Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht,
aber ich würde mein Leben dafür einsetzen,
daß Sie sie äußern dürfen.
Voltaire
Die politisch korrekte Tabuisierung von Worten
Der neue Trend, ganze Wörter zu tabuisieren und zu zensieren, indem man Anderen strengstens verbietet, sie auszusprechen und sogar selbst vermeidet, sie auch nur
zitierend auszusprechen, kommt zwar im Namen eines vermeintlichen Fortschrittes durch einen unerbittlichen Kampf gegen Diskriminierung daher. Aber nicht alles, was als ein vermeintlicher
Fortschritt daher kommt, ist dann auch wirklich einer.
Es scheint mir erstens, dass dieser Trend psychologisch regressiv ist, weil er dem abergläubischen und magi-schen Denken von kleinen Kindern entspicht, die sich fürchten, dass sie (von Gott) bestraft werden, wenn sie auch nur an etwas Böses denken, ohne es zu tun, oder einem Anderen etwas Schlechtes wünschen, ohne etwas dazu beizutragen. Erwachsene und aufgeklärte Leute sollten nicht nur wissen, dass jemand keinen Schaden nimmt, wenn ich denke, dass er sich wie ein rücksichtsloser Idiot verhalten hat. Im Gegenteil es kann sogar sehr nützlich sein, es nicht nur zu denken, sondern es ihm gegebenfalls auch zu sagen.
Es scheint mir zweitens, dass dieser Trend zweitens ethisch-moralisch verkehrt ist, weil Worte immer unschuldig sind und niemals ganz allgemein und pauschal verboten, tabuisiert oder zensiert werden sollten. Denn die Bedeutung von Worten hängt immer auch vom jeweiligen situativen Kontext und vom jeweiligen Gebrauch ab. Jemandem verbieten zu wollen, ein Wort zu verwenden oder auch nur zu zitieren, ist autoritär, übergriffig und gehört sich ganz einfach nicht. Das gilt nicht nur für so relativ harmlose ältere Worte wie "Mohrenkopf" oder "Zigeunerschnitzel", die aus der Mode gekommen sind, sondern auch für alte Worte wie "Mohr" oder "Neger",
die zumindest in Europa fast nicht mehr gebräuchlich sind und die nur noch in Büchern vorkommen, die älter
als ein halbes Jahrhundert sind.
Während "Mohr" oder "Neger" nicht immer herabsetzend verwendet wurden, gilt dies sicher nicht für das Wort "Nigger". Aber alte Bücher deswegen umzuschreiben, ist nicht nötig, sondern anmaßend und dumm. Wer
auch nur ein bisschen gebildet ist und historisches Bewußtsein hat, wird das wissen, und kann das Wort dort stehen lassen. Denn jemand, der nicht weiß, dass
andere Leute vor ihm anders gesprochen und geschrieben haben, nimmt sich selbst viel zu wichtig und macht sich zum Maßstab früherer Generationen. Außerdem könnte es sich um ein Kinderbuch wie
"Jim Knopf" handeln, in dem die Heldenfigur gerade eine Einladung des Kinderbuchautors an seine kleinen Leser darstellt, einen etwas dunkelhäutigen Jungen liebenswürdig und toll zu finden. Ich
selbst habe als Kind Jim Knopf geliebt und später Martin Luther King.
Als der Bundespräsident Heinemann auf einer Auslandsreise nach Afrika die Zuhörer bei seiner Ansprache mit "liebe Neger" angesprochen hatte, war das von ihm weder böse oder herablassend, sondern nur ein bisschen linkisch und unbeholfen. Für uns klingt das heute ein wenig peinlich und ungeschickt, aber auch manches,
was wir heute sagen, könnte schon in 50 Jahren belächelt werden. Unser moralischer Eifer im Umgang mit dem, was Andere sagen oder früher gesagt oder geschrieben haben, wird vermutlich zu den Dingen gehören, die dann auch als ziemlich peinlich empfunden werden.
Als ich 1983 von Bloomington in Indiana aus Freunde in Chicago besuchte, lud mich ein Freud dieser Freunde auf eine Spritztour mit dem Motorrad in den Süden von Chicago ein. Wir fuhren zum Ghetto rund um die University of Chicago, wo mehrheitlich Farbige wohnten. Dort angekommen, stiegen wir vom Motorrad ab. Er legte seinen Arm um mich auf meine Schultern und sagte mir ganz vertraulich: "You may say "Nigger" to me." Ich musste ein wenig schlucken, denn wir befanden uns nicht nur mitten im Ghetto, sondern er hatte auch eine etwas dunklere Haut und war das, was man einen 'Farbigen' nannte. Schnell hattte ich begriffen, dass das unter den Jungs aus dem Ghetto der größtmögliche Vetrauensbeweis gewesen war: "You may say "Nigger" to me." in diesen Kontext und aus seinem Munde hatte er mir ein Kompliment gemacht und wohl das größte Vertrauen geschenkt, das für ihn denkbar war.
So viel zur allgemeinen Tabuisierung von Worten wie "Neger" oder "Nigger". Es kommt eben auf die Situation und die Intentionen an. Selbstverständlich verwenden die Rassisten von Klu-Klux-Clan ein und dasselbe Wort "Nigger" vorwiegend in einem herablassenden Ton und meistens nur als Schimpfwort. Aber nicht nur deren Schimpfwort, sondern auch das Wort "Schwarzer" scheint mir Bestandteil einer rassistischen Ideologie zu sein, auch wenn es zur Selbstbezeichnung mit Stolz und im Guten verwendet wird, denn schließlich gibt es auch keine "Weißen".
Die Hautfarben oder Pigmentierungen der Menschen sind abgestuft und kommen imer nur graduell in vielen Schattierungen der Hautfarben daher. Aber Ideologen schauen nicht hin. Ihre "Pforten der Wahrnehmung" sind verschlossen. Es gibt eben auch positiven Rassismus (positive racism), wie das die Farbigen selbst nennen. Die Farbigen hassen es zum Beispiel, wenn "Weiße" einen "Quotenigger" oder "Alibibimbo" in die erste Reihe stellen, und ihn instrumentalisieren, um ihre eigene Toleranz selbstgerecht unter Beweis und zur Schau zu stellen. So viel Zurschaustellung der "richtigen Gesinnung" finden sie eher verdächtig.
