Krieg in der Ukraine: Der Traum vom ewigen Frieden ist geplatzt.
Aber das zeigt vielleicht nur, dass wir nicht verstanden haben, was Friede ist
Krieg entsteht aus dem Frieden. Und vielleicht entsteht er, weil wir falsche Vorstellungen davon haben, was Friede bedeutet. Immanuel Kant hat sich darüber Gedanken gemacht. Auf eine Weise, die noch heute Orien-tierung bietet.
Otfried Höffe, NZZ, 02.04.2022
Ob Immanuel Kant ein Rassist war, wurde in den vergangenen Jahren heftig erörtert. Keiner Debatte wert erscheint dagegen die Frage, ob der wirkungsmächtigste Denker der Aufklärung ein naiver Friedensutopist war – obwohl sie angesichts des Kriegs in der Ukraine brennend aktuell ist. Rassistisch gefärbte Passagen muss man in Kants Œuvre lange suchen. Über Krieg und Frieden hat der Philosoph aus Königsberg eine eigene, in rechts- und staatsphilo-sophischer Hinsicht bis heute unübertroffene Abhandlung geschrieben: «Zum ewigen Frieden».
Aber was soll das sein, «ewiger Friede»? Und was versteht Kant unter Frieden? In der 1795 erstmals erschienenen Schrift behandelt Kant die entscheidenden Fragen: Warum soll unter den Menschen kein Krieg, sondern Friede herrschen? Worin besteht wahrer Friede? Als notwendige Vorfrage: Was ist ein Staat? Darf ein Staat in die Angelegenheiten eines anderen Staates eingreifen? In welcher Gestalt lässt sich der wahre Friede verwirklichen? Und wie lässt er sich garantieren?
Was gegen den Krieg spricht
Kants erste Aktualität: Obwohl sich die Menschen in allen Zeiten und allen Kulturen einen vorbehaltlosen, «ewigen» Frieden wünschen, hat der Friede mit seinem Gegensatz zum Krieg nie den Rang eines philosophischen Grundbegriffs erreicht. Kant hebt diese thematische Vernachlässigung auf, indem er das philosophisch entscheidende Argument entwickelt.
Selbstverständlich spricht auch nach Meinung des Philosophen gegen den Krieg das, was wir seit Wochen in den Medien sehen, hören und lesen: das namenlose Leid von Hunderttausenden Menschen, nicht nur von Soldaten, sondern auch von Zivilisten, die Zerstörung von Wohnungen, Kliniken, der Infrastruktur und von Kunstschätzen
sowie die immensen finanziellen Kosten.
Diese pragmatischen Folgen, nämlich Konsequenzen für das persönliche und das kollektive Wohl, darf man nicht und will auch niemand kleinreden. Trotzdem treffen sie nicht das Hauptargument gegen den Krieg, das auf den ersten Blick überraschen, vielleicht sogar zynisch klingen mag.
Die Grenzen, die das Recht setzt
Man stelle sich vor, es gäbe Kriege ohne unermessliches Leid. Könnte dann ein Krieg rechtens sein? Kant antwortet mit einem klaren Nein. Denn bei Kriegen gibt allein der Sieg den Ausschlag und nicht das Recht. Da wird der Philosoph, der sonst eine sehr nüchterne Sprache pflegt, ausnahmsweise pathetisch. «Die Vernunft», heisst es in seiner Friedensschrift, verdammt «vom Throne der höchsten moralisch gesetzgebenden Gewalt herab den Krieg als Rechtsgang» und macht «den Friedenszustand zur unmittelbaren Pflicht».
Im Krieg wird also weit mehr verletzt als das menschliche Wohl. Man verstösst gegen das Höchste, was den Menschen auszeichnet, gegen die Verpflichtung auf die universal verbindlichen Gebote und Verbote. Man verstösst gegen den Teil der Moral, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, gegen die Rechtsmoral, auch Gerechtigkeit genannt.
Kants zweite Aktualität: Er verlangt kein Zusammenleben in eitler Liebe und Freundschaft. Er vertritt keine Utopie im buchstäblichen Sinn des Wortes, kein Nirgendland im Nirgendwo, in dem die Menschen, frei von Streit, Eifersucht und Ehrgeiz, in purer Harmonie leben. Im Gegenteil heisst er Konkurrenz willkommen, allerdings in den Grenzen des Rechts und in dessen Minimalbedingung, dem «Ende aller Hostilitäten», dem nicht bloss vorübergehenden, sondern dauer-haften Frieden.
