Ultra posse nemo obligatur. Über das Können hinaus ist niemand verpflichtet
Impossibilium nulla est obligatio. Das Unmögliche ist keine Pflicht.
Tradierte Grundsätze des Rechtlichen
Doch können wir in Wirklichkeit ein gutes von einem schlechten Gesetz nur nach einer Norm der Natur unterscheiden; nicht nur Recht und Ungerechtigkeit werden nach einem Maß des Wesens der Dinge
unterschieden, sondern auch alle edlen und gemeinen Dinge; die Idee aber, daß das Gute und das Böse nur in der Meinung darüber liege, ist die Ansicht eines Wahnsinnigen.
Marcus Tullius Cicero
Zwischen den Schwachen und den Starken ist es die Freiheit,
die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit.
Jean Jacques Rousseau
Wer Grundfreiheiten zugunsten von Sicherheit aufgibt,
verliert Freiheit und Sicherheit.
Benjamin Franklin
Wenn wir eine Idee bezeichnen wollen, die durch die ganze Geschichte hindurch in immer mehr erweiterter Geltung sichtbar ist; wenn irgendeine die vielfach bestrittene, aber noch vielfacher missverstandene Vervollkommnung des ganzen Geschlechtes beweist: so ist es die Idee der Menschheit, das Bestreben, die Grenzen, welche Vorurteile und einseitige Ansichten aller Art feindselig zwischen die Menschen gestellt, aufzuheben; und die gesamte Menschheit ohne Rücksicht auf Religion, Nation und Farbe als einen großen, nahe verbrüderten Stamm, als ein zur Erreichung eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehendes Ganzes zu behandeln. Es ist dies das letzte, äußere Ziel der Geselligkeit und zugleich die durch seine Natur selbst in ihn gelegte Richtung des Menschen auf unbestimmte Erweiterung seines Daseins.
Wilhelm von Humboldt
Eine Sache ist erledigt, wenn sie gerecht erledigt ist.
Abraham Lincoln
Die Gerechtigkeit ist die zweite große Aufgabe des Rechts, die erste aber ist die Rechtssicherheit, der Friede.
Gustav Radbruch, Aphorismen zur Rechtsweisheit
Nicht haltbar ist, daß der Mensch von Geburt an frei und gleich sei.
Es gibt keine angeborenen Rechte, sie sind alle erworben oder müssen im Kampf noch erworben werden.
Ernst Bloch
Gustav Radbruch, Fünf Minuten Rechtsphilosophie
in: Rhein-Neckar-Zeitung vom 12.9.1945
Erste Minute
Befehl ist Befehl, heißt es für den Soldaten. Gesetz ist Gesetz, sagt der Jurist. Während aber für den Soldaten Pflicht und Recht zum Gehorsam aufhören, wenn er weiß, daß der Befehl ein
Verbrechen oder ein Vergehen bezweckt, kennt der Jurist, seit vor etwa hundert Jahren die letzten Naturrechtler unter den Juristen ausgestorben sind, keine solche Ausnahmen von der Geltung
des Gesetzes und vom Gehorsam der Untertanen des Gesetzes. Das Gesetz gilt, weil es Gesetz ist, und es ist Gesetz, wenn es in der Regel der Fälle die Macht hat, sich durchzusetzen.
Diese Auffassung vom Gesetz und seiner Geltung (wir nennen sie die positivistische Lehre) hat die Juristen wie das Volk wehrlos gemacht gegen noch so willkürliche, noch so grausame, noch so
verbrecherische Gesetze. Sie setzt letzten Endes das Recht der Macht gleich, nur wo die Macht ist, ist das Recht.
Zweite Minute
Man hat diesen Satz durch einen anderen Satz ergänzen oder ersetzen wollen: Recht ist, was dem Volke nützt.
Das heißt: Willkür, Vertragsbruch, Gesetzwidrigkeit sind, sofern sie nur dem Volke nützen, Recht. Das heißt praktisch: was den Inhaber der Staatsgewalt gemeinnützig dünkt, jeder Einfall und jede Laune des Despoten, Strafe ohne Gesetz und Urteil, gesetzloser Mord an Kranken sind Recht. Das kann heißen: der Eigennutz der Herrschenden wird als Gemeinnutz angesehen. Und so hat die Gleichsetzung von Recht und vermeintlichem oder angeblichem Volksnutzen einen Rechtsstaat in einen Unrechtsstaat verwandelt.