Aber es scheint mir, dass dieser Trend drittens politisch freiheitsfeindlich und totalitär ist, weil er zuerst darauf hinausläuft, den Leuten
vorzuschreiben zu wollen, was sie denken sollen, und dann auch noch zu verbieten, so zu sprechen, wie sie es wollen. Wenn das für normal und richtig gehalten wird, dann werden manche schließlich
auch entsprechende Gesetze verlangen, die bei Verstoß zu Strafen führen würden. Das wäre dann der Weg in die Unfreiheit eines totalitären Gesinnungs- und Erziehungsstaates, wie die DDR einer
war.
Wie sollte also besser auf der Hut sein, und bei diesem puritanischen Furor nicht mitmachen. Wir sollte ihn vielemehr verspotten und ihn möglichst mit Humor und
durch Spott bekämpfen.
Das Schweigen der Dekane
Die Opfer ideologischer Ausgrenzungen in der Wissenschaft werden oft von den Führungsebenen ihrer eigenen Hochschulen im Stich gelassen. Ein fiktiver, aber aus vielfachen Erfahrungen zusammengesetzter Fall.
MATTHIAS SCHRAPPE am 28. August 2023 im CICERO ONLINE
Fälle von Cancel Culture sind mittlerweile Legion, betrieben nicht nur von „progressiver“ Seite, sondern vermehrt auch von rechts (z.B. in Florida, USA). Gerade in der Wissenschaft werden die gemobbten und gecancelten Mitarbeiter oft alleingelassen, es fehlt die effektive Rückendeckung durch die universitären Führungsebenen. Diese Defizite in der Fürsorgepflicht der Arbeitgeber und Dienstherren in der Wissenschaft müssen dringend auf die Tagesordnung gesetzt werden.
Die Cancel-Culture-Fälle in der Wissenschaft dürfen als bekannt und gut dokumentiert gelten. Zunehmend verdrängen ideologische Voreinstellungen den offenen Diskurs, die Ich-Perspektive ersetzt die distanzierte Beobachtung, und Wissenschaftler, die nicht kooperieren, werden angegangen. Ein spezieller Aspekt dieser Ereignisse besteht in der Passivität und fehlenden Positionierung der universitären Führungsebenen. Die betroffenen Mitarbeiter aller Ränge, allzuoft in unsicheren Vertragsverhältnissen, müssen Mobbing und persönliche Bedrohung ohne Unterstützung von Arbeitgebern bzw. Dienstherren meistern, was meist in Resignation und Kündigung (oder dem Auslaufen der Verträge) mündet. Die folgende Collage aus Berichten über Cancel Culture in der Wissenschaft ist fiktiv und anonym, stellt aber den typischen Verlauf dar.
Man kann die Geschichte an einem normalen Vormittag beginnen lassen. Sie hätte aufmerken sollen, als der Dekan anrief und fragte, ob es ihr gut gehe. Das Gespräch verlief völlig gegenstandslos, kaum verspürte sie eine kleine Irritation, aber das dichte Tagwerk übernahm schnell ihre Aufmerksamkeit. Dies änderte sich erst bei der abendlichen Sitzung der Berufungskommission, der sie angehörte. Die Kollegen schauten sie an, aber nicht in die Augen. Sie vertrat ihre Position wie immer mit klarer Sprache und Deutlichkeit, man hörte sie an, aber es schien ihr, man würde nicht verstehen, was sie sagte.
Aber sie war noch unwissend. Dies änderte sich schlagartig, als sie unter der Hand einen Brief zugespielt bekam, von einer nachgeordneten Mitarbeiterin des Präsidiums, die sie persönlich kannte, und die natürlich um absolute Ver-schwiegenheit bat. Und dann waren da plötzlich Twitter-Meldungen. Sie war in den sozialen Medien nicht übermäßig aktiv, aber man machte ihr Kostproben zugänglich, mit einem unhörbaren „Siehst du?“. Klar wurde: Es ging um ein Wortgefecht in einem Seminar, vor zwei Wochen. Sie hatte vielleicht etwas zu direkt reagiert, als ein Student Fragen zum Geschlecht ihrer Versuchstiere stellte. Auch hier, in der Diskussion um das biologische Geschlecht, vertrat sie ihre Position mit Nachdruck. Wie viele Geschlechter er denn vorschlage, und so weiter. Der Student verließ den Raum. Das Seminar nahm seinen gewohnten Lauf.
Die Selbst-Frage, ob man alles „korrekt“ bezeichne
Natürlich war ihr der Zusammenhang im Grundsatz bewusst gewesen, wenngleich sie es in der konkreten Gesprächs-situation nicht erkannt hatte. Erst kürzlich war eine ihr gut bekannte Biologin an einer großen Universität an ihrem Vortrag gehindert und anschließend brutal gemobbt worden, weil sie sich auf eine binäres Geschlechtsmodell bezog. Die involvierte Universitätsleitung war weitgehend teilnahmslos geblieben, so wie man hörte, trotz Hausrecht hatte sich niemand in der Lage gesehen, der eingeladenen Wissenschaftlerin ihren Vortrag zu ermöglichen. In der Presse war das Thema Cancel Culture in den letzten Jahren immer breiter diskutiert worden, mehr und mehr war von „Radierer im Kopf“ und „Hexenjagd“ die Rede.
Natürlich hatte sie auch bemerkt, dass das Canceln nicht mehr nur von progressiver Seite, sondern auch von rechts in Mode kam, ein sehr konservativer Gouverneur eines amerikanischen Bundesstaates hatte Bücher aus dem Regal ent-fernen lassen. Auch hatte sie sich beim Verfassen von Artikeln und Anträgen schon öfter bei dem Gedanken ertappt, ob sie alles „korrekt“ bezeichne. Gegenüber den Gendersternchen hatte sie sich aufgeschlossen gezeigt, allerdings nur im offiziellen und halboffiziellen Zusammenhang, im Grunde fand sie die Anstrengungen grenzwertig. Aufkommende Assoziationen zu Orwell’schem Neusprech und Wahrheitsministerien konnte sie immer sofort einfangen, denn so schlimm war es doch noch nicht.
