Ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden, Christen und Muslimen sowie Anders- und Nichtgläubigen in Europa
ist möglich. Wenn nicht hier in Europa, wo sonst in der Welt?
Was das Thema der Zunahme der Anzahl von Muslimen in Europa angeht, sind vor allem Rücksicht, Vorsicht und Umsicht geboten: Rücksicht nehmen auf die Muslime, die schon in Europa leben und die vielleicht unsere Nachbarn, unsere Gastgeber oder unsere Geschäftspartner sind; Vorsicht walten lassen sowohl gegenüber radikalen, politisierten, fanatischen und gewaltbereiten Muslimen, die nicht nur den sozialen Frieden gefährden, sondern die auch dem An-sehen der meisten friedliebenden Muslime und des Islam insgesamt schaden als auch gegenüber ausländerfeindlichen Einheimischen, die sich aus welchen Gründen auch immer vor Muslimen fürchten und sie hassen sowie Umsicht üben
in Bezug auf die Gefährdung einheimischer europäischer Juden, die manchmal auch von islamischen und islamistischen Antisemiten beleidigt und angegriffen werden.
Wachsam und wohlwollend, aber nicht blauäugig und naiv bleiben, ist die Devise. Die Geister unterscheiden lernen -- auch in den eigenen Reihen. UWD
Die neue Weltunterordnung
Alexander Goerlach - FAZ ONLINE - 15.05.2004
In Vorbereitung auf einen Kulturdialog mit Europa, wie ihn der Islam versteht: An Kairos Al-Azhar-Universität erfährt man die Zukunftspläne der arabischen Welt
Dr. Sayyed Fatallah betritt die Fakultät der Islamwissenschaften in deutscher Sprache an diesem Morgen gut gelaunt. Der studierte Germanist lehrt an der ältesten islamischen Hochschule, der Al-Azhar-Universität in Kairo. Seine Disser-tation hat er über Anna Seghers geschrieben. Die Studenten warten bereits auf ihn. Später wird er den Fachbereichs-leiter treffen, Professor Muhammad Mansour. Er greift sich im Vorbeigehen das neueste Buch seines Chefs, "Einführung in die Koranwissenschaft", das noch halbverpackt in Kisten auf dem Gang auf die Verteilung an die Studenten wartet. Es wird ein guter Tag für die Fakultät werden. Mit der historisch-kritischen Methode, die er sich beim Studium der Literatur-wissenschaft in Europa angeeignet hat, arbeiten hier an der Al-Azhar weder er noch sein Chef, Professor Mansour, wenn es um ihre heilige Schrift, den Koran, geht. "Das ist Gottes eigenes Wort; das wird von Muslimen auf der ganzen Welt auswendig gelernt. Daran gibt es keine Kritik", sagt Fatallah. Einen Augenblick später erklärt er, daß das Neue Testa-ment der Christen voller Fehler sei, man könne dies einfach an mehreren Beispielen mit philologischen Methoden nachweisen. "Das habe ich selbst schon getan."
Im Glauben der Muslime ist der Koran Gottes selbstgesprochenes Wort, mit dem er den Erzengel Gabriel in der Nacht zu Muhammad herabgesandt hat. Die Vorstellung der Verbalinspiration des Korantextes steckt die Grenzen der islami-schen Theologie ab und gibt den Rahmen vor, innerhalb dessen Dialog moglich ist, zumindest sieht man das im ara-bischsprachigen islamischen Kulturraum so, zu dessen anerkanntesten Autoritäten die Al-Azhar Universität gehört. Für Muhammad Fatallah und seine Kollegen ist der Koran als Textganzes auf die Erde herabgesandt worden. Der Autor des Textes ist Gott. Islamische Kollegen, die den Koran als Textedition sehen, in der man Entwicklungsstufen und literarische Eingriffe nachweisen kann, beäugt er mehr als skeptisch. "Das einzigartige am Koran ist, daß er in arabischer Sprache herabgesandt wird in einer Zeit, als es diese Sprache als feste Größe noch gar nicht gibt. Das beweist, daß der Koran von Allah stammt."
