„Wir stecken schon mittendrin in der nächsten Flüchtlingskrise“
Die Zahl der Migranten, die nach Deutschland kommen, steigt und steigt. Im Interview erklärt Heiko Teggatz, Bundesvorsitzender der Bundespolizeigewerkschaft und stellvertretender Vorsitzender der deutschen Polizei-gewerkschaft, warum die nächste Flüchtlingskrise längst da ist – und formuliert deutliche Kritik an der Bundes-regierung: Innenministerin Nancy Faeser wirft er vor, das Problem auszublenden. Und ihrem Ministerium, der Bundespolizei beim Thema illegale Einwanderung einen „Maulkorb“ zu verpassen.
INTERVIEW MIT HEIKO TEGGATZ am 30. September 2022 in CICERO ONLINE
Wie viel Naivität darf sich ein Land leisten?
CICERO ONLINE - 2018 am 10. Mai 2018 von Wolfgang Bok
Erst die missglückte Abschiebung in Ellwangen, dann die Aufdeckung des Betrugs deutscher Sozialsysteme. In der Migrationspolitik stellt sich Deutschland dümmer an, als es ist.
Gelegenheit macht Diebe, weiß der Volksmund. Nur die politisch Verantwortlichen wissen es offenbar nicht. Aktuelles Beispiel: Organisierte Banden aus Südosteuropa betrügen die deutsche Kindergeldkasse um jährlich mindestens 100 Millionen Euro, indem sie mit gefälschten Dokumenten für „Phantomkinder“ Ansprüche vortäuschen lassen.
Bei einer Überprüfung in Wuppertal und Düsseldorf seien von 100 Kindergeldberechtigten aus Rumänien und Bulgarien, die jeweils für drei und mehr Kinder Leistungen bezogen, in 40 Fällen die Angaben falsch gewesen, berichtet Karsten Blank, der bundesweite Leiter der Familienkasse. „Allein bei dieser Stichprobe lag die Betrugssumme bei 400.000 Euro.“ Denn für vier Kinder gibt es monatlich 813 Euro. Doch sei der „organisierte Sozialleistungsmissbrauch nicht auf diese beiden Länder beschränkt. Wir erleben ihn auch aus der Türkei oder aus den Maghreb-Staaten“, berichtet Blank.
Offene Tür für den Betrug
Verwunderlich ist die Verwunderung darüber. Denn diese „neue Form der Kriminalität“ ist mit der Osterweiterung der EU aufgekommen und seither auch bekannt. Versuche, Leistungen an die Lebenshaltung der Herkunftsländer zu koppeln, wie sie jetzt auch die Regierung in Österreich ankündigt, sind bislang am Widerstand der Brüsseler Sozialkommissarin Marianne Thyssen gescheitert. Die belgische Christdemokratin wittert Diskriminierung, wenn Familienleistungen nach Nationalität gestaffelt werden – obwohl die EU bei den Gehältern ihrer Beamten genau so verfährt.
Brüssel ist es auch, das dem Missbrauch von Hartz-IV-Leistungen Tür und Tor öffnet: Weil die Arbeitnehmer-freizügigkeit für die EU-Kommission oberste Priorität hat, ist es für organisierte Banden ein Leichtes, Migranten – vornehmlich wieder aus Südosteuropa – in Deutschland zum Schein anzustellen, um ihnen alsbald zu kündigen. Als Arbeitslose oder (Schein-)Selbstständige haben sie dann dieselben Ansprüche wie jemand, der nach 35 Jahren Beitragszahlung auf die frühere Arbeitslosenhilfe angewiesen ist. Der Schaden geht auch hier in die Millionen.
