Judentum

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Marc Chagall,

Noah und der Regenbogen

 

 

 

Dass das Wort Fleisch wird, ist ein christlicher Gedanke.

Doch dem Judentum ist er nicht ganz fremd.

 

Die göttliche Spur im Antlitz des Anderen: Der jüdische Gott ist nicht Mensch geworden, aber auch er wohnt unter den Menschen.

 

Jan-Heiner Tück in der NZZ von 22.12.2020

 

An Weihnachten feiern Christen, dass Gottes Wort in einem wehrlosen Kind Mensch geworden ist. Dieser Glaube hat im Prolog des Johannesevangeliums seinen wohl dichtesten Ausdruck gefunden: «Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.» Die Rede von der Präexistenz des Logos mündet wenig später ein in die berühmte Spitzenaussage: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.»

 

Der Prolog kann als Kommentar zum Schöpfungsbericht im Buch Genesis gelesen werden. «Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.» Nach Johannes ist es das schöpferische Wort, das alles, was ist, ins Sein ruft. Seine Pointe ist, dass dieses Wort nicht bei Gott bleibt, sondern sich den Menschen auf menschliche Weise mitteilt. Es wird Fleisch. Im christ-lich-jüdischen Dialog gelten Präexistenz und Inkarnation als unüberbrückbare Differenzen.

 

Martin Buber hat die These von der «prinzipiellen Inkarnationslosigkeit» des Judentums vertreten. Der jüdische Philo-soph Emmanuel Levinas hat von der göttlichen Spur im Antlitz des Anderen gesprochen. Die Vorstellung einer Ernie-drigung Gottes kann er bis zu einer gewissen Grenze nachvollziehen, die Inkarnation Gottes in einem Menschen lehnt er ab. Die Transzendenz des Unendlichen könne durch kein Bild überbrückt werden. Das jüdische Bilderverbot schliesse den Gedanken an eine lebendige Ikone Gottes aus.

 

Auch Jean-François Lyotard, der Verfasser der Programmschrift «La condition postmoderne», hat den Bindestrich zwischen Judentum und Christentum radikal infrage gestellt. Zwischen der im Buchstaben der Tora verwahrten Stimme Gottes, die es je neu zu entziffern gelte, und der fleischgewordenen Stimme Gottes in Jesus Christus klaffe ein Abgrund. Der «trait d’union», der Bindestrich des Jüdisch-Christlichen, müsse in Wahrheit als «trait de désunion», als Trennungs-strich, betrachtet werden.

 

Wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch

 

In der Tat hat die paulinische Dialektik zwischen Gesetz und Evangelium, zwischen dem Buchstaben, der tötet, und dem Geist, der lebendig macht, immer wieder zu christlichen Überbietungsansprüchen und Enterbungsstrategien geführt. Die Kirche hat sich früh und lange als «neues Israel» an die Stelle des alten Bundesvolks gesetzt. Auch ist die Entfaltung der Inkarnationstheologie in der alten Kirche weithin in abstrakten Kategorien erfolgt. Jesus Christus ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch, eine Person in zwei Naturen, die unvermischt und ungetrennt koexistieren, das lehrt das Konzil von Chalkedon.

 

Wäre in Gottes Wort nicht wirklich Gott nahe gekommen, hätten wir keinen Zugang zu ihm. Wäre der inkarnierte Logos nicht wirklich ganz Mensch geworden, hätte er uns nicht erlöst, argumentiert Athanasius in «De incarnatione». Im Zen-trum seiner Theologie steht das Motiv der Vergöttlichung: Gottes Wort kam als Mensch zu den Menschen, damit die Menschen zu Gott kommen. Die Annahme der menschlichen Natur durch den göttlichen Logos ist hier das Entscheiden-de.

 

Diese Abstraktionsleistung hat den Vorzug, die Universalität der Erlösung sicherstellen zu können. Sie hat den Nachteil, dass das galiläische Kolorit des Wirkens Jesu und auch der israeltheologische Wurzelgrund der Christologie verblassen. Jesus war Sohn einer jüdischen Mutter, er ist gemäss der Tora am achten Tag beschnitten worden, er hat die Psalmen Israels gebetet, seine Botschaft vom angebrochenen Reich Gottes knüpft an die Propheten an.