Die Worte, die Gott zu Muhammad spricht, sind in arabischer Sprache. Schon zu Lebzeiten von Muhammad mußten die neuen Gläubigen in den unterworfenen Gebieten Nordafrikas Arabisch lernen; der Islamisierung ging immer eine Arabisierung voraus. In Ägypten, dem Mutterland der Al-Azhar-Universität, wurde nach der Eroberung in den Jahren 639 bis 641 Stück um Stück eine Transformation der Gesellschaft und der Kultur vorbereitet, an deren Ende die arabische Sprache das Koptische per Dekret abgelöst hat. Damit verbunden war eine Auslöschung des christlichen Glaubens, der das Land fast sieben Jahrhunderte lang geprägt hat. Das Koptische hat bis heute fast ausschließlich als die Sprache der ältesten christlichen Kirche der Welt, in der Liturgie der Kopten, überlebt. Kein Schulbuch im Land berichtet über die christliche Kultur, die es in Ägypten und ganz Nordafrika vor der Eroberung durch die Araber gegeben hat.
Der Fachbereich von Fatallah ist auf einer Etage der Sprachfakultät der Al-Azhar-Universität untergebracht. Ein Raum, in dem drei Schreibtische für die Professoren stehen, ein Telefonanschluß, ein Sekretariat, der Raum für die Assistenten und einige Unterrichtssäle. Der Arbeitsplatz von Fachbereichsleiter Mansour ist der Tisch in der Mitte des Professorenzimmers. Gut gelaunt und geduldig hört der graumelierte Mann hier täglich die Bitten seiner Studenten an. "Die Studenten hier werden vorbereitet auf den Kulturdialog in Europa", sagt er. Das bedeutet in seinen Augen, den "wahren Islam" in den christlichen Ländern bekannt zu machen. "Wer den wahren Islam kennt, der wird dann viel leichter Muslim." Prediger werden hier ausgebildet, die in Europa missionieren sollen. "Wir haben hier in einem Kurs die Schulbücher Österreichs untersucht", sagt Professor Mansour. "Es waren unzählige Fehler in der Darstellung über den Islam darin - in jedem!" sagt Mansour.
Die Islamisierung Europas gilt nur noch als eine Frage der Zeit
Prediger seines Fachbereichs sollen das richten, nicht nur in Österreich: In dem Gebäude, in dem seine deutsche Abteilung untergebracht ist, wird auch auf englisch, französisch, spanisch und chinesisch unterrichtet. Wenn der "wahre Islam" in Europa bekannt ist, ist die Islamisierung des Kontinents nur noch eine Frage der Zeit. Dabei vergessen arabische Enthusiasten gerne, daß der "wahre Islam" in jedem islamischen Land etwas anders bedeutet und eine hermeneutische Hegemonie nicht ohne Widerspruch behauptet werden kann. Über die Möglichkeiten und die Grenzen des Kulturdialogs mit den Nichtmuslimen machen sich die Lehrkräfte der Fachbereiche ihre Gedanken. "Man hat hier den Eindruck, daß der Westen den Dialog und die Themen vorgibt", sagt Sayyed Fatallah, bevor er sich in die Lektüre der "Einführung in die Koranwissenschaft" vertieft.