Dies sollte sich nun ändern, die Situation wurde fast täglich unerträglicher. Im besagten Brief wurde ihr „Transfeindlich-keit“ vorgeworfen und gefordert, die Universität solle ihren Arbeitsvertrag kündigen. Sie nahm Kontakt zum Dekanat und Präsidium auf; bei ihr hatte sich nach besagtem Telefonat niemand mehr gemeldet. Sie hatte natürlich gehofft, dass sie hier faktische und ebenso emotionale Unterstützung erfahren würde, aber zu ihrer Überraschung verhielt man sich indifferent und vertröstete sie. Prüfungen des Sachverhaltes seien im Gange, man würde auf sie zukommen. Wann? Das sei noch nicht absehbar. Ein Gespräch kam nicht zustande. Der „Vorgang“, so nannten sie es, sei sehr schwierig.
Pflichtschuldiges Bedauern von den Kollegen
Währenddessen ging in den sozialen Medien die Post ab, sie wurde beschimpft als Nazi, sie wurde bedroht, es gab keine Grenze. Auch ihre Kollegen und dann auch persönliche Kontakte änderten ihr Verhalten ihr gegenüber, man äußerte Bedauern, aber es klang eher pflichtschuldig. Dass sie wohl weniger eingeladen wurde, dass überhaupt alles etwas steifer zuging, das bemerkte sie erst in der Rückschau. Was aber unmittelbar deutlich wurde, das war eine schleichende Isolation im beruflichen Kontext. Ein Kollege bat sie, ihn von einer gemeinsamen Publikation zu streichen, deren Erst-autorin sie war, aber, so fügte er hinzu, sie solle das bitte nicht persönlich nehmen, es sei nur wegen seiner Karriere,
und sie solle es um Gotteswillen niemandem erzählen. Ein anderer Kollege einer anderen Universität erhob sogar Drohungen gegen ihre Person, sie gefährde die ganze Disziplin, ja seine eigene Person, „die Medien“ würden sich um
sie kümmern müssen (das verstand sie erst gar nicht).
Das Schlimmste war jedoch, dass Leute sie im Stich ließen, die sie gut kannten, also diejenigen, denen sie sich neben
der beruflichen Ebene auch freundschaftlich verbunden gefühlt hatte, mit denen sie private und politische Gedanken geteilt hatte. Es waren Leute, die wissen mussten, dass ihr Transfeindlichkeit und überhaupt reaktionäres Gedankengut völlig fremd waren, dass sie eher als aufgeklärte Linksliberale zu verorten war. Es kam wohl das eine oder andere ermutigende Wort, aber keine echte Anteilnahme, kein In-den-Arm-Nehmen, das echt gewesen wäre. Und keine öffentlich erkennbare Solidarität, keine Leserbriefe zu den in der Presse immer häufiger anzutreffenden Artikeln, die
im typischen „Sowohl als auch“-Duktus immer etwas Zweideutigkeit und Teilschuld auf ihr abluden.
Wenn der Vertrag nicht verlängert wird
Fakt war, ihre berufliche Position war alles andere als gesichert, ihr Vertrag als Juniorprofessorin endete zum Jahresende. Über eine Verlängerung hatte sie sich nie Sorgen gemacht, zu lang die Publikationsliste, zu gut die Drittmittleinwerbung. Aber in der jetzigen Situation brauchte es nicht einmal eine Kündigung, ihr Dienstherr konnte es einfach laufen lassen.
Und so geschah es. Das Präsidium bot ein Schlichtungsgespräch an, im Gleichstellungsreferat der Studentenvertretung. Ihre Anwältin riet ihr dringend davon ab, ein neutraler Ort sei vorzuziehen, aber sie meinte, was soll mir denn passieren. Was sie dann tatsächlich erlebte, sprengte alle ihre Vorstellungen, es war ein Albtraum, ein Psychodrama, nur mit einer intellektuellen Elimination zu vergleichen. Sie kam kaum zu Wort. Die Türen zu dem Raum, in dem das „Gespräch“ stattfand, waren nicht geschlossen, so dass immer wieder Personen reinkamen und hinausgingen. Ab und zu schaute sie den Dekan und die Vertreter des Präsidiums an, aber sie sah nur ausdruckslose Augen, es kam kein einziges Wort zu ihrer Unterstützung. Ihre Anwältin drängte sehr bald zum Aufbruch; draußen im Taxi brach sie hemmungslos in Tränen aus.
Enttäuschte Hoffnung auf die Universitätsleitung
Damit aber nicht genug, in der Folge wurden Studierende aufgefordert, sich zu melden, wenn sie sich in ihrer Gegen-wart „nicht sicher fühlen“. Diese Vorgehensweise stammte aus den USA und hat gleiche Wurzeln wie die Trigger-Warnungen bei klassischer Literatur oder Filmen, es waren sogenannte Safe Spaces eingerichtet worden. Wenn sie gehofft hatte, wenigstens hier würde die Universitätsleitung eingreifen und sich vor ihre Mitarbeiterin stellen, dann hatte sie sich geirrt. Doch die Versuche, sie als Person zu treffen, waren noch gar nicht am Ziel: Offensichtlich ange-stachelt durch die gegen sie agierenden Aktivisten, kamen Plagiatsjäger, in Zusammenarbeit mit sogenannten Fakten-finder-Agenturen, in der Presse zu Wort. Sie behaupteten, in ihrer Masterarbeit, die ihr vor zehn Jahren bestbenotet
den Sprung in die wissenschaftliche Laufbahn ermöglicht hatte, Anzeichen für „unsauberes Zitieren“ und die „Über-nahme fremder Textanteile“ festgestellt zu haben.
