Die SPD auf sicherheitspolitischer Irrfahrt
Oliver Rolofs am 5. Mai 2020 in CICERO ONLINE
Für einen unnötigen internen Richtungsstreit riskiert die SPD nicht nur die Integrität der Regierungskoalition und die Reputation Deutschlands innerhalb der Nato. Sie schadet vor allem sich selbst, wie auch Johannes Kahrs' Rücktritt von seinen politischen Ämtern zeigt.
Der von der SPD-Führung initiierte Streit um amerikanische Atomwaffen und Deutschlands nukleare Teilhabe in der Nato verschließt die Augen vor den neuen geopolitischen Realitäten. Doch es geht hier nicht nur um die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge, sondern um die künftige sicherheitspolitische Rolle Deutschlands in der Welt. Daran sind klare Erwartungen der Nato-Partner geknüpft.
Mit ihrem Vorstoß hilft die SPD nur Trump und schadet sich selbst. Wer sagt es ihnen? Bundeskanzler Konrad Adenauer sprach einst von Zaunkönigen in der Politik. Anders kann man den von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und Parteichef Norbert Walter-Borjans geforderten Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland wohl nicht werten.
Sicherheitspolitische Phantomdebatten
Es ist mutig, inmitten der Corona-Krise sicherheitspolitische Phantomdebatten zu führen und zu versuchen, die Modernisierung von Luftschlagfähigkeiten der Bundeswehr auszusitzen. Zielführend sind solche Initiativen für eine Partei, die kurz vor dem Artenschutz steht, nicht. Die SPD wird damit den notwendigen Ersatz der Tornado-Flotte zugunsten der Beschaffung neuer atomwaffenfähiger Kampflugzeuge für die Luftwaffe vielleicht verzögern, aber nicht verhindern können.
Solche Forderungen hätte man von Seiten der Opposition erwartet. Bedenklich ist, dass die Zaunkönige als Bundestags-fraktion mit in der Regierungsverantwortung stehen und zunehmend in Sicherheitsfragen irrlichtern.
Vermutlich war das mit ein Grund, warum der SPD-Haushaltsexperte und Sprecher des Seeheimer Kreises Johannes Kahrs so überraschend seinen sofortigen Rückzug aus dem Bundestag vollzogen hat. Denn auch die Neubesetzung des Amtes des Wehrbeauftragten (bei der Kahrs nicht zum Zuge kam), in dem die bislang nicht als Verteidigungspolitikerin aufgefallene Eva Högl den bisherigen angesehenen Amtsinhaber Hans-Peter Bartels nachfolgen soll, ist symptomatisch für diese Entwicklung.
Der SPD ist der sicherheitspolitische Kompass abhandengekommen – in turbulenten Zeiten wie diesen, die von einer neuen geopolitischen Dynamik diktiert werden, ist das fahrlässig und geschichtsvergessen.
Die SPD riskiert die Integrität
Für einen unnötigen internen Richtungsstreit riskiert die SPD nicht nur die Integrität der Regierungskoalition und die Reputation Deutschlands innerhalb der Nato. Sind die Bündnisverpflichtungen, die auch das 2010 im strategischen Konzept der Nato erneute Bekenntnis zur nuklearen Abschreckung miteinschließen, das Weißbuch 2016 sowie der 2018 geschlossene Koalitionsvertrag mit der Union, weiter an der nuklearen Teilhabe festzuhalten nun obsolet?
Für Teile der SPD und ihrer Fraktion wohl schon, während sich ihr Außenminister Heiko Maas und der verteidigungspolitische Sprecher Fritz Felgentreu von dem Vorstoß ihrer Parteifreunde distanzieren – weil sie um den Vertrauensverlust innerhalb der Nato wissen. Doch reicht das?
Ein Hauch von Antiamerikanismus
Die Bündnisgarantie und abschreckende Wirkung des amerikanischen Schutzschirms, dem Europa seit 75 Jahren Frieden und Wohlstand verdankt, wird parteiintern auf kleinliche innenpolitische Debatten reduziert, in der gar ein Hauch Antiamerikanismus mitschwingt.