Der Staat ist keine Habe
Denn wenn der Wettstreit in den Grenzen von Frieden und Recht stattfindet, befördert er für Kant das persönliche und gesellschaftliche, nicht zuletzt das globale Wohlergehen. Dabei darf man dieses Wohl nicht auf materielle Gesichts-punkte verkürzen. Jeder Krieg verunmöglicht die Blüte von Wissenschaft, Medizin und Technik, von Kunst und Kultur und des Sports. Ebenso erschwert er die persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen.
Im 17. und 18. Jahrhundert herrschten zwischen den Fürsten Kriege vor, in denen Gebiete hin- und hergeschoben wur-den. Kant lehnt dies mit dem Argument ab, dass ein Staat im Unterschied zum Territorium, «dem Boden, auf dem er seinen Sitz hat», kein Eigentum, keine «Habe» ist. Es handelt sich vielmehr um eine Institution, die sich durch Souverä-nität auszeichnet.
Der Staat ist für Kant «eine Gesellschaft von Menschen, über die niemand anders als er selbst zu gebieten und dis-ponieren hat». Deshalb darf ein russischer Staatspräsident den Präsidenten der Ukraine nicht zur Übergabe des Landes oder eines Teils davon auffordern. Und der ukrainische Präsident darf einer solchen Aufforderung nicht nachkommen. Sie müsste aus dem eigenen Staat kommen und von dessen Volk oder Volksvertretern, dem Parlament, entschieden werden. «Kein Staat», hält Kant fest, «soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig ein-mischen.»
Europas Ungerechtigkeit
Wenn Putin behauptet, in der Ukraine herrsche ein verbrecherischer Nationalismus, der die Rechte einzelner Bevöl-kerungsteile verletze, dann wäre gegen solche Rechtsverletzungen, wenn es sie denn überhaupt gäbe, die ukrainische Justiz zuständig. Erst falls sie versagt, wäre eine überstaatliche Gerichtsinstanz anzurufen, in Europa der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Und selbstverständlich gilt hier Wechselseitigkeit: Putin müsste die repressiven Massnahme gegen die Meinungs- und Pressefreiheit in seinem Land aufheben.
Zusätzlich zum Verbot, einen «für sich bestehenden Staat von einem andern Staate durch Erbung, Tausch, Kauf oder Schenkung» zu erwerben, verlangt Kant, stehende Heere auf Dauer abzuschaffen. Und er führt zusätzlich zum Staats-recht und zum Völkerrecht ein Weltbürgerrecht ein. Dieses betrifft einzelne Menschen und ihre wirtschaftlichen, wissen-schaftlichen, religiösen und kulturellen Vereinigungen, aber auch Staaten, sofern sie aufeinandertreffen und friedlich miteinander stehen sollen.
Kant schränkt dieses Recht auf «Bedingungen der allgemeinen Hospitalität» ein. Danach darf jeder Mensch überall anklopfen und sich etwa zum Güter- und Kulturaustausch anbieten. Die Gegenseite hat aber keine Pflicht, sich darauf einzulassen. Ein Gastrecht lehnt Kant ausdrücklich ab. Mit diesem Argument klagt er die «handeltreibenden Staaten» Europas einer «bis zum Erschrecken weit» reichenden «Ungerechtigkeit» an. Sie hätten China und Japan gezwungen, ihre Häfen für den Handel zu öffnen. Dem Imperialismus und Kolonialismus wirft Kant vor, die Rechte der Menschen in den betreffenden Ländern zu missachten: «Die Einwohner rechneten für nichts.»
Vor dem Untergang bewahren
Direkt wirksam ist das Weltbürgerrecht für Kant in seiner Zeit auch im Fall von gestrandeten Schiffsbesatzungen. Diese dürfen seiner Ansicht nach weder ausgeraubt noch versklavt oder getötet werden. Man darf sie aber, sobald das Schiff repariert ist, zum Verlassen auffordern, wenn es «ohne seinen Untergang geschehen kann».
Offensichtlich darf man nach diesem Kriterium Flüchtlinge, ob aus der Ukraine oder anderswoher, so lange nicht zurück-schicken, wie in ihrem Land die Waffen sprechen. In den wohlhabenden Staaten des Westens tun Einzelpersonen, Orga-nisationen und staatliche Organe weit mehr, als die Flüchtlinge vor dem Untergang zu bewahren. Faktisch geht das in Kants Weltbürgerrecht geforderte Minimum hier in eine relativ grosszügige Gastfreundschaft über.