Weiterhin wiesen sie angebliche Rechenfehler nach, die – obgleich nicht ergebnisrelevant – ihre „unsaubere“ wissen-schaftliche Arbeit belegen sollten. Und der externe Kollege, der sie Tage vorher bedroht hatte, sollte recht behalten: Ihre persönliche Wikipedia-Seite wurde über Nacht verändert, es tauchten auch hier Plagiatsvorwürfe und Schlimmeres auf. Da sie sich technisch nicht auskannte, bat sie Bekannte, dies rückgängig zu machen. Gleichwohl, das war nicht möglich: Was heute richtiggestellt wurde, setzte man nur Stunden später wieder in den alten Zustand zurück, die Änderungen konnten nicht zum Verschwinden gebracht werden, es waren Autoren mit hohem Durchgriffsniveau am Werk.
Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Vorwürfen nachzugehen und sich gegen die Angriffe zu wehren. Wenn nicht ihre Anwältin gewesen wäre, die sie ermutigte, sich dem Tsunami entgegenzustellen. Aber der Kampf war schier au-sweglos. In den Medien fand sie kaum Unterstützung, in einer wichtigen Tageszeitung erschien sogar eine Kleinserie
mit der steten Wiederholung der Vorwürfe. Das Ende des Dienstvertrages rückte immer näher. Ein DFG-Folgeantrag,
der ihre wissenschaftliche Perspektive weitertrieb und der unter normalen Umständen keine großen Probleme hätte machen sollen, wurde abgelehnt. Publikationen kamen plötzlich mit Reviews zurück, die klar erkennen ließen, dass die sonst übliche Anonymität geöffnet worden war, und die eine derart umfassende und gegensätzliche Kritik an ihren Ergebnissen vorbrachten, dass eine Überarbeitung der Texte nicht mehr möglich war.
Tödlich für die Produktivität der Wissenschaft
Sie haben recht, liebe Leserin, lieber Leser, dies ist keine kühle Analyse, sondern eine Anklage. Eine Analyse würde argumentieren, dass die beschriebene Entwicklung tödlich ist für die Produktivität der Wissenschaft, ebenso tödlich
wie für die gesellschaftlichen Innovationsprozesse, die auf eine optimal aufgestellte Wissenschaft angewiesen sind.
Aber die „leeren Augen“ des akademischen Führungspersonals gegenüber gemobbten Mitarbeitern sind ein Skandal. Die „neutrale“, hinhaltende Haltung auf Dekans-, Präsidiums- und ministerialer Ebene, bar jeder Unterstützung in juristischer oder gar empathischer Hinsicht, ist nicht länger hinzunehmen. Eine 15er-Fallserie aus Schweden, in dem
bei genaueren Hinsehen keinem der Betroffenen ein echter Vorwurf gemacht werden konnte, zeigte, dass in keinem dieser Fälle eine aktive Unterstützung der universitären Führungsebene gegeben war (so der Politologe Sten Widmalm in der Welt). Neuerdings wird sogar über aktive Interventionen der Führungsebene zur Durchsetzung von Cancel-Maßnahmen berichtet (z.B. Universität Erlangen). Zahlen für Deutschland müssten noch erhoben werden, aber die bekannt gewordenen Fälle zeigen bereits überdeutlich: Vorgesetzte, akademisches Führungspersonal (Dekane, Präsidenten) und vor allem die Ministerien sind aufgerufen, sich auf ihre Fürsorgepflicht gegenüber den Mitarbeitern
zu besinnen.
Wenn es nicht allgemeine Gesichtspunkte wie Diskursfreiheit als zentrale Vorbedingung wissenschaftlicher Erkenntnis sind (es tut weh, dies zu schreiben), dann sollten doch Grundkenntnisse der Mitarbeiterführung als Begründung ausreichen, um in Zeiten, in denen Human-Ressource-Management–Kenntnisse als selbstverständlich gelten dürften,
zu einer grundlegenden Kehrtwendung zu kommen. Arbeitsrechtlich mag die Fürsorgepflicht im akademischen Zusammenhang noch Neuland sein, und natürlich sind auch Studenten Mitglieder der Universität, sie sind jedoch
nicht dort angestellt (dieses Kriterium gälte es zu berücksichtigen), aber dann muss dieses Feld eben mit Hochdruck bearbeitet werden.
Ein positives Beispiel aus den USA
Es ist evident, aber keinerlei Entschuldigung, dass Cancel Culture auch außerhalb der Wissenschaft virulent ist. Sei es
in der Literatur (Gedichte werden überstrichen, Verlage kündigen Autorenverträge), sei es in der bildenden Kunst (Kunstwerke werden abgehängt), sei es in der Politik (das Ergebnis: Sprache als Vermeidungsübung), sei es im Journalismus. Die Diskussion innerhalb des Kollegiums der New York Times über die Abschaffung der Neutralität der Berichterstattung, unter dem Begriff „Two-Sidedness“ verhetzt, selbst wenn es um Beiträge zu Gefahren einer Therapie mit Pubertätsblockern bei Schulkindern geht – diese Diskussion hat das Blatt fast an den Abgrund geführt.
Allerdings haben sich Anfang dieses Jahres die beiden führenden Redakteure Joseph Kahn und Kathleen Kingsbury dieser Tendenz entgegengestellt und entschlossen einer kritisch-neutralen Berichterstattung den Rücken gestärkt. Ein positives Beispiel, an dem sich die deutsche Universitätslandschaft orientieren sollte.
Die Kehrtwendung muss allerdings auf der direkt involvierten Ebene stattfinden, allgemeine Willensbekundungen wie nach dem Vollbrecht-Fall (Bundesbildungsministerin Stark-Watzinger, Bernhard Kempen, Deutscher Hochschulverband) sind nicht ausreichend, denn sie stehen nicht unmittelbar in Verantwortung. Denn darum geht es: persönliche Ver-antwortung für die Mitarbeiter, persönliche Verantwortung für die Wissenschaft.
AUTORENINFO
Professor Dr. med. Matthias Schrappe ist Internist und war Vorstandvorsitzender der Universitäts-Klinik Marburg, Dekan und wiss. Geschäftsführer der Univ. Witten/Herdecke, Generalbevollmächtigter der Frankfurter Universitäts-Klinik, Dir. Institut Patientensicherheit Universität Bonn (in den Jahren 2002 bis 2011).