Besonders attraktives Zielland
Im Netz kursieren Leitfäden, wie man mit Minijobs Zahlungen als „Aufstocker“ erhält, von denen es mittlerweile rund 400 000 gibt. Dabei haben Union und SPD bereits 2014 beschlossen, „Sozialmissbrauch durch Armuts-migration“ mit verschärfte Kontrollen zu unterbinden. Doch die laufen offenbar ins Leere. „Uns sind oft die Hände gebunden, weil der Datenabgleich nicht möglich ist oder wir gefälschte Dokumente akzeptieren müssen“, sagt ein dafür zuständiger Beamter, der anonym bleiben will. „Sonst gilt man ja schnell als Rassist.“
Gerade in den Job-Centern sorgt die Gewährung von Hartz IV für viel Frust. Von den 4,3 Millionen „erwerbsfähigen Leistungsberechtigen“ haben 2,1 Millionen einen Migrationshintergrund. Das sind 48 Prozent und entspricht einem Anstieg um 69 Prozent seit 2010. Was vor allem daran liegt, dass dieses System von „Fordern und Fördern“ für Flüchtlinge keine Abschreckung ist. Im Gegenteil: Die großzügigen Hilfen machen Deutschland als Zielland besonders attraktiv. Von den rund 1,5 Millionen Schutzsuchenden, die seit 2015 ins Land gekommen sind, bezogen Ende 2017 knapp 960.000 Hartz IV. Davon kamen 560 000 aus Syrien, die entgegen den Erwartungen nur schwer in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren sind. 320.000 Bezieher sind Kinder aus dem Nahen Osten.
Anziehungskraft der deutschen Sozialsysteme
Die immer wieder aufflammende Armutsdebatte führt also in die Irre: Wer massenhaft mittellose Hilfsbedürftige ins Land lässt, darf sich über die steigende Zahl armer Antragsteller nicht wundern. Magnetisch wirkt das deutsche Sozialsystem auf Flüchtlinge, weil sie langfristig Anspruch auf dieselben Leistungen wie Einheimische haben, die nach vielen Jahren als Steuer- und Beitragszahler in Not geraten sind. Selbst abgelehnte Asylbewerber bekommen Unterhalt und Wohnungsmiete gestellt. Das ist besonders für Familien attraktiv, weshalb ein groß-zügig gewährter Familiennachzug auch aus finanzieller Sicht problematisch ist.
Ein Paar mit zwei Kindern müsste brutto 2540 Euro im Monat verdienen, um über die Regelbedarfssätze von Hartz IV zu kommen. Also 16,71 Euro in der Stunde – und damit das Doppelte des Mindestlohnes. Mit drei Kindern sind es 3.300 Euro oder 21,70 Euro Stundenlohn bei einer 38-Stunden-Woche. Das schaffen die wenigsten, zumal kaum zehn Prozent der Schutzsuchenden überhaupt einen regulären Job gefunden haben. Das wiederum erklärt, warum sich abgelehnte Asylbewerber so hartnäckig gegen Abschiebungen wehren.
Die martialischen Ankündigungen, jetzt aber endlich energisch abzuschieben, bleiben ebenso folgenlos wie das Versprechen, „Sozialmissbrauch“ wirksam zu bekämpfen. Tatsächlich ins Ausland oder in ihre Heimat gebracht werden im ganzen Jahr kaum mehr als in einem Monat neu nach Deutschland kommen. Wir sind nach wie vor das Hauptzielland, das mit gut 50 Prozent auch Spitzenreiter bei den positiven Asylbescheiden ist. Auch 2017 hat Deutschland laut Europäischer Statistikbehörde allein mehr Schutzsuchende aufgenommen (524.184) als die restlichen 27 EU-Staaten zusammen (435.070). In Italien waren es gerade mal 78.000.
Braucht es die Ankerzentren?
Und obwohl 187.000 Flüchtlinge nach den Dublin-Regeln wieder in die sichern Nachbarstaaten hätten zurück-geschickt werden müssen, waren es bis Ende Dezember gerade mal 4873 „vollzogene Überstellungen“. Im gleichen Zeitraum haben unsere Nachbarn 8.754 Flüchtlinge nach Deutschland abgeschoben – also dem Land, das schon heute die Hauptlast trägt. Doch die SPD hat in den Koalitionsverhandlungen ausdrücklich verhindert, dass selbst Menschen, die offensichtlich Dublin-Fälle sind, an der Grenze in ihre sicheren Herkunftsländer zurück-geschickt werden können. „Dürfte die Bundespolizei jeden Ausländer ohne Einreiseberechtigung rechtskonform an unseren Binnengrenzen zurückweisen, bräuchten wir keine Ankerzentren“, klagt Ernst Walter, Chef der Bundespolizeigewerkschaft.
