Das deutsche Wort "Selbstbewusstsein" und seine englischen, französischen, spanischen und anderen sprachlichen Entsprechungen wird umgangssprachlich und wissenschaftlich in verschiedener Hinsicht verwendet und bekommt dann ziemlich verschiedene sachliche Bedeutungen.
Im folgenden unterscheide ich zwischen den fünf wichtigsten Bedeutungen und Hinsichten. Werden diese fünf Bedeutungen und Hinsichten nicht angemessen unterschieden, dann reden Philosophen, Psychologen und Psycho-therapeuten aneinander vorbei. So versteiften sich die deutschen Philosophen Dieter Henrich (†), Jürgen Habermas
und Ernst Tugendhat (†) ab dem Ende der 70er Jahre auf das eine oder andere Verständnis von Selbstbewusstsein und entwickelten ihre eigenen Positionen, denen zufolge jeweils das eine Verständnis von Selbstbewusstsein basaler oder methodisch angemessener als das andere sein soll, um auf diese Weise die Positionen der Anderen von der eigenen
aus besser kritisieren und schwächen zu können. Das waren zwar interessante professorale Rivalitäten und intellek-tuelle Schulstreitigkeiten, die zwar die Anhängerschaften spalteten, denen es jedoch manchmal an wissenschaftlicher Sachlichkeit, an philosophischer Einsicht und an der menschlicher Klugheit fehlte.
Tatsächlich, so denke ich, gibt es eine bio-sozial-psycho-logische Entwicklung in fünf Stufen, aber die früheren Stufen
in der Entwicklung dieser psychologischen Phänomene von Selbstbewusstsein sind ist nicht irgendwie "besser" oder "wichtiger" als die späteren und höherstufigen Phänomene. Die früheren Phänomene in der stufenartigen Entwicklung sind jedoch psychologische Bedingungen der Entstehung und Erhaltung der späteren Phänomene.
1. Selbstbewusstsein in verhaltenspsychologischer Hinsicht
2. Selbstbewusstsein in entwicklungspsychologischer Hinsicht
3. Selbstbewusstsein in kognitionspsychologischer Hinsicht
4. Selbstbewusstsein in sozialpsychologischer Hinsicht
5. Selbstbewusstsein in psychologischer und psychotherapeutischer Hinsicht
1. Selbstbewusstsein in verhaltenspsychologischer Hinsicht
Das Wort "Selbstbewusstsein" wird von biologischen Verhaltensforschern und manchen wissenschaftlich gesinnten Philosophen in einem biologischen oder verhaltenspsychologischen Sinn verwendet. Dann meinen sie primär mehr oder weniger intelligente Lebeswesen und sekundär Menschen, insofern sie auch schon von ihrer embryonalen Phase in der Entwicklung im Mutterleib und folglich auch von Geburt an ein animalisches, instinktives und präreflexives Selbst-bewusstsein haben, bevor ein sprachbasiertes, reflexives und propositionales Selbstbewusstsein entstehen kann.
So hat z. B. der New Yorker Philosoph Thomas Nagel darauf hingewiesen, dass Fledermäuse ein für uns fremdes Gefühl davon haben müssen, wie es für sie ist oder wie es sich für sie anfühlt, eine Fledermaus zu sein, die sich mit ihrem ganz speziellen Echolotsystem fliegend im Raum bewegen kann, normalerweise ohne irgendwo anzustoßen oder gar eine Bruchlandung zu erleiden. Für uns Menschen ist es zwar ziemlich schwer zu verstehen, wie es sein kann und wie es sich anfühlen muss, eine Fledermaus zu sein. Dennoch können angesichts ihrer raffinierten Flugkünste und Navigations-fähigkeiten kaum bestreiten, dass es sich irgendwie anfühlen muss, sich selbst so kunstvoll steuern zu können.