Zwanzig Kilometer entfernt von der islamischen Hochschule, im Zentrum der Siebzehn-Millionen-Metropole Kairo, liegt im Diplomatenviertel Zamalek auch die Vertretung des Papstes, die Apostolische Nuntiatur. Der Palazzo ist ganz im italienischen Stil des ottocento gehalten, an den Wänden finden sich ölfarbene Gemälde längst verstorbener Päpste. Der Nuntius, der Botschafter des Papstes, ist arabischer Herkunft, spricht die Sprache fließend. Von Rom aus ist er beauf-tragt, im Namen der Kirche Dialog zu suchen mit den Muslimen im Land, auch an der Al-Azhar. "Dialog bedeutet im Arabischen, daß man zusammenkommen muß, wenn etwas schiefgelaufen ist, wenn man gestritten hat und uneins ist. Es bedeutet nicht, wie in Europa, das Interesse am anderen, als Mensch, ein Interesse an seiner Kultur und seinen Vorstellungen", sagt der Nuntius Marco Brogi. Der jüngste Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen, den intellek-tuelle Muslime über ihren Kulturkreis geschrieben haben, scheint dies zu bestätigen. Bemängelt wird in dem im Oktober 2003 erschienenen Dokument an der arabischen Welt das Beharren auf Autoritäten, das Fehlen von Kreativität und gedanklicher Innovation. Ein Indikator für den desolaten Interessen- und Bildungszustand: Obwohl 284 Millionen Menschen arabisch und nur elf Millionen griechisch sprechen, so der Bericht, werden achtmal mehr Bücher pro Jahr in das Griechische übersetzt als in das Arabische.
Sayyed Fattalah legt das Buch zur Seite. "Muhammad ist das Siegel der Propheten", beginnt er eine theologische Ausführung. "Das bedeutet, daß alle Religionen und Kulturen dem Islam untergeordnet sind." Schon der Koran wünscht, daß neben Kirchen und Synagogen Moscheen zu errichten sind, die die anderen Sakralbauten überragen sollen. "Allah uakbar" - Gott ist größer! -, ist fünfmal am Tag die Mahnung an die Andersgläubigen, sich ihrer Minder-wertigkeit bewußt zu bleiben. Das Ansinnen etwa von Muslimen im bayerischen Freising, unter dem Zeichen der Toleranz auf dem Domberg neben der Kathedrale eine Moschee mit Minaretten zu bauen, von denen der Gebetsruf erschallen soll, wird in der arabischen Öffentlichkeit klar gesehen als Zeichen des Vormarschs des Islam. Dafür ist auch das Mittel der Täuschung recht: "Wenn eure Gesetze es hergeben, dann überwinden wir eure Religion und Kultur mit diesen Gesetzen", ist ein Tenor in der Öffentlichkeit. In Deutschland kennt man solche Sätze nur von zwielichtigen Gestalten wie dem sogenannten Kalifen von Köln, hier in Ägypten ist diese Meinung en vogue. Toleranz ist hier ein Zeichen von Schwäche. Als im vergangenen November ein italienischer Richter entschied, in einem süditalienischen Dorf das Kreuz aus dem Klassenzimmer zu entfernen, titelten die Zeitungen in Ägypten: "Sieg! Das Kreuz fällt!" Einen Tag später wurde das Kreuz in Süditalien wieder aufgehängt, an seinen alten Platz; die italienische Verfassung sieht nämlich ein Kruzifix in allen öffentlichen Räumen vor. Darüber berichteten die Zeitungen am Nil nichts mehr.
Die Weisung des Koran, das "Haus des Islam" bis an die Grenzen der Erde auszuweiten, wird in der arabischen Welt immer noch als aktuelle Verpflichtung begriffen, entgegen allen andersklingenden Beteuerungen. In Ägypten bekom-men die Christen ihre angebliche Minderheit plastisch zu spüren. Carlyle Murphy, Pulitzerpreisgewinner und einstiger Korrespondent für die "Washington Post" in der Region, berichtet von Christenverfolgungen und Morden, zum Beispiel im Jahr 1992 in Oberägypten. In seinem Buch "Passion for Islam" beschreibt er, wie Christen auf offener Straße und an ihren Arbeitsplätzen hingemetzelt wurden, weil sie die vom Koran vorgesehenen Tributzahlungen an die (im konkreten Falle selbsternannten) islamischen Herrscher nicht zahlen wollten oder konnten. "Das ist Gott sei Dank die Ausnahme", betont der Apostolische Nuntius. "Aber man kann schon von dauerhafter Diskriminierung der Christen hier in Ägypten sprechen." Der Nuntius verweist gleichzeitig auf die verzweifelte Lage aller Christen in der arabischen Welt, besonders im Heiligen Land.