Mit anderen Worten: Die Bundesregierung, insbesondere das Kanzleramt, untersagt die Anwendung von Ver-fassungsartikel 16a, Absatz 2: Auf das politische Asylrecht kann sich „nicht berufen, wer aus einem Mitglieds-land der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem sicheren Drittland einreist“. Auch der Flüchtling aus dem west-afrikanischen Togo in Ellwangen, für dessen Festnahme mehrere Hundertschaften der Polizei nötig waren, hat daher gute Chancen, erneut den deutschen Asylprozess zu durchlaufen – wenn seine Verteidiger die Abschiebung nicht noch vor dem Bundesgericht verhindern. Die Kritik von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ist daher so falsch nicht. Dobrindt sieht in Deutschland eine „Anti-Abschiebe-Industrie“ am Werk. Immerhin werden die Verwaltungsgerichte derzeit mit 320.000 Ablehnungsklagen überschwemmt.
Zu Blindheit verdonnert
Über den Betrug mit Ausweisdokumenten wird ebenso großzügig hinweggesehen, wie über Falschaussagen bei den Alters- und Herkunftsangaben. Bis heute liegen dem Bundesamt für Migration bei mindestens der Hälfte der Flüchtlinge keine verlässlichen Daten vor. Mit den Stimmen von SPD, Grünen, Linken und FDP hat das Europäische Parlament jetzt sogar beschlossen, dass Alterstests bei jungen Migranten nicht gegen deren Willen erzwungen werden dürfen. „Wir werden zur Blindheit verdonnert“, klagt ein Asyl-Bearbeiter, der ebenfalls nicht namentlich genannt werden will.
Die Folge: 81 Prozent der Bundesbürger halten den Staat bei Abschiebungen für überfordert, haben die Mei-nungsforscher von Emnid ermittelt. Für Forsa-Chef Manfred Güllner ist die der Hauptgrund, dass „der AfD unter den Oppositionsparteien die höchste Kompetenz zugemessen wird , um mit den Problemen in Deutschland fertig zu werden.“ Denn viele Bürger spüren, dass „die Einwanderungswelle unser Asylrecht überfordert“, wie es der Staatsrechtler Rupert Scholz ausdrückt. Der ehemalige Verteidigungsminister fordert deutliche Einschränkungen der Rechtswege, um den Kontrollverlust und das Vertrauen der Bürger in den Staat zurückzugewinnen. Den vielen Worten müssten endlich Taten folgen. Daran hapert es bislang.
Wolfgang Bok war Chefredakteur und Ressortleiter in Stuttgart und Heilbronn sowie Direktor bei der Berliner Agentur Scholz & Friends. Der promovierte Politologe lehrt an der Hochschule Heilbronn Strategische Kommunikation. Regelmäßig schreibt er für verschiedene Medien Kolumnen zu gesellschaftspolitischen Themen und ist Buchautor.
Fünf Jahre nach «Wir schaffen das» – eine kritische Bilanz
Deutschland zahlt für Merkels Satz «Wir schaffen das» einen hohen Preis
Eric Gujer, Chefredakteur, NZZ - 28.08.2020
Es war ein Satz wie Donnerhall. «Wir schaffen das», verkündete Angela Merkel Ende August 2015, als die Flüchtlings-zahlen bedrohlich in die Höhe schnellten und in einen Flüchtlingstreck mündeten, der sich nur mit der Situation am Ende des Zweiten Weltkriegs vergleichen lässt. Was da in Ungarn, Österreich und an der bayrischen Grenze passierte, war eine Zäsur, welche die Zeitgeschichte bis heute in ein Davor und ein Danach teilt.
Vordergründig hat die Kanzlerin recht behalten. Alle Neuankömmlinge fanden eine Unterkunft, alle erhielten eine angemessene Betreuung, und niemand musste wie in anderen EU-Ländern unter menschenunwürdigen Bedingungen vegetieren. Die «Willkommenskultur» war ein bewundernswertes Beispiel deutscher Effizienz; nur wenige Nationen hätten Ähnliches zustande gebracht.
Und doch kommt Deutschland dieser Satz teuer zu stehen.