Wird für Rolf Mützenich, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken die Welt eine sicherere sein, wenn die Nato alle Atomwaffen abschafft, während Länder wie China, Russland, Nordkorea, Pakistan ihre behalten, modernisieren und neue nukleare Player wie der Iran hinzukommen? Die Verletzung des Budapester Memorandums und Zerstörung der 1990 in der Charta von Paris festgeschriebenen europäischen Sicherheitsordnung durch Moskaus forcierte illegale Annexion der Krim und militärischen Intervention im Donbass? Schon vergessen.
Sicherheitspolitische Dynamiken
Wohl auch die Stationierung von russischen Trägersystemen in der Enklave von Kaliningrad, die Warschau oder Berlin im Visier haben? Was sollen die polnischen Nachbarn über einen solchen Vorstoß denken? Darauf wies zu Recht der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger hin. Werden sie nach einem Abzug der Atomwaffen aus Deutschland gezwungen sein, diese auf eigenem Gebiet zu stationieren und damit zwangsläufig gegen die Nato-Grundakte zu verstoßen?
Das würde eine unvorhersehbare sicherheitspolitische Dynamik auslösen, wie sie etwa die Bundeskanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Helmut Kohl immer auszubalancieren wussten – weil sie das strategische „big picture“ stets im Auge hatten. Die Bedrohung geht doch nicht von schätzungsweise 20 US-amerikanischen Nuklearsprengköpfen aus, die in der Eifel lagern, sondern von über tausend einsatzbereiten russischen im Osten, die wohl kaum auf Peking gerichtet sind.
Das Problem heißt Donald Trump
Die von der SPD-Spitze losgetretene Phantomdebatte offenbart etwas ganz anderes: Das Problem heißt Donald Trump, von dem man nicht weiß, ob er mit seinem schlechten Corona-Krisenmanagement erneut die Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden wird. Hierzulande erfüllt er jedenfalls bewährt seinen Zweck: Als integratives Feindbild.
Bei allen Unwägbarkeiten, die von Trump ausgehen, lenken sie von den wirklichen Herausforderungen für die hiesige Politik ab. Sollte der Fokus nicht besser auf einer besseren Corona-Krisenbewältigung liegen? Wie kann die Integrität Europas bewahrt werden? Wie steht es eigentlich um die Flüchtlinge auf Lesbos und anderswo? Vor allem aber, wie soll die globale außen- und sicherheitspolitische Positionierung Deutschlands praktisch aussehen?
Die Sicherheitsgarantie der USA ist nicht selbstverständlich
Solange sich jedoch die SPD und weite Teile der politisch Linken hierzulande weiterhin obsessiv an Trump abarbeiten, wird das uns schaden und ihm nutzen. Trump, dem jede Gelegenheit recht ist, explizit dem deutschen Bündnispartner mangelnde Solidarität und verteidigungspolitische Trittbrettfahrerei vorzuwerfen.
Das sollte die SPD in ihrem Anti-Nuklear Diskurs genauso bedenken, wie die Tatsache, dass solche politischen Manöver den Kräften in US-Administration und US-Kongress, die trotz „America first“ für ein starkes transatlantisches Bündnis einstehen, in den Rücken fallen. Wir nehmen die Sicherheitsgarantie der Amerikaner als selbstverständlich hin. Doch auf der anderen Seite des Atlantiks muss immer mehr Überzeugungsarbeit geleistet werden, damit der Schutzschirm auch weiterhin über Europa aufgespannt bleibt.
Sicherheitspolitik als parteipolitisches Manöver
Die Erwartungen einer vielleicht nicht mehr von Trump angeführten US-Regierung werden übrigens keine anderen als vorher sein. Auch Barack Obama und sein damaliger Verteidigungsminister Robert Gates haben klare Botschaften, wenn auch konzilianter, an die Europäer formuliert, mehr Verteidigungsanstrengungen zu unternehmen. Das ist und bleibt die neue Realität, die weiter für Deutschland und die europäischen Bündnispartner gilt. An ihr sollte sich hierzulande die Politik, allen voran die SPD messen.
Deswegen ist es auch richtig, dass Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer mit der US-Regierung über den Kauf von 45 Kampfjets verhandelt, um angesichts der weiter bestehenden Bedrohungslage die Nuklearfähigkeit der deutschen Luftwaffe und damit entsprechende Bündnisverpflichtung aufrecht zu erhalten. Das stärkt sowohl die Nato als auch die transatlantischen Beziehungen, die weiterhin nicht nur auf das Weiße Haus reduziert werden dürfen. Damit verbunden sollte auch ein klares Signal stehen: dass Deutschlands weiterhin, wenn nicht eines Tages sogar noch mehr Verantwortung in der Nato übernehmen wird, als den Anschein zu erwecken, China oder Russland näher zu stehen.