Cancel Culture an Universitäten - Das Schweigen der Dekane | Cicero Online
Storno statt Streitkultur
Gastbeitrag von Michael Sommer am 4. Mai 2021
Die Universität Osnabrück hatte den Althistoriker Egon Flaig zu einem Vortrag über Machtkonzepte eingeladen. Dem AStA gefiel das nicht. Er sieht in Flaig eine Figur der Neuen Rechten. Doch statt sich mit dem Historiker öffentlich zu streiten, rief die Studentenvertretung zum Canceln auf.
Cancel Culture, so etwas gibt es doch gar nicht, sagen die, die sich linksliberal nennen, aber tatsächlich einfach nur links sind. Cancel Culture, das sei eine Erfindung mimosenhafter alter weißer Männer, die nicht begreifen wollen, dass die Zeit über sie hinweggegangen ist, dass sich die Diskussionskultur verändert hat und dass sie den Debatten bestenfalls noch vom Spielfeldrand aus zusehen, weil sie die neue Zeit, die da marschiert, nicht recht begreifen. Wer es böser mag, sagt: Cancel Culture ist ein rechtes Narrativ, dessen einziger Zweck die Verteidigung von Diskursmacht sei: gegen die Marginalisierten, die Jungen, die weniger Privilegierten.
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“, so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. Und so sei es ja auch, sagen die, die behaupten, es gebe keine Cancel Culture. Jeder könne seine Meinung frei sagen – nur eben nicht unwidersprochen. Das gelte auch in der Wissenschaft, die Artikel 5 in besonderem Maße schützt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“
Ein einschlägig ausgewiesener Experte
Also alles in bester Ordnung? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit den Formen des „Widerspruchs“ befassen, der da geäußert wird, und man muss sich die Mühe machen, die Arenen auseinanderzuhalten, in denen gestritten wird. Tut man das, dann zeigt sich, dass nicht die Cancel Culture ein rechtes, sondern ihre Leugnung ein links-identitätspolitisches Narrativ ist, das in der Wissenschaft vor allem dem Zweck dient, die wissenschaftliche Logik des Erklärens und Verstehens der politischen Logik des „Kampfes gegen Rechts“ zu unterwerfen.
Anschauungsmaterial dafür hat unlängst ein Fall am Historischen Seminar der Universität Osnabrück geliefert. Die Abteilung Alte Geschichte hatte im Rahmen ihrer Vortragsreihe zu „Macht, Gewalt und Geschlecht“ Egon Flaig, Professor im Ruhestand an der Universität Rostock, zu einem Vortrag über „Die Grenzen von Machtkonzepten: Warum sich mit Bourdieu keine politische Soziologie der Antike machen lässt“ eingeladen. Flaig ist nicht nur ein renommierter Alt-historiker, sondern auch einschlägig bestens ausgewiesen. Wie kein anderer hat er Denkfiguren der Annales-Schule, der französischen Soziologie und der historischen Anthropologie für die althistorische Forschung fruchtbar gemacht.
Ein streitbarer Wissenschaftler
Der Althistoriker Flaig hat aber immer wieder auch zu Fragen der Zeit Stellung bezogen, seine Äußerungen wurden auch jenseits des Elfenbeinturms wahrgenommen. Zwar sind und waren die Grenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik stets fließend, wie der Historikerstreit und andere in die Öffentlichkeit hineinstrahlende akademische Debatten gezeigt haben. Doch hat Flaig, wiewohl streitbar, dezidiert als Wissenschaftler zu aktuellen politischen Großthemen wie Rassismus, Kolonialismus, Sklaverei, Migration Stellung bezogen. Nicht jeder goutiert, dass er konsequent Episteme über Moral stellt.
Aus Sicht der Hüter dieser Moral ist so ein langes Sündenregister entstanden. Flaig hat mit Verve gegen Jürgen Haber-mas Stellung bezogen und ihn dafür kritisiert, dass er unlauter mit seinen Gegnern im Historikerstreit umgegangen ist, dass er insbesondere Ernst Nolte unsauber und aus dem Zusammenhang gerissen zitiert hat. Kritik an Habermas gilt als Sakrileg, weil die Singularität des Holocausts zu so etwas wie der Staatsräson der Berliner Republik geworden ist. Flaig ist stark vom hierzulande wenig verstandenen französischen Republikanismus beeinflusst. Er wendet sich gegen den Essenzialismus von Ethnopluralismus sowie linker Identitätspolitik und sieht durch sie die Errungenschaften der Auf-klärung und des Westens in Gefahr. Wer an Kontaktschuld glaubt, hat schnell vermeintlich belastendes Material gegen Flaig in der Hand: Er schreibt für den „Tumult“, gibt der „Jungen Freiheit“ Interviews und gutachtete gar für die AfD-Bundestagsfraktion. Flaig selbst hält Kontaktschuld für Humbug: Er spräche „privatissime selbst mit dem Teufel, wenn er ausreichend höflich bliebe“, zitiert ihn Mathias Brodkorb in der „FAZ“.
Kein Rauch ohne Feuer?
Natürlich eckt Flaig mit seinen Thesen an. Und so überrascht nicht, dass ihm längst das Attribut „umstritten“ angehängt wurde, das im Debattenraum der letzten Jahre zur vermeintlich vornehmen, tatsächlich aber perfiden Umschreibung von „rechts“ geworden ist: perfide deshalb, weil im Prinzip natürlich alles und jeder umstritten ist und man den Vorwurf deshalb nicht extra begründen muss. Wer umstritten ist, hat eigentlich schon nichts mehr zu verlieren. Hinter seiner intellektuellen und moralischen Satisfaktionsfähigkeit steht ein Fragezeichen. Kein Rauch ohne Feuer.