Der Preis bemisst sich zwar nur zum kleinsten Teil in Euro und Cent, aber schon rein materiell sind die Belastungen erheblich. Obwohl sich die Bundesregierung bemüht, die Kosten für die ungeregelte Migration nach Kräften herunter-zuspielen, legte sie für das Jahr 2018 einen Bericht dazu vor. Zieht man die 8 Milliarden für die Bekämpfung der Fluchtursachen ab, bleiben immer noch 15 Milliarden Euro für ein einziges Jahr. Und das sind bloss die Ausgaben des Bundes, hinzu kommen jene der Länder und Gemeinden.
Die Migration schlägt sich in der Kriminalstatistik nieder
Ein stolzer Preis, der in der Hochkonjunktur der letzten Jahre keine allzu grossen Bedenken weckte. In Zeiten der Rezession, in der die Verteilungskämpfe härter werden, dürfte sich das ändern.
Zumal in den Kosten Ausgaben enthalten sind, bei denen sich der unbefangene Steuerzahler verwundert die Augen reibt. So soll eine Sicherheitsfirma die Ordnung in den Berliner Flüchtlingsheimen gewährleisten. Der mehrjährige Auftrag wird laut einer Meldung der «Berliner Morgenpost» europaweit ausgeschrieben und ist mit 630 Millionen Euro dotiert. Man möchte sich das Ausmass der latenten oder offenen Gewalt nicht ausmalen, das so viel Security erforderlich macht.
Wenn so viele Menschen in so kurzer Zeit aus so unterschiedlichen Ländern in Deutschland aufeinandertreffen, ent-stehen unvermeidlich Konflikte – in den Heimen, aber auch ausserhalb. Nicht von ungefähr hat sich die Zuwanderung 2015 in der Kriminalstatistik niedergeschlagen.
Bei den Delikten Körperverletzung, Diebstahl und Betrug rangieren Flüchtlinge häufiger unter den Tatverdächtigen, als dies ihrem Anteil an der Bevölkerung entspricht. Dazu kommen spektakuläre Fälle sexueller Gewalt wie die massen-weisen Übergriffe am Kölner Hauptbahnhof oder die Vergewaltigungen in Freiburg. Sie liessen das Sicherheitsgefühl weiter erodieren, nachdem bereits das Chaos an den Grenzen vor fünf Jahren den Eindruck eines staatlichen Kontrollverlustes hervorgerufen hatte.
Statt der Fachkräfte kamen Hilfsarbeiter
Massenmigration erschwert die Integration. Deshalb haben sich auch zahlreiche der optimistischen Erwartungen aus jener Zeit nicht erfüllt. So begrüssten Vertreter der deutschen Wirtschaft 2015 den Zustrom und begründeten dies mit dringend benötigten Arbeitskräften. Zwar hat rund die Hälfte der Flüchtlinge unterdessen eine Beschäftigung gefunden, allerdings oft nicht dort, wo Deutschland, wie die meisten Staaten Europas, ein echtes Problem hat: bei den Fachleuten.
Wegen mangelnder Sprachkenntnisse und fehlender Ausbildung gehen 42 Prozent der Flüchtlinge, die überhaupt einen Job bekamen, einer Arbeit nach, die nur eine geringe Qualifikation erfordert. Sie werden in der Corona-Krise besonders häufig entlassen, denn Handlanger trifft die Arbeitslosigkeit zuerst. Im Umkehrschluss heisst dies auch, dass ein hoher Anteil der Neuankömmlinge aus jener Zeit langfristig auf Sozialleistungen angewiesen bleibt.
Eine geregelte Migration, bei der sich die Länder die Arbeitskräfte gezielter aussuchen können, weist eine geringere Anzahl an Sozialfällen auf. Unter ökonomischen Gesichtspunkten ist sie Merkels «Hauruck-Migration» eindeutig vorzu-ziehen. Daran ändern auch die Bäckergesellen und Maschinenbaustudenten nichts, die in den Medien als Beispiele einer gelungenen Integration besonders gerne porträtiert werden.
