Wohlstand in der EU

 

 

Ungleiche Lebensverhältnisse: Europa, die Wohlstandsmaschine

 

  • Die EU-Mitgliedschaft hat den Wohlstand in jedem Staat der Union erhöht.
  • Der gemeinsame Markt und die Regionalförderung der EU sorgen auch dafür, dass die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedsstaaten abnehmen.
  • Innerhalb der einzelnen EU-Staaten sind die Lebensverhältnisse jedoch zuletzt meist auseinandergedriftet.

 

Alexander Hagelüken - Süddeutsche Zeitung - 13. Juli 2019

 

Europas Bürger machten in den vergangenen 30 Jahren oft ähnliche Erfahrungen. Während sich der Kapitalismus weltweit durchsetzte und die Firmen globaler auftraten, nahmen die sozialen Unterschiede zu. Die Firmengewinne stiegen, und Manager steigerten ihre Gehälter. Doch der Lohn vieler Normal- und Geringverdiener stagniert. Maschinen übernehmen ihre Arbeit, übrig bleiben mäßig bezahlte Servicejobs als Fahrer oder Verkäuferin. Dazu kommt, dass die Steuern für Unternehmen und Reiche gesenkt wurden. So wurde es in einigen europäischen Ländern ungleicher, in Deutschland genauso wie in Italien oder Polen - was überall den Aufstieg populistischer Parteien förderte.

 

Die Frage ist, welche Rolle dabei eigentlich die Europäische Union spielt, die in den vergangenen Jahren so von Streit geprägt war. Ist sie eine EU der Konzerne, die Reiche noch reicher macht? Verschärft sie die Wohlstandskluft zwischen den Ländern, zwischen Deutschland und Rumänien, Schweden und Italien? Die Analyse zeigt das Gegenteil: Die Europäische Union ist ein Teil der Lösung, nicht des Problems. Historisch war es stets so, dass ein Land seinen Wohlstand steigerte, nachdem es dem Klub der derzeit 28 Staaten beigetreten war. Und die wirtschaftliche Kluft zwischen den Mitgliedsländern ist zwar nach wie vor groß - doch sie nimmt ab.

 

Diese These mag seltsam klingen, denn Europa scheint auf den ersten Blick eher von seinen Unterschieden geprägt zu sein als von einem gemeinsamen Erfolgsweg. Was soll homogen sein an einer Staatengemeinschaft, in der nur jeder zwanzigste Lette seinen Gesundheitszustand als sehr gut empfindet, aber fast jeder zweite Grieche? Und in der der bulgarische Durchschnittslohn von etwa 500 Euro im Monat weniger als einem Siebtel des deutschen entspricht? Doch diese Diversitäten sind historisch gewachsen. Sie haben mit der Abschottung hinter dem Eisernen Vorhang zu tun, mit unterschiedlichen wirtschaftlichen und politischen Systemen, Mentalitäten und mit Korruption.

 

Die EU-Mitgliedschaft per se dagegen erhöht den Wohlstand in jedem Land. Durch den gemeinsamen Markt fiel die deutsche Wirtschaftsleistung seit 1992 um ein Drittel höher aus, errechneten Forscher des Prognos-Instituts. Andere Länder erleben nicht immer so starke, aber doch positive Effekte. Großbritannien dürfte teuer dafür bezahlen, dass es die Gemeinschaft verlässt.

 

8600 Euro  pro Kopf und Jahr beträgt die Wirtschaftsleistung Severozapadens in Bulgarien, der ärmsten Region der EU (Stand 2017). Am höchsten lag sie in West-London mit 178 200 Euro, gefolgt von Luxemburg mit 75 900. Die stärkste Gegend Deutschlands ist Hamburg (58 300 Euro), die schwächste Mecklenburg-Vorpommern (24 400 Euro). 