 

Zwei Götter im Himmel

 

Durch die Rezitation der Evangelien ist das im kollektiven Gedächtnis der Kirche nie ganz vergessen worden. Dennoch gab es immer wieder Versuche, Jesus von seinem jüdischen Mutterboden abzulösen. Zuletzt wurden zur Zeit des «Dritten Reiches» Konstruktionen eines «arischen Jesus» entwickelt, welche den Christusglauben der Kirche «entjuden» wollten. Gegen diese Versuche hat Karl Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik 1953 klar Position bezogen: «Das Wort wurde – nicht ‹Fleisch›, Mensch, erniedrigter und leidender Mensch in irgendeiner Allgemeinheit, sondern jüdisches Fleisch.»

 

Dieses Diktum von Barth ist Anstoss, auch einmal nach den jüdischen Voraussetzungen der christlichen Inkarnations-theologie zu fragen. Und die These, die ich hier vortragen möchte, lautet, dass es zwischen jüdischen Theologien der Einwohnung und christlichem Inkarnationsglauben beachtliche Verbindungen gibt. Vorstellungen von Präexistenz und Inkarnation sind dem Judentum des Zweiten Tempels nicht so fremd, wie man lange gemeint hat. Der Judaist Peter Schäfer hat pointiert von «zwei Göttern im Himmel» gesprochen. Das klingt so, als sei der Monotheismus Israels aufgegeben und durch einen Ditheismus ersetzt worden. Aber dem ist nicht so, vielmehr geht es um quasigöttliche Mittlergestalten, die zeigen, dass der eine Gott Israels keineswegs als strikt beziehungslos gefasst wurde. Die Sprüche Salomos im Alten Testament etwa lassen die Weisheit verkünden, dass sie beim Schöpfungswerk anwesend war und «allezeit» als «geliebtes Kind» vor dem Antlitz Gottes spielte (Spr 8,22–30). Zugleich ist es die Freude der Weisheit, bei den Menschen zu wohnen (Sir 24,8).

 

Im Zelt am Sinai

 

Dieser Drang «zur Immanenz in der irdischen Welt der Menschen» wird noch deutlicher, wenn es heisst: «Er sprach: In Jakob sollst du wohnen, in Israel sollst du deinen Erbbesitz haben» (Sir 24,8). Schäfer kommentiert: «Die inkarnierte Weisheit wird von Gott auf die Erde zu den Menschen geschickt, um bei ihnen zu wohnen.» Bei Philo von Alexandrien, dem massgeblichen Vertreter des hellenistischen Judentums, rückt der Logos sehr nahe an Gott heran, wenn er als «Erstgeborener» und «zweiter Gott» bezeichnet wird, der die menschlichen Seelen nicht nur schafft, sondern auch ihre Verbindung zu Gott herstellt.

 

Die Nähe zum Johannes-Prolog ist hier mit Händen zu greifen. Der vierte Evangelist geht allerdings einen entscheidenden Schritt über Philo hinaus, wenn er nicht nur von Einwohnung, sondern von «Fleischwerdung» des göttlichen Logos spricht. Unklar ist, ob hier bereits gegen die gnostische Vorstellung polemisiert wird, Gottes Wort habe nur einen Scheinleib besessen und nicht wirklich gelitten. Die Rede von der Inkarnation wird durch das Motiv der Einwohnung ergänzt: «und hat unter uns gewohnt» (Joh 1,14). Die Vulgata übersetzt: «et habitavit in nobis».

 

Die Rede von der Inhabitation ist im Resonanzraum des Alten Testaments zu lesen. Denn das Wohnen des Wortes unter uns, wörtlich sein Zeltaufschlagen, spielt an auf das Offenbarungszelt am Sinai, in dem sich die Herrlichkeit Gottes niederlässt. Die rabbinische Theologie hat die Vorstellung vom Wohnen Gottes durch die Lehre von der Schekhina nach der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. weitergeführt.

 

Gott in der Geschichte

 

Auch in der tempellosen Zeit des Exils wurde Gott als der Mitgehende und Mitleidende ausgesagt. Sowohl der christliche Glaube an die Menschwerdung als auch die jüdische Lehre von der Schekhina sprengen die Kategorien der philo-sophischen Gotteslehre. Sie bringen Gott in Verbindung mit der Geschichte der Menschen. Bei Platon ist das Göttliche die apersonale Idee des Guten, bei Aristoteles begegnet der Gedanke des unbewegten Bewegers, der alles bewegt, sich selbst aber nicht bewegen lassen kann, da dies seiner Vollkommenheit abträglich wäre.