Doch die wirtschaftlichen Faktoren treten neben den politischen Auswirkungen in den Hintergrund. Mit Geld lässt sich vieles kaufen, aber nicht gesellschaftlicher Frieden. Dieser ist seit der Zäsur der «Willkommenskultur» beeinträchtigt.
Deutschland ist derzeit polarisiert, nicht so stark wie die USA, aber doch genug, dass eine Diskussion über Migration bis heute heftige Reaktionen auslöst und die Gesellschaft zuverlässig spaltet.
Frust in der Mitte, Gewalt an den Rändern
Die AfD reitet erfolgreich auf dieser Welle. Sie ist seither in alle Landesparlamente und in den Bundestag eingezogen und hat sich rechts von den Unionsparteien fest etabliert. Parolen, wie sie Björn Höcke und Andreas Kalbitz vertreten, hörte man früher in radikalen ausserparlamentarischen Nischen, allenfalls einmal in einem Landtag. Heute sind sie ein trauriges Ingrediens in einem Mainstream der Gehässigkeit und der Konfrontation.
Die Mitte reagierte auf den sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahlen mit einer gereizten Grundstimmung, die ex-tremen Ränder mit offener Gewalt. Frustrierte muslimische Flüchtlinge ohne Lebensperspektive radikalisierten sich. Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche mit 12 Toten und 55 Verletzten gehört zu der Bilanz des islamistischen Terrorismus, aber auch zahlreiche minder schwere Vorfälle.
Vor einigen Tagen machte in Berlin ein Autofahrer Jagd auf Motorradfahrer und verletzte dabei sechs Personen. An-schliessend stieg der abgewiesene irakische Asylbewerber seelenruhig aus seinem Wagen, entrollte einen Gebetsteppich und rief: «Allah ist gross.»
Der rechtsradikale Terrorismus nahm ebenfalls zu. Konnte man die Morde des «Nationalsozialistischen Untergrunds» noch als Werk einzelner verwirrter Aussenseiter abtun, ist das seit den Morden von Kassel, Magdeburg und Hanau nicht mehr so einfach. Wie auch beim Islamismus bilden die besonders spektakulären Fälle nur die Spitze des Eisbergs, dessen breite Basis aus Brandanschlägen auf Asylbewerberheime oder Attacken auf Einzelpersonen besteht.
Die Moralapostel blieben ohne Gefolgschaft
Im Herbst 2015 wurden die Grenzen der Belastbarkeit überschritten. Zu den Folgen gehört unter anderem politische Gewalt in einer rohen Wucht, wie sie seit dem Ende des RAF-Terrors, der bisher blutigsten Episode der Nachkriegs-geschichte, unbekannt war.
Selbst tolerante und offene Gesellschaften wie die deutsche haben eine limitierte Aufnahmebereitschaft. Wird diese überstrapaziert, führt dies unweigerlich zu Gegenreaktionen. Der zentrale Vorwurf, den man der Kanzlerin und ihrem Kabinett machen muss, lautet, dass sie diese Wirkungszusammenhänge ignorierten.
Berlin isolierte sich auch aussenpolitisch. Man lockerte die Schengen-Regeln, nahm 2015 je nach Zählung 900 000 bis 1,2 Millionen Menschen auf und glaubte, einen Rechtsanspruch auf Solidarität zu haben. Doch diese blieb aus. Kein einziges europäisches Land öffnete seine Grenzen, nur weil Deutschland es für unmöglich hielt, vorübergehend die Grenzen zu schliessen (was dann in der Corona-Pandemie problemlos möglich war).
Als wäre die Europäische Union ein juristisches Oberseminar, beharrte die Regierung auf fixen Aufnahmequoten. Dabei war von vorneherein klar, dass so viel Legalismus politisch scheitern würde. Polen etwa konnte darauf verweisen, dass es selbst zwei Millionen Ukrainern und Weissrussen Zuflucht gewährt hatte. Erst das von einem privaten Think-Tank inspirierte Abkommen mit der Türkei wies den starrköpfigen Berliner Rechtsgelehrten einen Ausweg aus der selbstverschuldeten Sackgasse.