Für den AStA der Universität Osnabrück, der am 8. April 2021, eine „Stellungnahme zum geplanten Vortrag mit Egon Flaig“ abgab, ist der Althistoriker sogar „mehr als umstritten“. Die Studentenvertreter verlangten darin, die Universität dürfe Flaigs „rechten und revisionistischen Ansichten“ keine Bühne bieten. Selbst geben sich die furchtlosen Streiter gegen Rechts auf der Website des AStA mit wenigen Ausnahmen nur mit ihren Vornamen zu erkennen: als Jonas und Roman, Franco und Janine, Kristina und Victoria, Jesse, Anne, Rob und Andreas. Am 19. April legte die Fachschaft Geschichte in einer ebenfalls nicht namentlich gezeichneten Erklärung noch einmal nach: „Die Einladung von Egon Flaig sendet das Signal, dass diskriminierenden und verletzenden Äußerungen unreflektiert eine Bühne geboten wird.“
Menschenfeindliche Positionen?
Die Studenten basteln ihre „Analyse“ aus den stereotypen Versatzstücken der „Kampf gegen Rechts“-Rhetorik zusam-men: Bei Flaig ließen sich Positionen feststellen, „welche strenge wissenschaftliche Standards der Wissensproduktion unterlaufen, marginalisierte Personen an Universitäten gefährden oder schlicht menschenfeindlich sind“, heißt es etwas ungeschlacht in einem Statement, das der AStA am 17. April auf seiner Website veröffentlicht hat. Mit der Einladung sende man ein Signal aus, „dass diskriminierenden und verletzenden Äußerungen unreflektiert eine Bühne geboten wird“, moniert die Fachschaft. Geradezu ungeheuerlich ist die Behauptung des AStA, Flaig falle „durch eine indirekte Rechtfertigung des Mordes an Walter Lübcke“ besonders auf.
Mit quellenkritischer Beweisaufnahme halten sich die studentischen Staatsanwälte nicht lange auf. Lieber setzen sie sich gleich selbst den Richterhut auf und das Strafmaß fest: „Der AStA spricht sich daher deutlich gegen die Einladung von Egon Flaig aus.“ Flaig soll demnach durch die Abteilung Alte Geschichte ausgeladen werden. Den Satz „Vielleicht sollte also an Flaigs Stelle lieber frischer Wind in die Alte Geschichte gebracht werden, um endlich wirklich aus der Geschichte lernen zu können“, dürfte man in der Abteilung wohl auch als unterschwellige Drohung verstanden haben.
„Antifaschistischer Abwehrkampf“
Worum es ihnen über die Causa Flaig hinaus eigentlich geht, sagen die Studenten übrigens auch: „Wir betonen einen notwendigen, antifaschistischen Abwehrkampf gegen die Bemühungen einer politischen Rechten, den gesellschaft-lichen Diskurs nach Rechts zu verschieben, um somit menschenverachtenden Ideologien einen breiteren Boden zu bereiten.“ Der AStA wähnt sich tatsächlich als Speerspitze im „Abwehrkampf“ gegen eine rechte Verschwörung.
Ist das Cancel Culture? Ja natürlich, weil die Studenten denunziatorisch den Ruf eines Wissenschaftlers schädigen, um zu verhindern, dass er an ihrer Universität einen Vortrag hält, und weil sie sich anmaßen, in die Lehre der einladenden Hochschullehrerin hineinpfuschen zu dürfen. Ist hier gegen das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, wie es in Artikel 5, Absatz 3 verankert ist, verstoßen worden? Nein, denn die Freiheit von Forschung und Lehre ist ein Individualrecht des Einzelnen gegen den Staat, und der hat in Osnabrück, vertreten durch die Präsidentin der Universität, Professorin Su-sanne Menzel-Riedl, korrekt und konsequent gehandelt, sich hinter die Gastgeberin gestellt und den reibungslosen Ablauf des Vortrags ermöglicht.
Ein Dumme-Jungen-Streich?
Also alles nur ein Sturm im Wasserglas? Ein Dumme-Jungen-Streich von AStA-Funktionären, die sich warmlaufen für eine Karriere in der Berufspolitik? Leider nicht ganz, denn neun Angehörige des Historischen Seminars, darunter mit Chris-toph Rass auch ein Professor, haben sich mit dem Cancel-Versuch der Studenten solidarisiert. Sie bemängeln die Dis-kussionskultur in der Universität. Das ist ihr gutes Recht. Sie gehen aber einen Schritt weiter, loben die Statements von AStA und Fachschaft als „mutig und entschieden“ und erklären zum Versuch, die Einladung Flaigs zu verhindern: „Das Team der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung teilt diese Kritik.“
Damit verlassen die Dozenten selbst die wissenschaftliche Arena und begeben sich auf ein schlüpfriges politisches Par-kett. Sie hätten mit Egon Flaig streiten und versuchen können, seine Thesen zu widerlegen. Sie haben sich stattdessen mit Leuten gemeingemacht, für die Wissenschaft wenig mit Erkenntnis, dafür aber viel mit „Haltung“, Meinung und Gefühl zu tun hat. Sie hätten auf die Kraft des besseren Arguments setzen können. Diesem ausschließlich mit den Waffen der Wissenschaft geführten Agon haben sie sich verweigert. Wer zu canceln versucht, ahnt wohl, dass er in einem solchen Wettstreit den Kürzeren ziehen würde.
Cancel Culture an der Uni - Storno statt Streitkultur | Cicero Online
Die Kunst zensiert sich selbst
Bernd Stegemann am 5. April 2021 im CICERO ONLINE
In seinem neuen Debattenbuch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ wirft Dramaturg und Theaterwissen-schaftler Bernd Stegemann einen Blick auf
die Bedrohung der Öffentlichkeit. Dabei kritisiert er unter anderem eine übertriebene politische Korrektheit, die skurrile Auswüchse zeitigen kann. Ein Auszug.