Ein solches animalisches und instinktives Selbstbewusstsein haben alle höheren empfindungsfähigen Lebewesen, die sich selbst im Raum (im Wasser, auf dem Land oder in der Luft) erfolgreich bewegen können, also bereits Fische und Reptilien und erst recht Beuteltiere, Säugetiere und Vögel. Umstritten ist, ob dies auch auf Insekten zutrifft, da sie keine analogen Reizleiter zu haben scheinen, also eher empfindungslosen Robotern gleichen.
Auf der organischen Ebene brauchen empfindungsfähige Lebewesen dazu ein internes Signalsystem in Form von neuronalen Verbindungen. Je differenzierter und komplizierter dieses Nervensystem ist bis hin zu den Säugetieren mit einem komplexen Gehirn als Zentrum und einem Nervensystem, das über das zentrale Rückenmark mit dem ganzen Körper verbunden ist, desto feinfühliger ist die propriorezeptive Selbstwahrnehmung von leiblichen Zuständen, von Positionen und Bewegungen.
Insbesondere der innere Gleichgewichtssinn, der auf der physiologischen Ebene im Innenohr von Säugetieren, Vögeln und Menschen angesiedelt ist, regelt die propriorezeptive Selbstwahrnehmung der eigenen leiblichen Position im Raum. Diese Lebewesen können irgendwie an sich selbst spüren, ob sie gerade stehen, gehen, sitzen oder liegen oder ob sie gerade aufrecht oder kopfüber fallen oder ob sie sich gerade im Gang, im Lauf oder im Flug nach oben oder nach unten oder nach rechts oder nach links bewegen, etc.
Intelligente und empfindungsfähige Lebewesen haben zumindest bei bester Gesundheit und bei vollem Bewusstsein ein propriorezeptives Bewusstsein von sich selbst als leiblichen Lebewesen in den folgenden fünf empfundenen Zuständen basaler Empfindungen. Diese Lebewesen spüren etwas und sie reagieren auf ihre Empfindungen, ohne sie sprachlich benennen zu können und ohne sie verstehen und erklären zu können, wie ihnen gerade zumute ist und was ihnen gerade widerfährt. Diese fünf basalen Arten von Empfindungen sind:
(1.) Hunger und Durst und folglich instinktive Bedürfnisse nach Sättigung,
(2.) physische Schmerzen und folglich instinktive Bedürfnisse nach Schmerzvermeidung und Schmerzlosigkeit,
(3.) Lust und Unlust und folglich instinktive Bedürfnisse nach dem Anhalten oder gar der Steigerung dieser Lustempfindungen bis Empfindungen einer Sättigung oder eines Überdrusses,
(4.) Furcht vor Gefahren und folglich instinktive Bedürfnisse entweder vor der Gefahr zu fliehen oder sich der Gefahr
zu stellen, indem man sich z.B. gegen einen Aggressor wehrt,
(5.) Kraft und Erschöpfung und folglich instinktive Bedürfnisse nach Erholung, Ruhe oder Schlaf zur Erneuerung der Kraft bzw. zum Erwachen aus dem Schlaf.
2. Selbstbewusstsein in entwicklungspsychologischer Hinsicht
Das Wort "Selbstbewusstsein" wird jedoch von Entwicklungpsychologen und Philosophen auch in einem anderen Sinn verwendet. Denn sie verstehen unter "Selbstbewusstsein" die vorsprachliche und präreflexive Fähigkeit, die in kleinen Kindern in der Regel etwa zwischen dem 18. und 22. Monat erwacht und dann normalerweise auch nicht mehr verloren geht. Es handelt sich um die höhere, teils spontan erwachte und teils erlernte, vorsprachliche und präreflexive Fähigkeit, sich selbst in einem Spiegel als "dies da" (auf sich und/oder auf das Spiegelbild zeigend) zu erkennen.
Diese zweite Stufe von Selbstbewusstsein ist spezifisch menschlich und kommt unter anderen intelligenten Lebewesen im Tierreich nicht vor. Obwohl einige mit Menschen eng vertraute Schimpansen auch schon diese vorsprachliche und präreflexive Stufe von Selbstbewusstsein nach anhaltendem Training unter künstlichen Umständen erreicht haben sollen, entwickeln sie diese Form von Selbstbewusstsein in der feien Wildbahn unter ihresgleichen nicht, zumal sie dort weder Spiegel haben noch bei Menschen leben, die es ihnen erst durch Verhaltenstraining beibringen.