Die Zahlen sind eindeutig. Deutschland nahm zwischen 2015 und 2018 in absoluten Zahlen ungleich mehr Flüchtlinge auf als jedes andere EU-Land, Griechenland und Italien eingeschlossen. Eindeutig ist auch die damit verbundene po-litische Botschaft. Deutschland stilisierte die Migration zu einer moralischen Frage. Der Rest Europas hingegen stellt die nationalen Interessen in den Vordergrund. Niemand hatte deshalb nur die geringste Lust, den Moralaposteln zu folgen.
Der Staat dankte vorübergehend ab
Unterdessen, das muss man der Fairness halber anfügen, hat Berlin seine Politik stillschweigend korrigiert. Die euro-päische Migrationspolitik gleicht allerdings seither einem Schlachtfeld im Stellungskrieg. Nichts geht mehr vorwärts, alle Seiten haben sich eingegraben.
Deutschland hat seit der grossen Zäsur in der Flüchtlingspolitik einiges geschafft, vieles aber misslang. Die Bilanz fällt besonders schlecht aus, wenn man sich von der Scheinalternative löst, es habe damals nur die Wahl zwischen totaler Offenheit und totaler Abschottung bestanden.
2014 und Anfang 2015 wäre es noch möglich gewesen, den Zustrom zu bremsen und Signale zu setzen, dass Deutsch-land nicht alle aufnehmen kann. Doch der Versuch, einen vernünftigen Mittelweg zu finden, wurde erst gar nicht unternommen. Die Regierung sah den Sturm heraufziehen – und tat nichts.
Hätte Berlin in den entscheidenden Monaten August bis November anders gehandelt, hätte der Staat nicht vorüber-gehend abgedankt. Denn das bleibt auf Dauer mit dem Satz «Wir schaffen das» verbunden: Die Bundesregierung war zeitweise nicht mehr Herrin der Lage. Sie war ausserstande, steuernd einzugreifen und einen Kompromiss zwischen humanitärer Grosszügigkeit und nationalem Interesse zu finden. Man muss das nicht Staatsversagen nennen, ein Versagen bleibt es allemal.
Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert
Die Auseinandersetzung um Migration und Integration ist angesichts des neuen Zuwanderungshochs wieder in vollem Gange. Mit „Der Selbstbetrug“ erscheint nun ein Cicero-Buch zum Thema. Lesen Sie hier das Vorwort von Cicero-Chefredakteur Alexander Marguier.
Alexander Marguier am 6. September 2023 in CICERO ONLINE
Am 8. Juni 2023 zeigte sich einmal mehr, was alles schiefläuft in der europäischen Migrationspolitik. Wieder war es
ein schreckliches Verbrechen, das die Bevölkerung in einen Schockzustand versetzte – und Politiker zu den üblichen Statements veranlasste, nun müsse aber endlich etwas geschehen.
An diesem Donnerstagmorgen war ein 32 Jahre alter Mann in der ostfranzösischen Stadt Annecy in einem Park mit einem Messer auf eine Gruppe Kinder losgegangen und hatte vier von ihnen so schwer verletzt, dass sie tagelang in Lebensgefahr schwebten. Die Opfer waren zwischen 22 Monaten und drei Jahren alt; auch ein Erwachsener trug schwere Stichwunden bei der Attacke davon. Der Täter: ein in Schweden als Flüchtling anerkannter Syrer, welcher zehn Jahre in seinem Zufluchtsland gelebt hatte, bevor er ein gutes halbes Jahr vor seiner Tat nach Frankreich gekommen war und dort ebenfalls einen Asylantrag gestellt hatte.
„Angriff absoluter Feigheit“
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sprach von einem „Angriff absoluter Feigheit“, weiter rechtsstehende Politiker wie Olivier Marleix von der Partei Les Républicains bezeichnete die allgemeine Situation als „außer Kontrolle“, weil die Franzosen nicht wüssten, „wer die Leute sind, die wir aufnehmen“. François Astorg, Bürgermeister von Annecy und Mitglied bei den französischen Grünen, zeigte sich ebenfalls empört über das Verbrechen, warnte jedoch gleichzeitig vor einer politischen Instrumentalisierung der Tat. Dennoch zogen noch am selben Abend etliche Leute durch die Straßen von Annecy und skandierten Sprüche wie „Ausländer raus!“ und „Frankreich den Franzosen!“.