In Jerusalem bei der Apostolischen Delegation des Heiligen Stuhles weiß man genau, wovon Kollege Brogi in Kairo spricht. Botschaftssekretär Bert van Megen führt aus, daß die Christen immer wieder zum Spielball zwischen den Interessen von Muslimen und Juden werden. "In Bethlehem sind vergangenes Jahr dreihundert christliche Familien ausgewandert, weil die muslimischen Palästinenser in ihre Häuser eingedrungen sind, von dort aus auf die Israelis geschossen haben. Darauf wurden die Häuser der Christen im Artilleriefeuer zerstört. Andere Muslime gehen auf die Grundstücke der Christen, beten dort und erheben dann Anspruch, das Territorium sei durch das Gebet islamisch geworden." Der neue niederländische Botschafter sei bei seinem Antrittsbesuch von Arafat darauf hingewiesen worden, daß die Israelis in Nazareth bei einem Gefecht auf die Mariensäule inmitten der Stadt geschossen und dabei der Skulptur der seligen Jungfrau erheblichen Schaden zugefügt hätten. "So wird versucht, christliche Emotionen zu wecken, mittels deren Einfluß auf den Verlauf des Nahostkonflikts genommen werden soll", sagt van Megen.
Juden und Christen sollen ihre heiligen Schriften gefälscht haben
Muhammad Mansour sieht das anders: "Die christlichen Minderheiten sind gute Mitbürger und nette Mitmenschen. Sie werden ausgezeichnet behandelt." Jetzt ist Mittag, Gebetszeit. Fatallah begibt sich in eine Ecke seines Raumes und betet. Die Assistenten der Fakultät beten jetzt auch in einem Zimmer nebenan. Da es nur einen Teppich gibt, fertigen sie aus dem Kartons, in denen am Morgen noch die Bücher von Professor Mansour, die "Einführung in die Koranwissenschaft", verpackt waren, weitere Unterlagen, um das Gebet kultisch korrekt vollziehen zu können. Wenn sich die Assistenten in ihrem Raum nach Mekka wenden, schauen sie auf ein Bücherregal, meist Grammatik- und Wörterbücher der deutschen Sprache. Das ist die Fachbereichsbibliothek. Werke über islamische Theologie finden sich am Fachbereich Islamwissen-schaft in deutscher Sprache keine, dafür zwei Bibeln. "Die Juden und die Christen haben ihre heiligen Schriften gefälscht. Dafür gibt es den Begriff des tharif", erklärt Fatallah nach dem Gebet. "Die Juden haben diese Fälschung mit Absicht vorgenommen, die Christen aus Unwissenheit", fährt er fort. "Die Wahrheit über die heiligen Schriften der Juden und der Christen kennen nur die Muslime, weil die Wahrheit über diese Religionen nur in unserem Koran steht." Sayyed Fatallah hat diesbezüglich keine seltene Sondermeinung, sondern er gibt das wieder, was sich auch in vielen deutsch-sprachigen wissenschaftlichen Darstellungen des Islam findet.