Leider ist die Welt so wie sie ist: Von einer nuklearfreien Welt sind wir genauso weit entfernt, wie vom einst propagierten Ende der Geschichte (Fukuyama) und den Freuden, die uns angeblich mal umzingelt haben. Deutschlands sicherheits-politische Zuverlässigkeit und Zukunft darf nicht für parteipolitische Manöver und Irrfahrten benutzt werden. Das hilft niemandem und schon recht nicht der SPD.
Oliver Rolofs ist Managing Partner der Münchner Strategie- und Kommunikationsberatung connecting trust und Südost-europa-Experte. Er war langjähriger Kommunikationschef der Münchner Sicherheitskonferenz.
Eine deutsche Absage bringt keine atomwaffenfreie Welt
Rüdiger Lüdeking am 6. Mai 2020 in CICERO ONLINE
Die Debatte um die nukleare Teilhabe Deutschlands in der Nato ist emotionsgeladen. Dabei wäre eine nüchterne Analyse angebrachter. Denn ein einfacher Verzicht würde die grundlegenden Probleme nicht lösen.
Die zur Tornado-Nachfolge vom Verteidigungsministerium angekündigte Beschaffung von amerikanischen F-18 Kampf-flugzeugen hat eine kontroverse innenpolitische Debatte zur nuklearen Teilhabe der Bundesrepublik Deutschland innerhalb der Nato ausgelöst.
Die ins Feld geführten Argumente sind vielfach reflexhaft und entsprechen bekannten Positionen. Statt emotionaler Aufheizung bedarf es jedoch nüchterner Abschätzung der Auswirkungen einer Aufgabe der nuklearen Teilhabe auf die deutsche Sicherheit. Rationales Kalkül war immer schon der Angelpunkt der Abschreckungspolitik des westlichen Bündnisses.
Eine deutsche Absage hat Nachteile für die Sicherheit
So sehr man sich eine atomwaffenfreie Welt herbeiwünschen mag, eine deutsche Absage an die nukleare Teilhabe würde uns ihr keinen Schritt näher bringen. Gleichzeitig sind auch die Nachteile für unsere Sicherheit unübersehbar: Nicht nur wird der Zusammenhalt des für unsere Sicherheit unverändert zentralen Bündnisses und die Kopplung an unsere transatlantischen Partner erheblich geschwächt; auch würde sich Deutschland seines Einflusses auf die Ab-schreckungsstrategie der Nato weitgehend begeben.
Dieser Einflussverlust würde es uns zudem noch schwerer machen, die Einhaltung des seit 1967 geltenden zweigleisigen Politikansatzes der Nato (sog. Harmel- Konzept) einzufordern: Dieses sieht neben der Abschreckung und gesicherten Verteidigungsfähigkeit als zweite zentrale Aufgabe des Bündnisses die Bereitschaft zu Entspannung, Dialog und die Rüstungskontrolle vor. Gerade zum letzteren Punkt besteht aktuell akuter Nachholbedarf.
Kein Anlass zu Sorglosigkeit und Selbstgefälligkeit
Aber es ist auch richtig: Es gibt keinen Anlass zu Sorglosigkeit und Selbstgefälligkeit. Wir müssen uns nicht einfach mit einer mechanistischen und unbegrenzten Fortschreibung des status quo und der nuklearen Teilhabe abfinden. Es kann uns nicht gleichgültig lassen, dass die Gefahren eines nuklearen Schlagabtausches nach dem Ende der bipolaren Weltordnung des Kalten Kriegs gewachsen sind und sowohl die USA wie Russland ihre Nuklearwaffenpotentiale konsequent modernisieren und in ihren Doktrinen deren Einsatz zu flexibilisieren und erweitern trachten.
Um diesen Entwicklungen wirksam begegnen zu können, muss an der richtigen Stelle angesetzt werden: bei den diplo-matischen Bemühungen um nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung. Die anstehende Überprüfungskonferenz zum Atomwaffensperrvertrag, die alle fünf Jahre stattfindet und aufgrund der Corona-Krise auf den Beginn des nächsten Jahres verschoben wurde, bietet ein Forum, um diesem Politikfeld, das nahezu völlig aus dem Blickfeld der internatio-nalen Öffentlichkeit verschwunden ist, wieder die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen.