Wie Präsident Macron war auch der französische Innenminister Gérald Darmanin unmittelbar nach der Tat gen Annecy geeilt, um sich vor Ort ein Lagebild zu machen. Die bittere Ironie daran: Darmanin musste deswegen seinen Aufenthalt in Luxemburg abbrechen, wo die Innenminister der EU am selben Tag zusammengekommen waren, um das Asylsystem der Europäischen Union zu reformieren.
Erbitterter Widerstand von Teilen der Grünen
Nach den großen Flüchtlingswellen der Jahre 2015 und 2016 ist der Migrationsdruck auf Europa nun wieder derart gestiegen, dass die Regierungen praktisch sämtlicher Mitgliedstaaten dringenden Handlungsbedarf sahen. Tatsächlich rang man sich noch am Abend desselben Tages zu jenem Luxemburger „Asylkompromiss“ durch, der nach dem längst gescheiterten Dublin-Verfahren demnächst wieder etwas Ordnung ins Migrationsgeschehen bringen soll.
Kernpunkte dieses Kompromisses sind beschleunigte Asylverfahren in geschlossenen Einrichtungen an den Außen-grenzen der EU, die Möglichkeit der Rückführung abgelehnter Asylbewerber bei mangelnder Schutzbedürftigkeit sowie eine „solidarische“ Umsiedlung von Flüchtlingen innerhalb der Europäischen Union für den Fall, dass ein einzelner EU-Staat von der Zahl der Migranten überlastet sein sollte. Ob das neue Regelwerk Wirkung entfalten wird, muss sich zeigen.
Noch ist es nicht einmal vom Europäischen Parlament abgesegnet worden, und kaum waren die Einzelheiten des Asylkompromisses an die Öffentlichkeit gelangt, kündigten Teile der deutschen Grünen erbitterten Widerstand gegen Reformpläne an, denen Bundesinnenministerin Nancy Faeser nach Auffassung der Grünen-Co-Vorsitzenden Ricarda Lang niemals hätte zustimmen dürfen. Pro Asyl sprach von einem „historischen Fehler“ und dem „Ausverkauf “ der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit.
Dabei haben Migrationsforscher ernsthafte Zweifel daran, ob sich aufgrund der Luxemburger Übereinkunft die Zahl der nach Europa kommenden Flüchtlinge überhaupt merklich verringern wird. Denn das beschleunigte Asylverfahren an der Außengrenze betrifft ohnehin nur Personen, die aus einem Land mit geringer Anerkennungsquote kommen – was nach derzeitiger Lage allenfalls auf einen Bruchteil aller Migranten zutrifft. Von „Abschottung“ oder gar einem „Frontalangriff auf das Asylrecht“, den etliche Kritiker an die Wand malen, kann keine Rede sein.
Sonderweg abseits rationalen Kalküls
„2015 darf sich nicht wiederholen“: Das war das politische Regierungsmantra, nachdem die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel verordnet hatte, die Grenzen zur Bundesrepublik auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise nicht zu schließen – mit den bekannten Folgen. Deutschland wurde wegen dieses Signals zu einem Magneten im weltweiten Migrationsgeschehen, zeitweilig herrschten chaotische Zustände, der gesellschaftliche Zusammenhalt nahm immensen Schaden. Merkels „Grenzöffnung“ ermöglichte nicht nur den Wiederaufstieg der damals schon wieder im Niedergang befindlichen AfD, sie sorgte auch für massives Befremden bei unseren europäischen Nachbarn: schon wieder ein deutscher Sonderweg abseits rationalen Kalküls inklusive absehbarer Kollateralschäden. Gründe genug also, solche Szenarien künftig zu vermeiden.
Doch auch die neue Bundesregierung schlafwandelte in die nächste Flüchtlingskrise hinein: Die Zahl der einreisenden Migranten hat in den zurückliegenden Monaten das Niveau von 2015 längst überschritten, und das liegt keineswegs nur an Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch aus Afrika und dem Nahen Osten machen sich wieder vermehrt Menschen auf den Weg nach Deutschland, nicht zuletzt aufgrund unserer vergleichsweise üppigen Sozialleistungen. Länder und Kommunen schlagen Alarm wegen einer absehbaren Überlastung der Erstaufnahmeeinrichtungen, aber die mediale Öffentlichkeit hat meist nur das Weltklima und Wärmepumpen im Blick. Das Fatale daran: Unsere Gesellschaft ist noch gereizter als vor sieben Jahren.