Seit vielen Jahren begleitet der Dramaturg Bernd Stegemann die kulturpolitischen Debatten im Land. Auch „Cicero“ hat seine klugen und vielschichtigen Essays zur Identitätspolitik, zum Antisemitismus oder zum neuen Populismus immer wieder mit großem Erkenntnisgewinn publiziert. Jetzt hat Stegemann mit dem an Karl Popper angelehnten Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ (Verlag Klett-Cotta) eine Streitschrift vorgelegt, in der er hintersinnig gegen Political Correctness, Cancel Culture und Sprechverbote argumentiert und erläutert, was politisch korrektes Sprechen mit dem diktatorischen Denken von Recip Tayyip Erdoğan gemein hat. Im Folgenden publizieren wir einen Auszug aus dem Buch:
Political Correctness und Cancel Culture
Die Political Correctness ist ein Kind der neoliberalen Postmoderne. Sie vereinigt alle Kennzeichen dieser Denkweise und liefert den atomisierten Individuen eine neue Orientierung in Form von Moral. Die politische Korrektheit geht von einem naiven Sprachverständnis aus, wie man es auch in der Framing-Theorie findet. Ein Wort bezeichnet etwas und es transportiert dabei eine Wertung. Während der Migrationskrise 2015 sollten aufgrund solcher Überlegungen die Flüchtlinge nicht mehr so genannt werden, sondern Geflüchtete heißen. Zum einen meinte man, in der Endsilbe »linge« etwas negativ Verkleinerndes zu erkennen, wie etwa beim Däumling oder Weichling. Zum anderen wollte man die Migrationsgründe nicht auf die anerkannten Fluchtgründe eingrenzen, sondern auf die reine Tatsache der Fliehens erweitern. So sollten die anerkannten Fluchtgründe für alle Arten von Migration gelten. Und außerdem waren die Geflüchteten genderneutral. Der Flüchtling meint zwar kein bestimmtes Geschlecht, verwendet aber dafür das generische Maskulinum, dessen Abschaffung eines der Hauptziele der Political Correctness ist. An diesem Beispiel ist gut zu erkennen, wie sich eine politische Absicht, die z.B. offene Grenzen für alle fordert, mit dem naiven Sprachglauben verbindet, dass eine solche Absicht vor allem durch die Art, wie sie formuliert wird, Zustimmung erhält. Jenseits aller Argumente für und gegen Migration sollte die Bezeichnung für Flüchtlinge so verändert werden, dass sie bereits eine positive Wertung transportiert. Naiv ist ein solches Sprachverständnis, weil es davon ausgeht, dass Menschen ohne vorheriges Sprachverständnis die Worte hören.
Beim Umgang mit dem N-Wort, das zum Symbol für die politischen Sprachkorrekturen geworden ist, führt dieses Missverständnis zu immer neuen Kapriolen. Das N-Wort wird als Gradmesser eingesetzt, um die moralische Qualität der Sprache zu vermessen. Das Wort »Neger« hat eine eindeutig rassistische Konnotation. Es ist eine abwertende Bezeichnung für Menschen mit dunkler Hautfarbe. Insofern ist es unstrittig, dass es nicht mehr verwendet wird. Warum aber braucht es dann die sperrige Erfindung des »N-Wortes«? Es gibt sehr viele Schimpfworte, die im alltäglichen Gebrauch nicht verwendet werden und die keine Substitute benötigen. Das N-Wort wird jedoch fleißig verwendet und löst dabei zwei gegenläufige Reaktionen aus. Auf der einen Seite werden diejenigen, die nicht wissen, was damit gemeint ist, mit Unverständnis reagieren. Auf der andern Seite werden alle, die das Wort kennen, automatisch das »N« zum ganzen Wort »Neger« vervollständigen. Das N-Wort ist also entweder unverständlich oder ein anderer Ausdruck für »Neger«. Da die politische Korrektheit aber ein naives Sprachverständnis hat, ignoriert sie dieses und glaubt sich auf der moralisch guten Seite, da sie die vier Buchstaben »eger« hinter dem »N« vermieden hat. Dass die vier Buchstaben aufgrund des sprachlichen Vorwissens von jedem Hörer ergänzt werden, gehört nicht mehr zu ihrem Verantwortungsbereich. Sie handelt also im Mikrobereich einzelner Worte gesinnungsethisch. Sie hat das Wort nicht ganz ausgesprochen und ist darum gut. Was die Welt damit macht, steht nicht in ihrer Verantwortung.
Das naive Sprachverständnis hat jedoch noch eine andere Konsequenz, die ideologisch weitreichender ist. Kommunikation zeichnet sich dadurch aus, dass Worte nicht ohne ihren Kontext verstanden werden. Wer sein teures Auto einen Kleinwagen nennt, kokettiert und möchte wohl ein Kompliment. Das Sprechen in Anführungszeichen kann nicht nur einzelne Worte betreffen, sondern ist auch die Voraussetzung für viele Arten von Texten. Wenn ein Journalist ein Interview führt, dann sind die Aussagen des Interviewten eindeutig von den Fragen getrennt, und sie sind nicht mit den Aussagen des Interviewers identisch. Und wenn ein Schauspieler einen Rollentext spricht, so sind das nicht seine Worte, sondern die der Figur, die ein Autor geschrieben hat.
Das naive Sprachverständnis der politischen Korrektheit ignoriert diese Differenzen. Die Grenze zwischen Schauspieler und Figur, zwischen Journalisten und Interviewten und zwischen Autoren und ihren Kunstwerken wird nicht mehr anerkannt. Indem sie diese Unterscheidung leugnet, fällt die politische Korrektheit in ein Sprach- und Kunstverständnis vor die Neuzeit zurück. Vor allem die Künste und die öffentliche Kommunikation waren damals von dieser Gleichsetzung stark eingeschränkt. In Shakespeares Dramen durften keine Figuren auftreten, die in irgendeiner Beziehung zum Herrscherhaus standen. Und als in Schillers »Maria Stuart« am Ende ein katholischer Priester auftreten sollte, um der zum Tode verurteilten Maria Stuart das letzte Sakrament zu spenden, war der Protest groß. Ein Schauspieler, der einen Priester spielt, erschien ungeheuerlich. Diese Verwirrung erscheint aus heutiger Sicht fast rührend, doch damit würde man verkennen, dass es sich dabei nicht nur um eine Naivität handelt, sondern vor allem um ein Machtmittel. Das Königshaus sollte im Theater ebenso wenig wie ein Priester dargestellt werden, weil durch den Akt der Darstellung die Aura der Macht Schaden nehmen würde. Was auf einer Bühne erscheinen kann, ist auch im wirklichen Leben weniger bedrohlich. Diese Art der Entzauberung gehört zum Kern des Theaters, und seine Wirkung ist vom Volkstheater der Commedia dell’Arte bis zum Kabarett unserer Tage zu erleben. Wer öffentlich ausgelacht werden kann, steht nicht mehr über seinem Publikum.
