Über das metaphysische Defizit und Europas Suche nach einer Idee sprachen die SN mit Udo Di Fabio, langjähriger Richter am deutschen Bundesverfassungsgericht.
Sie sprechen von einem metaphysischen Defizit in Europa. Was fehlt?
Di Fabio: Ich glaube, dass die europäische Integration mit ihrem Kern des Binnenmarktes sehr zweckrational organisiert ist. Das ist auch gut so. Die moderne Gesellschaft kann dadurch
Menschen und Staaten integrieren, ohne ihnen vorzuschreiben, was das richtige Leben sei.
Aber Einheit mithilfe von Richtlinien und Harmonisierung von Vorschriften - das ist auch etwas sehr Technisches, das die Herzen der Menschen nicht erreicht. Wir unterschätzen vielleicht, wie bedeutend kulturelle Wurzeln und eine Sinnsuche jenseits reiner Zweckrationalität sind. Einer Gesellschaft, die ihre traditionellen Wurzeln aus dem Auge verliert, geht etwas verloren. Bei manchen Menschen schwinden Lebenssinn und Glaube an die Zukunft.
Wenn dann Einwanderung aus dem islamischen Kulturraum dazukommt, der sehr viel stärker traditionell verankert ist - in der Groß familie, in einer Religion, die sich nicht ohne Weiteres auf Säkularisierung einlässt -, dann entstehen Ängste. Man befürchtet, dass diese Menschen in innerer Opposition zu unserer Gesellschaft verharren könnten, weil sie sagen: Ihr baut zwar tolle Autos und seid wirtschaftlich erfolgreich, aber trotzdem fehlen euch die Wurzeln.
Wo sehen Sie die kulturellen Wurzeln Europas?
Es gibt die universellen Werte des Kontinents, die auf der Entfaltungsfreiheit und Rechtsgleichheit der Menschen gründen, der Respekt vor der Würde des Einzelnen, die Bedeutung eines freien
politischen Raums, die Beachtung des Rechts, die soziale Richtung der Marktwirtschaft. Das sollte als gemeinsames kulturelles Fundament deutlicher gemacht werden.
Aber das ist noch nichts Metaphysisches. In der Metaphysik geht es um philosophische, religiöse, weltanschauliche Grundlagen: Welches Bild vom Menschen, von der Welt, vom Sinn des Lebens haben wir? Weil hier nur schwer Konsens zu erreichen ist, wurde etwa beim Entwurf des europäischen Verfassungsvertrags ein Gottesbezug ausgespart, so wie er in manchen staatlichen Verfassungen, etwa der deutschen, enthalten ist.
Ist das nicht genau die europäische Vielfalt, dass jeder Mensch nach seiner Façon selig werden kann?
Ja, gewiss. Die nostalgische, rückwärtsgewandte Konstruktion eines christlichen Europa als verbindliche Leitkultur ist kein Kompass in einer offenen Welt. Aber auf einer allgemeineren Ebene
geben uns die Geschichte und die Idee Europas festen Halt und Orientierung. Die Vorstellung angeborener Menschenrechte hat tiefe antike und christliche Wurzeln. Woher kommt die Vorstellung,
dass der einzelne Mensch, ob groß und stark oder verletzlich und hilflos, eine angeborene Würde hat? Woher stammt die Idee der Vernunft und der demokratischen Selbstregierung?
Sich an Wurzeln des Herkommens zu erinnern heißt nicht, dass nun alle fromme Christen sein oder alle täglich Platon und Aristoteles lesen müssten, um ein vernünftiges Leben zu führen. Es meint nur, dass etwa unser Bildungskanon diese Wurzeln präsent halten sollte: dass schon die Antike darüber nachgedacht hat, was jenseits des empirisch Erfahrbaren liegen könnte. - Da haben wir ein wenig das Feld anderen überlassen.
Der Islam löst die Faszination aus, dass dort Religion etwas gilt, aber auch den Schrecken einer erstarrten Religiosität. Gibt es eine europäische
Mitte?
Diese Mitte ist die Ordnung wechselseitiger Toleranz. Es hat lange gedauert, bis der religiöse Glaube seine absoluten Geltungsansprüche zurückgenommen hat. Das gilt aber auch für
Weltanschauungen und politische Ideologien, die ihre im 20. Jahrhundert so verheerenden Allmachts- und Gewaltfantasien ablegen müssen.
Ein Islam, der darauf verzichtet, im Alltag seine Verhaltensgebote als absolute Regeln durchzusetzen, ist im Europa der Vielfalt willkommen. Aber auch die säkularisierte Gesellschaft darf sich nicht absolut setzen und alles Religiöse verdrängen. Andernfalls verschwindet unser metaphysischer Horizont, den die moderne Gesellschaft braucht, etwa um zu verstehen, dass der Mensch ein Teil der Schöpfungsordnung ist und deshalb ökologische Lebensgrundlagen bewahrt oder über sein Genom medizintechnisch nicht beliebig verfügen kann.