 

Und die Kluft zwischen den Mitgliedsländern? Am besten lässt sich das einschätzen, wenn man die Ärmsten betrachtet, die Länder Ost- und Mitteleuropas, die ab 2004 zum Staatenklub stießen. Zunächst fällt der Abstand auf. 2017 erreichte Tschechien nur 90 Prozent der durchschnittlichen EU-Wirtschaftsleistung, Deutschland 120. In Wahrheit steckt darin ein enormer Aufholprozess. Das zeigt der Blick auf Länder, die nicht in der Union sind (aber es oft gerne wären): Kosovo erreicht 26 Prozent des EU-Schnitts, die Ukraine 2o.

 

Die wirtschaftliche Annäherung zwischen den Mitgliedsstaaten ist kein Zufall, sondern Programm. Schon in den Römischen Verträgen von 1957 findet sich der Passus: "Die Mitgliedstaaten sind sich über die Notwendigkeit einig, auf eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitskräfte hinzuwirken und dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen." Einige Zeit später begann die EU, wirtschaftsschwächere Regionen gezielt zu fördern. Für die aktuelle Finanzperiode von 2014 bis 2020 wurden dafür satte 350 Milliarden Euro bereitgestellt. Wobei Polen knapp 80 Milliarden bekommt und das reiche Deutschland, wo es ja auch schwächere Regionen gibt, immerhin noch 20 Milliarden. In den Neu-Mitgliedsstaaten im Osten wurden so seit Beitritt 24 000 Kilometer Straßen gebaut oder instandgesetzt. Elf Millionen Menschen erhielten eine bessere Wasserversorgung, 400 000 einen Job.

 

Noch weit wichtiger als diese Regionalförderung ist der gemeinsame Markt. Sowohl für die wirtschaftliche Annäherung zwischen den EU-Staaten wie für den allgemeinen Wohlstandseffekt. Auf keinem anderen Kontinent der Welt gibt es einen Staatenklub, in dem Unternehmen so leicht exportieren können, Rechtssicherheit haben und vor Protektionismus geschützt sind. Wenn eine deutsche Firma statt nach Frankreich nach Venezuela oder China expandiert, merkt sie den Unterschied schmerzlich. Dieser gemeinsame Markt beflügelt die Wirtschaft und schafft mehr Einkommen für alle.

 

In den meisten Ländern nahm die Ungleichheit zu

 

Damit ist allerdings noch nichts darüber gesagt, wie diese Einkommen in einem Land verteilt werden. Während der Wohlstand in allen EU-Ländern steigt, nahm gleichzeitig zuletzt in den meisten die Ungleichheit zu. Weil Globalisierung und neue Technologien Firmen und Reiche überproportional profitieren lassen und häufig die Mittelschicht erodieren. Und weil dies nur korrigiert wird, wenn die nationale Politik entgegenwirkt - die anders als die EU die Kompetenz dafür besitzt. Brüssel kann weder Mindestlöhne vorschreiben noch Firmenerben höher besteuern, um mit den Einnahmen Normalverdiener von Steuern zu entlasten. Eine solche Umverteilung müsste von nationalen Regierungen ausgehen, die die Hoheit in der Steuer- und Sozialpolitik haben.

 

Doch so etwas entsprach nicht dem wirtschaftspolitischen Mainstream der vergangenen Jahrzehnte. Deutschland ist dafür nur ein Beispiel. Der Spitzensteuersatz für Topverdiener, in der Ära Helmut Kohl zeitweise bei 56 Prozent, wurde auf 42 Prozent reduziert. Die breite Bevölkerung dagegen hat höhere Abgaben als früher. Gleichzeitig zahlen weniger Firmen Tariflöhne. Ähnliche Entwicklungen gibt es anderswo in Europa. Verändern können sie nur nationale Regierungen, nicht die EU. Die schafft zwar mehr Wohlstand und nähert die Länder einander an, hat aber nicht die Macht, in die Einkommensverteilung in einem Land einzugreifen.