Die Summe aus Athen, Rom und Jerusalem
ALEXANDER KISSLER im CICERO - Online am 20. November 2018
Im Vertrag von Lissabon begreift sich die Europäische Union ausdrücklich als „Wertegemeinschaft“, auch die EU-Grundrechtecharta ist „auf der Grundlage gemeinsamer Werte“ verfasst. Was aber genau sind diese Werte?
Um die Frage beantworten zu können, was „unsere Werte“ seien, muss zunächst die ungleich schwierigere Frage beantwortet werden, wer „wir“ sind. Sind „europäische Werte“ Werte des Abendlands, Werte des Westens oder Werte des heutigen Europas, wie es unter Absehung von der Europäischen Union nicht gedacht werden kann? Sind also wir, die wir uns diese Frage stellen, Österreicher, Bulgaren, Belgier, Franzosen, Deutsche oder „EU-Bürger“ oder gar „Weltbürger“?
Eine Frage der Identität
Die Frage nach den europäischen Werten ist die Frage nach der europäischen Identität. Das macht sie so schwierig, haben wir es uns doch in der Spätmoderne angewöhnt, von offenen Identitäten zu sprechen, von fluiden Persönlichkeiten, von multiperspektivischen Zugängen. Werte aber sind Grenzbegriffe. Sie umzäunen das Gebiet oder die Gemeinschaft derer, die sich dieselben Werte gegeben haben und entschlossen sind, sie durchzusetzen. In der Rede von den „universalen Werten“ schwingt ein Herkunftszeichen mit, das den Begriff relativiert. Allein die Überzeugung nämlich, dass es universale Werte gebe, zeichnet diese Werte als Werte des Westens aus.
Was also ist der Westen? Der Westen ist, philosophiegeschichtlich gesprochen, die Summe aus Athen, Rom und Jerusalem. Der Westen ist der Raum derer, die die athenische Frage nach dem Guten, die römische Frage nach dem Gerechten und die Jerusalemer, die jesuanische Frage nach dem Wahren für unbedingt fragenswert halten, gestern, heute, morgen. Für alle seine Bewohner verbindliche Antworten wird der Westen nicht liefern können, aber die feste Zusage, sich das Fragen nicht austreiben, die Neugier nicht abkaufen, die Freiheiten nicht abtöten zu lassen.
Der Westen ist dort, wo man gemeinschaftlich und friedlich nach dem Guten, nach dem Gerechten, nach dem Wahren in immer neuen Anläufen fragt – und dabei keine dieser drei Kategorien außer acht lässt. Es kann keine Gerechtigkeit geben ohne Wahrheit, kein Gut ohne Recht, keine Wahrheit ohne das Gute: Diese ineinander verschlungene Trias der Werte kennzeichnet den Westen.
Die Proklamation von Werten allein schützt nicht
Der auf dem Erbe von Athen, Rom und Jerusalem errichtete Westen ist zugleich das Ergebnis zweier Revolutionen, der Amerikanischen zunächst und dann der Französischen. Sowohl die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776 als auch die Französische Revolution 1789 proklamierten mit den Menschenrechten „säkularisierte christliche Werte“ (Heinrich August Winkler), die indes programmatisch keinen spezifisch christlichen oder gar theokratischen Staat konstituierten. Jeder Mensch sollte frei nach Glück und Sicherheit streben dürfen. Die Menschen seien „von Geburt an frei und gleich an Rechten“. Diese Einsicht bewahrte die französischen Revolutionäre nicht davor, von 1792 an auf einen modernen Nationalismus einzuschwenken. Wir sehen: Die Proklamation von Werten schützt nicht vor praktizierter Barbarei.
Dennoch entstand im Wechselspiel zwischen Europa und Nordamerika am Ende des 19. Jahrhunderts das bis heute gültige westliche Prinzip von Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Wie ist es heute um dieses westliche Prinzip bestellt? Im Lissabonner Vertrag von Dezember 2007 begreift sich die Europäische Union ausdrücklich als Wertegemeinschaft. Vierzehnmal erscheint der heikle Begriff. Ziel der Union sei es „den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern“. Die Reihe der Werte lautet: „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“.
Drei Jahre später, in der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ heißt es einerseits pragmatischer, andererseits hochfahrender, „auf der Grundlage gemeinsamer Werte“ soll eine „friedliche Zukunft“ dadurch erreicht werden, dass die Völker „sich zu einer immer engeren Union verbinden.“ Dieses Junktim gilt heute nicht mehr. Die „ever closer union“ wird nicht einmal mehr von der Europäischen Kommission gefordert. Man ist, salopp formuliert, froh, den Laden einigermaßen zusammenhalten zu können, trotz Brexit, trotz Visegrad.
Europäische Werte in der Krise
Die europäischen Werte befinden sich in der Krise, weil die europäische Identität unsicherer geworden ist denn je. Gibt es sie überhaupt? Die Peripherie drängt heute das Zentrum zurück, die Metropole den Kontinent, die Region die Nation. Wer zu den Werten vordringen will, muss für die Identität Platz schaffen. Und Identität kann es nicht geben, ohne jene erkenntnistheoretische wie politikpraktische Kategorie, die dem Konzert der Werte vorausgeht und ohne die jenes nicht klingen kann: die Kategorie des Gemeinwohls.
Die europäischen Werte befinden sich auch deshalb in der Krise, weil das Gemeinwohl im Lissabonner Vertrag gar nicht und in der Grundrechtscharta nur ein einziges Mal auftaucht, im Artikel 17, der das Eigentumsrecht behandelt: „Die Nutzung des Eigentums kann gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist.“ Das Allgemeinwohl setzt dem Eigentumsrecht eine Grenze. Das Allgemeinwohl begrenzt auch Weltbeglückungspläne, wie sie die Vereinten Nationen unlängst ausformulierten im „Globalen Migrationspakt“, der das Allgemeinwohl nicht einmal begrifflich kennt.
Das Allgemeinwohl als Grundlage
Das Allgemeinwohl trägt, in der klassischen Formulierung des klugen Abendländers Thomas von Aquin, der Tatsache Rechnung, dass „die Gutheit eines jeden Teiles immer vom Entsprechungsverhältnis zu seinem Ganzen abhängt. (…) Da nun jeder Mensch Teil eines bürgerlichen Gemeinwesens ist, kann der Mensch unmöglich gut sein, wenn er nicht dem Gemeingut gerecht wird.“ Auch das Gemeinwesen, auch die Region, die Nation, der Kontinent können nicht gut sein, wenn sie das Allgemeinwohl vernachlässigen.
Insofern lässt sich sagen: Die europäischen Werte haben eine Zukunft, wenn eine europäische Identität auf der Basis des Allgemeinwohls neu wird wachsen können. Gerade unter den Bedingungen der Flucht- und Migrationsbewegungen des 21. Jahrhunderts wird Europa ein Europa sein, in dem das Allgemeinwohl geachtet wird. Oder Europa wird gewesen sein.
Am 19. und 20. November 2018 fand in Wien auf Einladung der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft eine internationale Tagung zum Thema „Europäische Werte, Rechtsstaat, Sicherheit“ statt. Beim Forum „Was sind unsere Werte?“ hielt Cicero-Ressortleiter Alexander Kissler dieses einleitende Referat.
Alexander Kissler ist Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Der aufgeklärte Gott. Wie die Religion zur Vernunft kam“ und „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“.
https://www.cicero.de/aussenpolitik/europa-werte-identitaet-allgemeinwohl-freiheit-westen-abendland