Im Brustton der Überzeugung
Cicero bezeichnet sich selbst als „Magazin für politische Kultur“. Und weil wir fest davon überzeugt sind, dass Debatte (mitunter vielleicht sogar Streit) ganz wesentliche Grundlage einer Demokratie ist, scheuen wir auch nicht vor Kontroversen zurück. Wir produzieren demokratischen Gegenwind – wie sich das für Journalisten gehört, deren vornehmste Aufgabe darin besteht, gesellschaftliche Trends im Allgemeinen oder Regierungshandeln im Speziellen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu kritisieren. Auch dieses Buch soll dazu beitragen.
Deutschlands Rolle in der Migrationskrise in den Jahren 2015 und 2016 war für mich persönlich eine prägende Erfah-rung. Angela Merkels Ansage von wegen „Wir schaffen das!“ blieb mehr oder weniger begründungslos im Raum stehen: Nachfragen, wer mit „wir“ gemeint, was unter „schaffen“ zu verstehen und ob „das“ nicht etwas unspezifisch sei, ver-boten sich praktisch von selbst. Das „von selbst“ meine ich im Wortsinn. Denn selbstverständlich gab es keine An-weisungen an die Medien aus dem Kanzleramt heraus, das Lied der sogenannten Willkommenskultur im Brustton der Überzeugung mitzusingen.
Mit einer gewissen Fassungslosigkeit musste ich damals feststellen, dass praktisch sämtliche Zeitungen, Magazine, Fernsehsender und Radiostationen ganz freiwillig und wie „von selbst“ notwendige Fragen hintanstellten – und somit ihre eigentliche Funktion als journalistisches Korrektiv, als vielbeschworene „vierte Gewalt“ in einer gesunden Demokratie in eklatanter Weise vernachlässigten. Gruppendenken hatte kritischen Geist verdrängt.
Das Versagen der Medien
Ich selbst habe damals viele Politiker erlebt – vom einfachen Abgeordneten bis hin zum amtierenden Ministerpräsi-denten –, die mir in vertrauensvoller Runde zuraunten, wie wichtig unsere publizistische Aufmüpfigkeit sei: Es würde sich ja sonst keiner trauen, auch mal Widerworte zu geben und auf offensichtliche Missstände hinzuweisen. Und das alles in einem Land, das sich zu Recht seiner Pressefreiheit rühmt.
Aber Freiheit hat eben immer zwei Seiten: Sie muss nicht nur „von oben“ gewährleistet sein, man muss sie „von unten“ aus auch zu gebrauchen wissen. Das entsprechende – und bis heute anhaltende – Versagen der Medien hat zu einem massiven Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in Politik und Medien geführt, der auf absehbare Zeit nicht mehr zurückgewonnen werden wird. Die politische Kultur in der Bundesrepublik ist mangels publizistischen Gegen-winds massiv beschädigt worden – mit dem ebenso bedauerlichen wie unvermeidlichen Ergebnis, dass jetzt die Popu-listen Konjunktur haben.
Und denen geht es eben gerade nicht um erfrischende Luftstöße für eine etwas selbstgefällig gewordene Demokratie. Sondern darum, einen politischen Sturm zu entfachen, der alles wegwehen könnte, was aufrechten Demokraten lieb sein sollte. Um das zu vermeiden, ist eine offene politische und mediale Debatte zur Migration entscheidend.
„Der Selbstbetrug - Wenn Migrationspolitik die Realität ignoriert“; Verlag Herder, 128 Seiten, 16 Euro.
Richard Schröder, Was wir Migranten schulden - und was nicht, FAZ 19.08.2016
http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/fluechtlingskrise-was-wir-migranten-schulden-und-was-nicht-14387586.html
Data science vs fake: Die größten Migrationsbewegungen weltweit verlaufen von Afrika nach Europa
https://www.arte.tv/de/videos/089156-004-A/data-science-vs-fake/