Eine Umfrage ergab unlängst, Kirche und Religion werden unbedeutender, aber christliche Werte seien wichtig
Das ist kein Widerspruch. Christliche Werte sind im Laufe der Zeit verweltlicht worden. Aus dem Gebot der Nächsten-liebe ist der Sozialstaat geworden. Die Pflicht der Feindesliebe führte zum
internationalen Kooperations- und Friedens-gebot. Mit anderen Worten: Es gibt die ernsthafte These, dass die Gehalte der christlichen Religion in die öffentlichen Grundeinstellungen
übertragen wurden.
Wo sind diese Gehalte ohne Religion verankert?
Vor allem in der politischen Moral der westlichen Gesellschaften, auch im Verständnis grundlegender Menschenrechte. Doch die Übernahme religiöser Anliegen macht die Glaubensgemeinschaften
noch nicht zu politischen Akteuren. Religion darf gewiss politisch mahnen, sollte aber nicht allzu tagespolitisch unterwegs sein. Wenn Kirchenvertreter moralisch selbstgewiss politisch
urteilen, löst das womöglich Fragen nach dem verantwortungsethischen Wissen aus.
Die Gottessuche bedeutet auch immer Zweifel und verlangt neben allem optimistischen Selbstbewusstsein die Fähigkeit zur Demut. Viele Gläubige wissen das, aber der säkularisierten Gesellschaft geht diese Ambivalenz ein wenig verloren. Wir meinen, wir könnten alles nach unserem Plan gestalten, und haben für Schicksal und das Unerforschliche keine Stelle mehr.
Ist das die Stärke der Populisten, dass sie quasi religiöse Werte vor sich hertragen?
Ich glaube, dass sowohl der rechte wie der linke Populismus ein Aufbegehren gegen die herrschende Zweckrationalität der internationalen Politikverflechtung und der Mechanismen der offenen
Marktwirtschaft sind. Sie haben kein meta-physisches Angebot, aber sie versuchen die Seele zu erreichen, häufig mit politischer Romantik. Insofern bieten manche politischen Strömungen Ersatz
für das Religiöse, für Lebenssinn oder Weltdeutung.
Wie kann die EU auf populistische und nationalistische Strömungen reagieren?
Der alte Kontinent hat keine vernünftige Alternative zu einer fairen Form der europäischen Gemeinschaftsbildung, die fähig ist, unterschiedliche Ausgangspositionen und Interessen
auszugleichen. In manchen Punkten allerdings hat man im Drang zur europäischen Einheit allzu ehrgeizig Projekte in Angriff genommen, die vielleicht mehr Zeit und konzeptio-nelle Umsicht
verdient hätten. Es ist eine Frage, ob die Währungsunion oder die gemeinsame Asylpolitik die Integration nicht derart unter Druck gesetzt haben, dass wir es jetzt mit Erosionsprozessen zu tun
haben.
Die Währungsunion lag in der Logik wirtschaftlicher Einigung, aber sie zwingt alle Teilnehmer zu fiskalischer Disziplin und zur Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit - ohne monetäre Mittel wie die Abwertung einer nationalen Währung. Das belastet die Demokratie in den Mitgliedsstaaten. Das notwendige europäische Recht der Stabilitätsvorgaben kann sich gegenüber nationalkulturellen Einstellungen und Verhältnissen oft nicht durchsetzen. Das europäische Migrationsrecht ist undurchsichtig. Es blieb ebenfalls oft unbeachtet. Wer Europas Einheit will, wird im Tempo mehr Rücksicht nehmen auf die Überzeugung sozial, kulturell und religiös verwurzelter Menschen.
Sie plädieren also für eine stärkere nationale Selbstständigkeit der EU-Staaten?
Keine Renationalisierung, aber eine bessere Balance. Wir bleiben beim Schengensystem, aber wir gestatten den Mit-gliedsstaaten Grenzkontrollen, solange die Schengen-Außengrenzen nicht wirksam
kontrollierbar sind. Rechtstexte könnten deutlicher machen, dass die Mitgliedsstaaten selbst bestimmen, wen sie aufnehmen und wen nicht. Denn die Demokratien wollen auch in den Bahnen
europäischer und internationaler Solidarität letztlich selbst entscheiden, wer auf ihrem Territorium Schutz und Aufnahme findet.
Aber bei aller Diskussion über Rechtsänderungen kommt es auch auf Grundeinstellungen an. Die nationalen Öffent-lichkeiten sollten in Brüssel nicht das Ventil für Frustgefühle aller Art sehen, sondern stärker erkennen, dass die EU gelingen muss, weil sonst die Feinde der freien Gesellschaft ein Etappenziel erreichen.
Quelle: Salzburger Nachrichten vom 25.04.2017 - Interview von Josef Bruckmeier
https://www.sn.at/politik/weltpolitik/udo-di-fabio-europa-hat-seine-wurzeln-verloren-7984597