden Fachorganisationen geteilt werden.
1.Sexualpädagogik als wissenschaftliche Disziplinmuss sich mit der in der Gesellschaft vorhandenen Pluralität und Diversität auseinandersetzen. Diese Vielfalt erfasst verschiedene Aspekte der Entwicklung von Kindern und Jugend-lichen, u.a. diverse sexuelle Orientierungen und Geschlechtsidentitäten, ethische und religiöse Überzeugungen sowie Erfahrungen mit und Einstellungen zu Sexualität und Beziehungen. Vielfaltexistiert – wie empirische Studien nachweisen - bereits in den Erfahrungen und Überzeugungen von Heranwachsenden und muss ihnen nicht erst nahe gebracht, sehr wohl aber pädagogisch begleitet werden.
2. Sexualpädagogik als Praxis ermöglicht Jugendlichen sich mit den Themen Sexualität, Beziehung, Liebe, Lust und Grenzen auseinanderzusetzen. Das ist grundsätzlich notwendig, vor allem aber weil Sexualität in der Gesellschaft tabuisiert, medial inszeniert, kommerzialisiert sowie politisiert wird. Sexualpädagogik bietet einen geschützten Raum, in dem Jugendliche gemeinsam, persönlich und nah an ihren eignen Erfahrungen über Sexualität, Liebe und Moral reden und sich austauschen können. Dabei können sie eigene Haltungen entwickeln und reflektieren. Ein wichtiges Ziel für die Jugendlichen ist es zu lernen nicht zu diskriminieren und andere in ihrem Anderssein anzuerkennen. Für lesbi-sche, schwule, bisexuelle, trans-und intergeschlechtliche Jugendliche und junge Erwachsene ist es darüber hinaus wichtig, Solidarität und Unterstützung sowohl durch professionelle Kräfte als auch durch andere Jugendliche zu er-fahren, damit auch sie ein stabiles Selbstbewusstsein entwickeln können.
3. Die ethisch -rechtliche Ausrichtung der Sexualpädagogik basiertin einer demokratischen Gesellschaft auf den Menschenrechten, dem Grundgesetz und dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Diese garantieren auch in den Bereichen von Sexualität und Partnerschaftein Leben in Selbstbestimmung zu führen mit der Verpflichtung, andere durch das eigene Verhalten nicht zu schädigen. Eine in derTradition politischer Aufklärungund gesellschaftlicher Humanität stehenden Erziehung zur Mündigkeit übernimmt die Verantwortung, Kinder und Jugendliche entwick-lungsangemessen auf dem Weg in ein selbstbestimmtes Sexual-und Liebesleben zu begleiten.
4. Sexualerziehung in öffentlicher Verantwortung ist dieser rechtlich-ethischen Ausrichtung auf Selbstbestimmung verpflichtet und darf keine „richtige“, „natürliche“ oder „gelungene“ Form von Liebe, Beziehung und Sexualität vorschreiben. Sie muss für verschiedene Wertauffassungen offen sein, den Dialog fördern und in wechselseitige Anerkennung einüben. Auf diese Weise kann es gelingen, um gemeinsam geteilte Grundwerte eines humanen Sexual-und Liebeslebens zu ringen und sie auf historisch veränderte und plural nebeneinander existierende Lebenssituationen anzuwenden. Diesem Zweck dient auch das verfassungsrechtlich garantierte Kooperationsgebot zwischen Schule und Elternhaus mit ihrem je eigenen Erziehungs-und Bildungsrecht.
5. Sexualpädagogik als Professionwurde in den letzten 30 Jahren in Fachorganisationen, Ausbildungsinstituten sowie Hochschulen mit vielfältigen Qualifizierungsmaßnahmen vorangebracht. Es wurden didaktische Materialien für ganz unterschiedliche Jugendliche entwickelt: verschiedene Geschlechter, Altersgruppen, Heranwachsende mit unterschied-lichen kognitiven Fähigkeiten, sozialer Herkunft, religiösen Einstellungen und sexuellen Orientierungen. Dabei wurde auch die Auseinandersetzung mit umstrittenen Themen, wie z. B. Prostitution, Schwangerschaftskonflikten oder Pornografie einbezogen. Es bleibt die Aufgabe der jeweiligen Pädagogen und Pädagoginnen, die vielfältigen Anre-gungen gezielt auf spezifische Zielgruppen und Situationen zu beziehen und Prozesse des Nachdenkens anzuregen,
um eine eigene Meinungsbildung zu ermöglichen. Das ist die Kernaufgabe von Sexualpädagogik als Profession.
6. Sexualpädagogik wirkt präventiv, wenn sie Jugendliche dazu befähigt, sich auch mit problematischen Aspekten von Sexualität und Beziehung auseinanderzusetzen, anstatt diese zu tabuisieren. Dazu gehört die Thematisierung unge-wollter Teenagerschwangerschaften, sexuell übertragbarer Infektionen und der vielen Facetten sexualisierter Gewalt.
Es ist durch die Forschung ausreichend belegt, dass Verbote, Abschreckung und kognitive Aufklärung allein keine präventive Wirkung haben.
Die oft sehr unsachlich und hitzig geführte öffentliche Diskussion um die Thematisierung sexueller Vielfalt im schulischen Sexualkundeunterricht macht deutlich, dass nicht nur Kinder und Jugendliche Sexualerziehung benötigen, sondern sexuelle Bildung ein Angebot für alle sein muss, auch für Eltern und andere Erwachsene, die im Erziehungs-und Bildungswesen tätig sind. Manche Vorwürfe und kritische Anfragen müssen aber von der sexualpädagogischen Profession selbst genutzt werden, um die Grenzen von Vielfalt und die Angemessenheit didaktischer Vermittlungsweisen zu bedenken. Nur so kann an einer demokratischen Sexualkultur gearbeitet werden, die von Verständnis und Dialog möglichst vieler Akteure geprägt ist.
Kiel im Juni 2014
Unterzeichnende: Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V. und weitere Organisationen
https://www.sexualpaedagogik.uni-kiel.de/de/aktuelles/oeffentliche-diskurse
Andreas Gegenfurtner und Markus Gebhardt, Sexualpädagogik der Vielfalt:
Ein Überblick über empirische Befunde
May 2018 in: Zeitschrift für Pädagogik 64 (3), S. 379-393
Christian Spaemann, Hintergrund und gesellschaftliche Auswirkungen
einer schulischen „Sexualpädagogik der Vielfalt“
in: Sexuelle Vielfalt –Gegenstand staatlicher Erziehung?
Grund und Grenzen der Sexualpädagogikin der staatlichen Schule
Herausgegeben von Arnd Uhle
Berlin: Duncker & Humblot 2016