Entsprechend seiner These, den Staat brauche selbst ein «Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben)», gründet Kant seine Friedenstheorie vor allem auf das aufgeklärte Eigeninteresse, den «wechselseitigen Eigennutz»: «Es ist der Handelsgeist, der mit dem Kriege nicht zusammen bestehen kann und der früher oder später sich jedes Volks be-mächtigt.»
Der Geist des Handels
Diesen Handelsgeist versteht man am besten nicht nur ökonomisch, auch wenn Kant recht haben dürfte, dass unter allen der Staatsmacht untergeordneten Mächten «die Geldmacht die zuverlässigste sein möchte». Schon weil die Gesundheit den Menschen so wichtig ist, weil sie ihre Arbeit erleichtern wollen und ungern auf vieles ihnen vertraut Gewordene verzichten, spielen Medizin und Technik, Wissenschaft, Kultur und Sport im Austausch zwischen Staaten
eine wichtige Rolle.
Auch dies freilich wäre für Kant klar: Damit sich diese Interessen durchsetzen, müssen autoritäre Staaten wie Russland ihrer Bevölkerung das erlauben, was wir Demokratie nennen – eine auf der Anerkennung von Grundrechten basierende Mitsprache, verbunden mit einer Teilung der öffentlichen Gewalten, die frei von Einschüchterung und Korruption agieren.
Otfried Höffe leitet an der Universität Tübingen das Forschungszentrum für politische Philosophie.
„Kaufen Panzer, weil wir nicht geholfen haben,
einen Krieg zu verhindern, der verhinderbar war“
Der Westen, so der frühere Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, trage eine Mitschuld am Krieg in der Ukraine. Mit dem russischen Präsidenten Putin müsse nun verhandelt werde - der Internationale Haftbefehle gegen ihn sei deshalb unklug.
DIE WELT, 17.06.2023
Der frühere Hamburger Bürgermeister und ehemalige Bundesminister Klaus von Dohnanyi hat den Kurs der Bundes-regierung und der SPD in der Ukraine-Krise scharf kritisiert. „Ich halte die gegenwärtigen Prioritäten der Bundes-regierung und des Westens für falsch“, sagte der Sozialdemokrat der Deutschen Presse-Agentur in einem Interview
zu seinem 95. Geburtstag am kommenden Freitag.
„Die Priorität müsste sein, uns vor den Folgen des Klimawandels zu schützen (...) Stattdessen kaufen wir Panzer für die Ukraine, weil wir nicht geholfen haben, einen Krieg zu verhindern, der verhinderbar war.“
Der Klimawandel sei die wahre Bedrohung, „nicht Putin“, sagte von Dohnanyi, der als Staats- und Bundesminister in
den späten 1960er und 70er Jahren unter den Kanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt gedient hat. Russlands Präsident Wladimir Putin habe nie die Absicht gehabt, Europa anzugreifen. „Er wollte nur die Ukraine nicht in der
Nato und diese nicht an seiner Grenze haben. Darüber wollte er verhandeln, aber der Westen war dazu nicht bereit.“ Deshalb trage der Westen eine Mitverantwortung.
„Ich würde Präsident Bush ja auch nicht zum Kriegsverbrecher erklären...“
Er sei auch dagegen, Putin als Kriegsverbrecher zu bezeichnen. „Ich würde Präsident Bush ja auch nicht zum Kriegs-verbrecher erklären und vor Gericht stellen, obwohl er ohne Zweifel einen noch folgenreicheren Krieg im Irak geführt hat, mit sehr viel mehr Toten und ohne jeden Grund, wie wir alle heute wissen“, sagte er. Auch der Haftbefehl gegen Putin sei „unbedacht und unklug“. „Soll denn Moskau zukünftig der einzige Ort sein, wo man mit Putin verhandeln kann?“
Für Bundeskanzler Olaf Scholz, der Putin vor Kurzem bei einem SPD-Fest in Brandenburg als „Kriegstreiber“ bezeichnet hatte, der „das Leben seiner Bürger für einen imperialistischen Traum“ riskiere und die Ukraine zerstören wolle, zeigte von Dohnanyi Verständnis. „Olaf Scholz ist eben in einer sehr schwierigen Lage, weil er im Ukraine-Krieg an die gesamt-westliche Politik denken muss.“
Der SPD, der er seit 1957 angehört, warf er vor, sich zu wenig für Frieden einzusetzen. Sie sei immer eine Friedenspartei gewesen. „Eine SPD ohne eine erklärte, hörbare und offensive Friedenspolitik, ist keine SPD mehr“, sagte von Dohnanyi, der seine Heimstadt Hamburg von 1981 bis 1988 als Erster Bürgermeister regierte.