Nein, es hat nicht zu heißen: alles was dem Volke nützt, ist Recht, vielmehr umgekehrt: nur was Recht ist, nützt dem Volke.
Dritte Minute
Recht ist Wille zur Gerechtigkeit. Gerechtigkeit aber heißt: ohne Ansehen der Person richten, an gleichem Maße alle messen. |
Wenn die Ermordung politischer Gegner geehrt, der Mord am Andersrassigen geboten, die gleiche Tat gegen die eigenen Gesinnungsgenossen aber mit den grausamsten, entehrendsten
Strafen geahndet wird, so ist das weder Gerechtigkeit noch Recht.
Wenn Gesetze den Willen zur Gerechtigkeit bewußt verleugnen, z. B. Menschenrechte Menschen nach Willkür gewähren und versagen, dann fehlt diesen Gesetzen die Geltung, dann schuldet das Volk ihnen
keinen Gehorsam, dann müssen auch die Juristen den Mut finden, ihnen den Rechtscharakter abzusprechen.
Vierte Minute
Gewiß, neben der Gerechtigkeit ist auch der Gemeinnutz ein Ziel des Rechts. Gewiß, auch das Gesetz als solches, sogar das schlechte Gesetz, hat noch immer einen Wert – den Wert, das Recht
Zweifeln gegenüber sicherzustellen. Gewiß, menschliche Unvollkommenheit läßt im Gesetze nicht immer alle drei Werte des Rechts: Gemeinnutz, Rechtssicherheit und Gerechtig/keit, sich harmonisch
vereinigen, und es bleibt dann nur übrig abzuwägen, ob dem schlechten, dem schädlichen oder ungerechten Gesetze um der Rechtssicherheit willen dennoch Geltung zuzusprechen, oder um seiner
Ungerechtigkeit oder Gemeinschädlichkeit willen die Geltung zu versagen sei. Das aber muß sich dem Bewußtsein des Volkes und der Juristen tief einprägen: es kann Gesetze mit einem solchen Maße
von Ungerechtigkeit und Gemeinschädlichkeit geben, daß ihnen die Geltung, ja der Rechtscharakter abgesprochen werden muß.
Fünfte Minute
Es gibt also Rechtsgrundsätze, die stärker sind als jede rechtliche Satzung, so daß ein Gesetz, das ihnen widerspricht, der Geltung bar ist. Man nennt diese Grundsätze das Naturrecht oder das
Vernunftrecht. Gewiß sind sie im Einzelnen von manchem Zweifel umgeben, aber die Arbeit der Jahrhunderte hat doch einen festen Bestand herausgearbeitet, und in den sogenannten Erklärungen der
Menschen- und Bürgerrechte mit so weitreichender Übereinstimmung gesammelt, daß in Hinsicht auf manche von ihnen nur noch gewollte Skepsis den Zweifel aufrechterhalten kann.
In der Sprache des Glaubens aber sind die gleichen Gedanken in zwei Bibelworten niedergelegt. Es steht einerseits geschrieben: Ihr sollt gehorsam sein der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat.
Geschrieben steht | aber andererseits auch: ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen – und das ist nicht etwa nur ein frommer Wunsch, sondern ein geltender Rechtssatz. Die Spannung aber
zwischen diesen beiden Worten kann man nicht durch ein drittes lösen, etwa durch den Spruch: Gebet dem Kaiser was des Kaisers und Gott was Gottes ist –, denn auch dieses Wort läßt die Grenzen im
Zweifel. Vielmehr: es überläßt die Lösung der Stimme Gottes, welche nur angesichts des besonderen Falles im Gewissen des Einzelnen zu ihm spricht.
Neuabdruck in: Radbruch, G., Rechtsphilosophie, 8. Aufl., hrsg. von
Erik Wolf und Hans-Peter Schneider, Stuttgart 1973, S. 327 ff.
