Bürgergeld

 

Quelle: Pinterest www.pinterest.de/pin/176344141643951397/

 

 

"Die Differenz zwischen Gehalt und Bürgergeld ist zu klein, als dass alle dafür noch Arbeiten gehen wollen."

 

 


 

Bürgergeldirrsinn

 

Deutschland im Herbst 2023: Der Chefarzt eines Berliner Krankenhauses findet keine Pfleger mehr, die die Betten schieben. Bewerbungen? Fehlanzeige. Und die, die da sind, spielen mit dem Gedanken zu kündigen. Warum? „Bürgergeld lohnt sich mehr“, erhält er zur Antwort. Der Obermeister der Friseurinnung aus Heilbronn klagt: Er finde keinen Nachwuchs mehr. Der Mix aus steuerfreiem Minijob, Schwarzarbeit und Bürgergeld sei für viele attraktiver.

 

Die Reinigungsbranche hat 2500 Mitgliedsunternehmen in Deutschland. Bezahlt wird ordentlich - deutlich über Mindestlohn jedenfalls. Die Innung wollte wissen, ob Mitarbeiter wegen des Bürgergelds kündigen. Ergebnis: Knapp

30 Prozent der Unternehmen geben an, dass bei ihnen „bereits mehre­re Beschäf­tig­te mit konkre­tem Verweis auf das Bürger­geld gekün­digt oder eine Kündi­gung in Aussicht gestellt haben“. Weitere 40 Prozent haben solche Einzelfälle erlebt.

 

Klar wird: Die Differenz zwischen Gehalt und Bürgergeld ist zu klein, als dass alle dafür noch Arbeiten gehen wollen.

Dies gilt noch mehr, wenn die Bürgergeld-Leistungen wie von der Ampelregierung geplant zum 1. Januar 2024 erhöht werden. Das Kieler Insti­tut für Weltwirt­schaft (IfW) hat dazu kürzlich eine Studie veröffentlicht mit einer plakativen Rechnung: Im Vergleich zu einem Arbeitslosenhaushalt kommt die Familie, in der ein Elternteil arbeitet und mit Bürgergeld aufstockt zu Mehreinnahmen von 378 Euro. Mal angenommen, dass er oder sie dafür 38 Stunden arbeiten müssen, entspräche das einem rechne­ri­schen Netto­stun­den­lohn von 2,30 Euro. So viel bleibt pro Stunde mehr für den übrig, der Arbeiten geht, anstatt Bürgergeld zu beziehen.  
 
Was die Regierung dagegen tun will? SPD und Grüne diskutieren darüber, den Mindestlohn stärker als geplant anzu-heben. Er steigt zu Jahresbeginn auf 12,41 Euro. Jetzt sind 15 Euro im Gespräch. Ein höherer Lohn stellt den Abstand

zum Bürgergeld natürlich wieder her. Aber weder der Oberarzt noch der Frisör, noch der Reinigungsunternehmer

kann ihn bezahlen. Deutschland im Herbst 2023 hat seinen Weg noch immer nicht gefunden.
 
Ich wünsche Ihnen einen goldenen Herbstanfang  

 

Oliver Stock

 

Chefredakteur The European - 19.10.2023

 


 

Lohnt es sich, noch arbeiten zu gehen?

 

Lohnt es sich, für die Differenz zwischen dem Gehalt und Hartz IV, inzwischen Bürgergeld, noch arbeiten zu gehen?

 

Diese Frage ist seit Jahren heiß diskutiert und hochbrisant, in Zeiten des Personalmangels noch einmal mehr: Es gilt

die Balance zu wahren zwischen sozialer Gerechtigkeit und dem Ausnutzen von Leistungen zu Lasten der Allgemeinheit inklusive der Unternehmen. Diese Balance scheint mit der erneuten Erhöhung des Bürgergeldes um zwölf Prozent zum 1. Januar 2024 aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.

 

Das belegt exemplarisch eine jüngst veröffentlichte Umfrage in Reinigungsfirmen – eine Branche mit 700.000 Be-schäftigten. Knapp 30 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, dass bei ihnen „bereits mehrere Beschäftigte

mit konkretem Verweis auf das Bürgergeld gekündigt oder eine Kündigung in Aussicht gestellt haben“. Weitere 40 Prozent haben Einzelfälle erlebt, wo das bereits passiert ist.

 

Das neue Bürgergeld verschärft also bei sieben von zehn Unternehmen die Personalnot. Wer instinktiv mit der Erhöhung des Mindestlohns argumentiert, sollte wissen: Die Branchenmindestlöhne gelten in der Gebäudereinigung für praktisch alle Betriebe und liegen ab Januar bei 13,50 Euro, Fensterputzer bekommen mindestens 16,70 Euro.

Bringt also nichts. Aber es gibt diverse Mittel zur Stärkung von Arbeitsanreizen. Das Vorhaben steht auch im Koalitionsvertrag. Jetzt müsste sich nur noch jemand darum kümmern.

 

Thorsten Giersch, Chefredakteur Markt und Mittelstand - 19.10.2023