Wichtige Schritte der nuklearen Abrüstung
Um Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung und Nichtverbreitung zu erreichen, gilt es vor allem auf folgendes hinzu-wirken:
Die USA müssen – selbst wenn die aktuellen Aussichten dafür gering erscheinen – zu einer konstruktiven „Vorreiterrolle“ zurückfinden und ihren radikalen nationalen Egoismus sowie das einseitige Setzen auf militärische Überlegenheit auf-geben. Die Zustimmung zu der bereits von Russland vorgeschlagenen fünfjährigen Verlängerung des im Februar 2021 auslaufenden NewSTART Vertrages über bilaterale Begrenzungen ihrer strategischen Nuklearwaffensysteme würde hierzu ein wichtiges Signal setzen.
Die Mitgliedsstaaten des Atomwaffensperrvertrags müssen zu neuer Gemeinsamkeit und Geschlossenheit zurück-finden, auch um den Gefahren der Weiterverbreitung von Nuklearwaffen wirksam entgegentreten zu können. Der 2017 von 122 Staaten angenommene Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen ist zwar Ausdruck einer verständlichen Frustration über ausbleibende Fortschritte bei der nuklearen Abrüstung; er bietet jedoch keinen Ausweg, da er die Vertragsstaatengemeinschaft spaltet und von allen Nuklearwaffenstaaten wie auch wichtigen Nichtnuklearwaffen-staaten abgelehnt wird. Stattdessen sollte angesichts aktuell ungünstiger Rahmenbedingungen auf einen weniger ambitionierten schrittweisen Ansatz gesetzt werden, wie er schon seit langem von der Bundesregierung propagiert wird.
Die Nuklearwaffenstaaten müssen glaubwürdig die Bereitschaft dokumentieren, ihrer Abrüstungsverpflichtung gerecht zu werden. Den USA und Russland müssen hierzu unverändert schon aufgrund ihrer mit Abstand größten Potentiale – beide verfügen über jeweils mehr als 6000 Atomsprengköpfe – eine Vorbild- und Vorreiterfunktion erfüllen. Das Beharren der USA auf Einbeziehung Chinas in jegliche Abrüstungsvereinbarungen ist angesichts des vergleichsweise kleinen Potentials von weniger als 300 Sprengköpfen chancenlos. Gemeinsam könnten die fünf Nuklearwaffenstaaten des Vertrags in einem ersten Schritt durch Maßnahmen zur Transparenz über ihre Nuklearwaffenpotentiale und -doktrinen Vertrauen schaffen und – dies wäre besonders zu hoffen – den Weg zu gemeinsamen Verhandlungen und Vereinbarungen zu strategischer Stabilität ebnen.
Ein neues Momentum
Die vorstehenden Punkte mögen wohlfeil klingen. Aber sie sollten verdeutlichen, dass ein Verzicht auf nukleare Teilhabe nicht das grundlegende Problem löst. Vielmehr muss es gelten, ein neues Momentum für nukleare Abrüstung und Nichtverbreitung zu schaffen, um damit auch Spielraum in der Umsetzung der Abschreckungsstrategie des Bündnisses – diese stützt sich im übrigen nicht allein auf Nuklearwaffen – zu schaffen.
Auch erratische Aussagen von Präsident Trump, die die Verlässlichkeit der USA als Bündnispartner in Frage stellen, sollten uns nicht beirren und uns nicht veranlassen, die erweiterte Abschreckung, mit der wir bisher gut gefahren sind, aufzukündigen. Dies entbindet uns jedoch auch nicht von der Verpflichtung, auch die Möglichkeiten zur Gestaltung einer europäischen strategischen Autonomie weiter auszuloten. In diesem Zusammenhang ist es von Belang, dass Präsident Macron den europäischen Partnern im Februar einen strategischen Dialog über nukleare Abschreckung angeboten hat.
Rüdiger Lüdeking war deutscher Diplomat und von 2015 bis 2018 deutscher Botschafter in Belgien.
https://www.cicero.de/innenpolitik/nukleare-teilhabe-deutschland-atomwaffen-debatte-f18-tornado