IS THE RIGHT TO LIFE OR IS ANOTHER RIGHT THE MOST FUNDAMENTAL HUMAN RIGHT – THE “URGRUNDRECHT”?:
HUMAN DIGNITY, MORAL OBLIGATIONS, NATURAL RIGHTS, AND POSITIVE LAW
Josef Seifert
Abstract:
Moral obligations and basic human rights must be distinguished from each other and from positive rights and laws. Ethics and basic human rights rest on human dignity. The right to life is shown to be a natural and “absolute right,” but it is also in a certain sense the absolutely foundational concrete human right (Urgrundrecht) grounded in ontological dignity: all other human rights presuppose necessarily human life while human life has no more fundamental foundation in other goods but constitutes their ground. Other ideas about the most foundational right (such as the habeas corpus) are less foundational for the reason that they are more insignificant, can be suspended, are not immune to emergency states, such that their violation is not under all circumstances a grave violation. Moreover, they presuppose the right to life. These rights also refer only to a small sector of humanity, not applying to babies or comatose patients. The right to life is held by all human beings without exception, it is unrenounceable. For these and many other reasons the right to life is in an important sense the most fundamental right, in accordance with the first point of view for determining which is the most basic human right: Which right refers to the most basic good that is the condition of all others? However, there are two other points of view to determine the most basic right: The second point of view is expressed in the question: “Which human right is the most universal and comprehensive one and includes all others?” This is not true of the right to life which does not say anything about any other right. The respect for human life would not necessarily prevent a person from depriving another person of all other human rights, selling her as slave, torturing her, etc. From this point of view the right to life is in no way the Urgrundrecht, but rather the “universal right to be respected in one’s human dignity,” as well as “the right not to be harmed.” A third point of view to determine the Urgrundrecht considers the value rank of a good in which a human right is founded. From this point of view the “right to the freedom of conscience” linked to the highest (moral) values and the “right to religious freedom” are higher human rights because to just live without any other value and good in one’s life is certainly not the highest good. The paper concludes to a trilogy of the most basic human rights respect for which includes respect for all human rights.
Klassische Texte zur Rechtsphilosophie
Platon, Politeia (Der Staat) / Nomoi (Die Gesetze)
Aristoteles, Politik
Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus (Theologisch-politische Abhandlung)
Rousseau, Du Contrat Sociale ou Principes De Droit Politique (Vom Gesellschaftsvertrag oder den Prinzipien des politischen Rechtes)
Montesquieu, De l'esprit des loix (Vom Geist der Gesetze)
Condorcet, Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain
(Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes)
Kant, Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Mit einem Text zur Einführung von Ernst Cassirer,
Hamburg: Meiner 1999
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis /
Zum ewigen Frieden, Hamburg: Meiner 1992
Metaphysik der Sitten. Erster Teil: Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Hamburg: Meiner 1986
Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts
Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?
Reinach, Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts
Radbruch, Rechtsphilosophie
John Rawls, A Theory of Justice (Eine Theorie der Gerechtigkeit)
Zeitgenössische Beiträge zur Rechtsphilosophie
Brugger, W. / Neumann, U. / Kirste, S. (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008
Crespo, M. (Hg.), Menschenwürde: Metaphysik und Ethik, Heidelberg: Universitätsverlag C Winter 1998
Höffe, Gerechtigkeit, Eine philosophische Einführung, München: Beck 2001
Höffe, O., Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995
Höffe, O., Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München: C. H. Beck 1999
Hoerster, N., Was ist Recht? Grundfragen der Rechtsphilosophie, München: Beck 2006
Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, Immanuel Kants Rechtsund Staatsphilosophie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993
Kriele, Martin, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, Münster: LIT 2003
Prauss, G., Moral und Recht im Staat nach Kant und Hegel, Freiburg / München: Alber 2008
Seifert, J. (Hg.), Wie erkennt man Naturrecht? Heidelberg: Universitätsverlag C. Winter 1998
Strauss, L., Naturrecht und Geschichte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp ²1989
Zippelius, R., Das Wesen des Rechts. Eine Einführung in die Rechtsphilosophie, München: Beck 1997