Dass die Mächtigen diese Relativierung fürchten, zeigt die unheilvolle Tradition der Zensur. Eines ihrer wichtigsten Instrumente besteht darin, dass die Grenze zwischen dem Autor und seiner dargestellten Welt geleugnet wird. So begründet z.B. der türkische Präsident Recip Tayyip Erdoğan die Inhaftierung von Journalisten damit, dass sie in ihren Zeitungen Terroristen eine Bühne geboten haben sollen. Auf den Einwand, dass es sich doch um ein Interview gehandelt habe, dass also die Journalisten nicht ihre eigene Meinung wiedergegeben hätten, antwortet er mit der Brutalität, die sich im naiven Sprachverständnis der politischen Korrektheit begründet. Es lohnt sich, Erdoğans Begründung ausführlich zu zitieren, da in ihr der ideologische Kern der Sprachkontrolle offen ausgesprochen wird: »Meines Erachtens ist der Journalist, der einen Terroristen interviewt, einer, der den Terroristen unterstützt, weil er weiß, dass diese Person ein Terrorist ist. Wenn Sie die Gedanken eines Terroristen in Ihrer Publikation abdrucken, was ist das dann? Das ist die Veröffentlichung des Terrorismus selbst.
Die identitätspolitischen Korrektoren der Worte folgen der gleichen Argumentation, wenn sie behaupten, dass ein Schauspieler, der in seiner Rolle das N-Wort auf einer Bühne ausspricht, dadurch nicht geschützt ist, selbst zum Rassisten zu werden, bzw. dem Rassismus eine Bühne gegeben zu haben. Ihre Behauptung lautet darum vergleichbar der von Erdoğan, dass Schauspieler und Figur einen rassistischen Sprechakt vollziehen und darum von der Bühne verbannt werden müssen.
Dass es sich hierbei nicht nur um eine theoretische Diskussion handelt, hat der Fall von Zensur beim Berliner Theatertreffen gezeigt. Dort sollte 2017 eine Inszenierung des Romans »89/90«69 gezeigt werden. In der Wendegeschichte treten einige Neonazis auf, die gerne andere als »Neger« bezeichnen. Diese realitätsnahe Sprache sollte nun bei der Aufführung während des Theatertreffens unterlassen werden. Auf Anweisung der künstlerischen Leitung wurde die Regisseurin kurz vor Vorstellungbeginn damit konfrontiert, dass das N-Wort auf der Bühne des Berliner Theatertreffens nicht ausgesprochen werden dürfe. Die Regisseurin beugte sich der Autorität und machte durch einen klugen Regieeinfall diesen Zensur-Eingriff deutlich.
Immer wenn die Figur »Neger« gesagt hätte, ließ sie nun den Schauspieler den Beep-Ton machen, der aus dem US-amerikanischen Fernsehen bekannt ist und mit dem unliebsame Worte übertönt werden. So war jedem Zuschauer klar, dass hier ein Eingriff stattgefunden hat. Aus dem N-Wort war ein Beep geworden, der bei jedem Zuschauer die wiederum gleiche Assoziation wachgerufen hat, die das Wort »Neger« gehabt hätte. Die Zensur des Theatertreffens war damit bloßgestellt und in ihrer bedenklichen Botschaft vorgeführt: Die Figurenrede der Nazis darf auf ihrer Bühne nur in geläuterter Form auftreten, so dass die empfindlichen Ohren des Publikums von keinem Nazi-Jargon mehr beleidigt werden.
Solche Eingriffe in das öffentliche Sprechen und Handeln auf der Bühne sind in der Theatergeschichte oft vorgekommen. So hat der Aufklärer Christoph Martin Wieland bei seinen Shakespeare-Übersetzungen die anrüchigen Passagen im Akt der Selbstzensur weggelassen. Und dass Frauen als Schauspielerinnen auftreten dürfen, ist erst eine Errungenschaft der Aufklärung, die gegen kirchliche Verbote durchgesetzt werden musste. Das Irritierende an der Zensur des Berliner Theatertreffens ist, dass hier das Theater sich selbst zensiert, und dass diejenigen, die dieses durchsetzen, von sich selbst behaupten, sie würden damit dem Fortschritt in der Kunst und der Welt dienen.
Alle früheren Verbote gingen von einer Autorität aus, die eindeutig die Freiheit der Kunst einschränken wollte. Sei es durch die Kirche oder die
weltlichen Machthaber, die den Spott und das Gelächter fürchteten. Das Theater und die Kunst sahen sich in ihrer ganzen Geschichte mächtigen Autoritäten ausgesetzt. Dass die Eingriffe aufgrund
der Maßgaben der politischen Korrektheit in der Spätmoderne aus dem Zentrum der Kunst selbst erfolgen, ist in der Geschichte neu, passt aber zum neoliberalen Umbau der Gesellschaft. So wie jeder
zum Unternehmer seiner selbst werden soll, so soll sich die Freiheit der Künste nun auch selbst einschränken. Nicht mehr eine provozierte Obrigkeit fordert nun Verbote, sondern die lautesten Rufe
kommen aus dem Milieu der Kunstschaffenden selbst. Die Beispiele für Bilder, die aus Museen verband werden sollen, sind inzwischen zahlreich, und die meisten haben ihre Ursache nicht in einer
empörten Kirche oder einer ängstlichen weltlichen Macht, sondern sie kommen aus der Mitte der Künstler und ihrer professionellen Kritiker.
Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde. Verlag Klett Cotta 2021. 384 Seiten. 22 Euro.
Political correctness - Die Kunst zensiert sich selbst | Cicero Online