 

Der ontologische Abgrund zwischen dem göttlichen Einen und dem Vielen der Welt bleibt unüberbrückbar. In den heiligen Schriften Israels hingegen ist von einem Gott die Rede, der in der Geschichte handelt und sich vom Geschick Israels betreffen lässt, weil er dies will. Ein Gott, der nicht mitgehen und mitleiden könnte, wäre ein Gott, der seine Bundeszusage nicht einhalten und letztlich nicht lieben könnte.

 

Die Vorstellung der Schekhina geht von einer geschichtlichen Nähe Gottes bei seinem erwählten Volk aus: im brennenden Dornbusch, in der Wolken- und in der Feuersäule beim Durchzug durch die Wüste, auf dem Berg Sinai, im Bundeszelt, im Tempel, aber auch in der bedrängten und leidenden Gemeinde. Gott bleibt nicht in sich und für sich, er lässt sich herab und neigt sich seinem Volk zu, das er in Liebe erwählt und in dessen Mitte er wohnen will. Durch dieses besondere «Eigentumsvolk» («am segulah») will Gott sich letztlich allen Menschen zuwenden.

 

Die Kulisse des Dramas

 

Der in Jesaja 7,14 erwähnte Name «Immanu-El» – Gott mit uns – wurde von rabbinischen Theologen auf die Einwohnung Gottes hin umgeschrieben: «Immanu-Schekhina». Die Schekhina aber wird sogar in anthropomorphen Wendungen beschrieben. Als irdische Gegenwartsweise des himmlischen Gottes können ihr ein menschliches Antlitz, aber auch körperliche Attribute wie «Füsse» oder «Schwingen» attestiert werden – Attribute, welche sich trotz dem Bilderverbot schon im Alten Testament finden.

 

Die Lehre von der Schekhina, die noch in der jüdischen Post-Holocaust-Theologie und in der Lyrik Paul Celans Spuren hinterlassen hat, darf nicht christlich vereinnahmt werden. Aber sie ist mit dem christlichen Inkarnationsglauben insofern verwandt, als sie Gott über das Motiv der Einwohnung mit der Geschichte verbindet. Der Religionsphilosoph Michael Wyschogrod notiert: «Die christliche Lehre der Inkarnation Gottes in Jesus ist die Steigerung der Lehre von der Einwohnung Gottes in Israel insofern, als sie von der Einwohnung in einem einzigen Juden spricht, statt diese Ein-wohnung auf das Volk Jesu als Ganzes zu verteilen.»

 

In der Tat heisst es im Brief an die Kolosser, dass «Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen wollte». Diese Konzen-tration auf die Person Jesu lehnt Wyschogrod als orthodoxer Jude ab. Aber im Sinne einer jüdischen Inkarnations-deutung, für die ihm, wie er einräumt, erst im Gespräch mit christlichen Theologen die Augen geöffnet wurden, hat er die denkwürdigen Sätze formuliert: «Wenn wir bereit sind, die Einpflanzung Jesu in sein Volk ernst zu nehmen, wenn das Israel, das ihn hervorbrachte und dessen (spirituelle, geografische, sprachliche, intellektuelle usw.) Grenzen er nie verliess, mehr ist als bloss die Kulisse des Dramas, der Hintergrund, von dem man Jesus eher abheben müsste, als ihn darin zu integrieren, wenn das alles sich änderte, dann muss das, was für Jesus wahr ist, im Wesentlichen auch für das jüdische Volk wahr sein. Und das schliesst die Inkarnation ein.»

 

An Weihnachten feiern Christen, dass der unbegreifliche Gott sich selbst begreiflich gemacht und im menschgeworde-nen Wort sein Angesicht gezeigt hat. Dieser Glaube schliesst an jüdische Theologien der Einwohnung an, auch wenn er am Ende klar darüber hinausgeht. Bubers Wort von der «prinzipiellen Inkarnationslosigkeit» des Judentums erfährt so eine Relativierung. Die Nähe zwischen jüdischer Theologie der Einwohnung und christlicher Inkarnations-christologie rechtfertigt es auch, gegen Lyotard am Bindestrich zwischen Jüdischem und Christlichem festzuhalten – und diese Rückbindung gegen alle Versuche zu verteidigen, die den christlichen Glauben vom jüdischen Wurzelgrund abkoppeln wollen. Ein entwurzeltes Christentum hätte am Ende keine Zukunft.

 

 

Jan-Heiner Tück ist Professor am Institut für systematische Theologie der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien und Herausgeber der Zeitschrift «Communio». Im Herbst ist im Herder-Verlag sein Buch «Gelobt seist du, Niemand. Paul Celans Dichtung – eine theologische Provokation» erschienen.