Diese Sicht auf den anderen hat erheblichen Einfluß auf die Möglichkeiten interkulturellen und interreligiösen Dialogs. Das weiß man auch in Rom in der Zentrale der katholischen Kirche. Von dort aus versucht der Päpstliche Rat für den Interreligiösen Dialog seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil offiziellen Dialog mit allen Religionen und Geistesströ-mungen auf dem Globus zu unterhalten, auch mit der Al-Azhar-Universität in Kairo. "Der interreligiöse Dialog hat der katholischen Kirche sehr viel gebracht. Er öffnet unsere Augen für die wunderbaren Wege, auf denen Gott in die Herzen von jedem Menschen auf der Welt kommen kann", sagt der Präsident des Rates, Erzbischof Michael Fitzgerald. "Mein Wunsch ist, daß Muslime das auch so zu sehen beginnen." Ein gemeinsames Komitee von Vatikan und Al-Azhar wurde 1998 gegründet - von ägyptischer Seite auf Wunsch der Regierung. Man trifft sich einmal im Jahr, mal in Rom, mal in Kairo. Die Themen, über die gesprochen wird, legt weitgehend die Al-Azhar fest. "Als ich den Großen Scheich der Al-Azhar-Universität 1998 getroffen habe, sagte er mir sofort, daß er nicht über Theologie reden möchte", berichtet Fitzgerald. Da man von islamischer Seite voraussetze, daß die christlichen und die jüdischen Schriften gefälscht sind, kann man auch nicht theologisch gleichberechtigt in Kontakt treten. Der Koran berichtet beispielsweise, die Christen glaubten an drei Götter, den Vater-Gott, eine Mutter-Göttin (Maria), die zusammen durch physische geschlechtliche Zeugung den dritten Gott (Jesus) erzeugen. Diese Auffassung spiegelt nicht die christliche Lehre vom einen Gott in den drei Personen wieder. Gerne würde man von Rom aus über Themen wie diese reden, nicht zuletzt, um die Meinung über Christen in der arabischen Welt zu verändern.
Dies scheitert im Falle Ägyptens an der Blockade der Al-Azhar. "Wir möchten aber trotz aller Schwierigkeit in Dialog bleiben, weil es gut ist, wenn man sich kennt und wenn man miteinander spricht", sagt der Erzbischof. "Wir als Katho-liken sagen mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, daß alle Religionen etwas von der Wahrheit und der Schönheit Gottes aussagen können. Wir sagen dies in unserem Glauben an Jesus Christus, der sich in Liebe allen Menschen zugewandt hat. Er ist die Fülle dessen, was der Mensch über Gott wissen kann."
In Islam und Christentum treffen zwei konträre Offenbarungsvorstellungen aufeinander. Für die Muslime offenbart sich Gott in seinem eigenen, gesprochenen Wort in arabischer Sprache. Deshalb kann man den Koran nicht übersetzen, sondern nur in andere Sprachen übertragen. Die Menschen müssen sich hier diesem Wort zuwenden, es erlernen, studieren und befolgen. Die Antwort des Menschen ist hier der Gehorsam. Für die Christen offenbart sich Gott in Jesus Christus; er ist der "logos", das Wort, das in die Welt kommt. Gott wendet sich hier dem Menschen zu aus Gnade und Liebe. Die Antwort auf diese Zuwendung ist der Glaube. Das Neue Testament berichtet über Jesus und ist somit nicht die Offenbarung selbst, sondern die Schrift über die Offenbarung. Das Christentum ist anders als der Islam keine Buch-, sondern eine Offenbarungsreligion. Das Neue Testament kann man mit dem ihm innewohnenden Selbstverständnis in alle Sprachen übersetzen, den Koran nicht.
In der arabischen Welt, auch in Kreisen der Al-Azhar, führt diese Annahme zu folgender Konsequenz: Wenn Gott in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort den Koran, die "Rechtleitung", wie er genannt wird, herabsendet, dann ist die Gesellschaft zu jener Zeit so, wie Gott sich die Welt wünscht. Die Kodifizierung jedes Aspektes des menschlichen Lebens, wie sie der Koran leistet, macht eine Abstrahierung oder eine Weiterentwicklung des Textes unmöglich, denn Gottes Wort ist perfekt und kann nicht durch menschliche Modifikation verfeinert oder übertroffen werden. Die islamische Gesellschaft soll sich so nicht fort-, sondern zurückentwickeln, so wie sie zur Zeit des Propheten war. Von einer skurrilen Frucht dieses Verständnisses berichtet der Assistent des Nuntius in Kairo, Jean-Marie Speich: "In den ägyptischen Medien wird bisweilen gesagt, daß Auto und Fernseher von Muslimen erfunden worden seien. Würde die Mehrzahl der Muslime hier wissen, daß Christen diese Dinge erfunden haben, würden sie die Benutzung ablehnen."
Einen neuen Kreuzzug sehen die Muslime auf sich zurollen
Gemeinsame Erklärungen von Vatikan und Al-Azhar gibt es zu dringenden Fragen politischer Art, etwa nach dem 11. September 2001, während des Balkan -Krieges und zur Lage der palästinensischen Flüchtlinge. Hier scheint es von seiten der Al-Azhar-Universität eine zweifache Sprachregelung zu geben. In der gemeinsamen Erklärung nach dem 11. September wird Gewalt und Terrorismus im Namen der Religion als falsch gebrandmarkt, wenige Wochen später befindet der Oberste Scheich der Universität, Sayyed Tantawi, Selbstmordattentate prinzipiell für gut. Im Zusammen-hang mit dem letzten Irak-Krieg wurde von seiten der AL-Azhar von einem "neuen Kreuzzug" gegen die Muslime gesprochen. Der Heilige Stuhl hat daraufhin Einspruch erhoben. Nach einer beruhigenden Stellungnahme von seiten der Al-Azhar, die Wogen glätten sollte, stand der Begriff Kreuzfahrer wenige Tage später wieder in den Blättern des Landes.
Scheich Tantawi, der oberste Schirmherr des Komitees für den Dialog mit den Monotheistischen Religionen, hat noch in einer Predigt im April 2002 die Juden "als Feinde Gottes und Abkömmlinge von Schweinen und Affen" bezeichnet. Schon die Doktorarbeit des Höchsten Geistlichen des Landes aus den späten sechziger Jahren widmete sich den "Kindern Israels" und ihrem vermeintlichen Anspruch auf das Heilige Land. Wie ernsthaft unter diesen Vorbedingungen Dialog, Verständigung mit Menschen anderer Religion und Herkunft betrieben werden kann, bleibt offen. Die Gelehrten der Al-Azhar-Universität jedenfalls sind keine Freunde des Dialogs mit den Christen und den Juden.
Von seiten der Regierung werden die Kleriker für die Moscheen ernannt, was Unmut im Land hervorruft. Immer mehr "illegale" Gebetsstätten entstehen in Ägypten in Seitenstraßen, Kellern und Hinterhöfen. Wären morgen Wahlen, würden die moderaten Islamisten gewinnen, würde die Sharia als Gesetz eingeführt. Unterstützen denn die Gelehrten der Al-Azhar das säkulare politische System? Professor Mansour hebt die Augenbrauen und lächelt. "Nein", sagt er. Nach einer Pause ergänzt er: "Glaube ich."
Mansour und Fatallah sitzen am späten Nachmittag zusammen im großen Zimmer des Fachbereichs. Die Studenten sind nach Hause gegangen, im Nebenzimmer erledigen die Assistenten ihre Aufgaben. An den Wänden hängen gerahmte Poster von Neuschwanstein, dem Hamburger Hafen und der Wartburg. Die beiden werden gleich aufbre-chen, um einer Gruppe von Frauen, die am normalen Unterrichtsleben der Fakultät aufgrund ihres Geschlechts nicht teilnehmen können, in privaten Abendstunden die Kultur und Religion Europas nahezubringen. Alle diese Frauen sprechen deutsch, sie haben auf einer der drei deutschen kirchlichen Schulen in Kairo ihren Schulabschluß gemacht. Die beiden Dozenten lesen die Einleitung des neuen Buches von Professor Mansour. "Möge Allah mit dieser meiner Arbeit zufrieden sein", heißt es da. Das Werk von Mansour ist mehr eine Apologie des Koran als eine Einführung in das literarische Wesen des Buches. Die Anwendung historisch-kritischer Methoden war eben von vorneherein nicht intendiert. "Wenn die Europäer den Koran verstehen, wenn sie die Feinheit der arabischen Sprache sehen, müssen sie doch glauben, daß das Hinterfragen des Textes ohne Belang ist." Daraufhin ist das Buch angelegt. Darin sind die beiden Männer sich einig.