Sobald Kinder sich selbst in einem Spiegel als "dies da" erkennen können, sind auch die kognitiven Voraussetzungen gegeben, dass sie beginnen, von sich selbst mit ihrem Eigennamen zu sprechen. Damit können sie anfangen, sich als jemand und als einzelnes Kind in der Familie oder im Kindergarten zu identifizieren und reidentifizieren. Die entwick-lungslogische Voraussetzung für diese Fähigkeit zur Identifikation als N.N. ist jedoch die animalische, unmittelbare und präreflexive Fähigkeit, seine primären leiblichen Empfindungen und Bedürfnisse spüren zu können. In dieser Hinsicht hatte Dieter Henrich wohl recht damit, dass es ein präreflexives Selbstbewusstsein gibt und bereits gegeben sein muss, um ein reflexives Selbstbewusstsein auszubilden. Fichte und Sarte scheinen darin seine Kronzeugen zu sein.
3. Selbstbewusstsein in sozialpsychologischer Hinsicht
Das Wort "Selbstbewusstsein" wird jedoch von Entwicklungpsychologen und Philosophen auch in einem weiteren Sinn verwendet. Dann sie verstehen unter "Selbstbewusstsein" die sprachliche und reflexive Fähigkeit, die in kleinen Kindern in der Regel etwa zwischen dem 20. und 24. Monat erwacht und dann normalerweise auch nicht mehr verloren geht.
Es handelt sich um die höhere, teils spontan erwachte und teils erlernte, kognitive und reflexive Fähigkeit, von sich selbst mit dem indexikalischen und reflexiven Wörtchen Ich zu sprechen und von nun an von sich selbst nicht mehr nur mit dem Eigennamen zu sprechen. Sie wird gewöhnlich als Ich-Bewusstsein bezeichnet.
Mit der reflexiven Selbstbezeichnung Ich geht gewöhnlich auch die sozialpsychologische Fähigkeit einher, kognitiv und sprachlich zwischen Ich und Du, zwischen Er, Sie und Es, zwischen Uns und Ihnen, den Anderen unterscheiden zu können. In dieser Hinsicht hatten Habermas und Tugendhat recht damit, dass die spätere kognitive und reflexive Fähigkeit, von sich selbst mit dem Wörtchen Ich zu sprechen, in der Familie und im Kindergarten als primären sozialen Situationen gelernt und geübt werden muss. Aber es handelt sich dennoch um eine spätere kognitive Entwicklungsstufe, worauf ihr Kronzeuge, der Anthropologe und Sozialpsychologe G. H. Mead hingewiesen hatte.
4. Selbstbewusstsein in kognitionspsychologischer Hinsicht (theory of mind)
Das Wort "Selbstbewusstsein" wird weiterhin von kognitiven Psychologen und Philosophen, (forensischen) Psychiatern und Juristen auch in einem noch einmal anderen und weiteren Sinn verwendet. Dann sie verstehen unter "Selbst-bewusstsein" die sprachliche und reflexive Fähigkeit, sich auf die intentionalen Gehalte der eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen, Gedanken und Urteile, Einstellungen und Überzeugungen, Emotionen und Motivationen, Absichten und Pläne, Entscheidungen, Taten und Unterlassungen, etc. zu beziehen. Der Erwerb und die Ausübung dieser höherstufigen menschlichen Fähigkeit beginnt zwar auch schon in der Kindheit und Jugend, ist jedoch verschie-den stark ausgeprägt, kann aufgrund verschiedener Persönlichkeitsstörungen unterschiedlich eingeschränkt sein.
Während Kant sich in seiner transzendentalphilosophischen Reflexionen über die Funktion des Gedankens "Ich denke" für das epistemische Selbstbewusstsein interessierte und sich auf die kognitive Differenz von Subjektivität und Objektivität der sinnlichen Erfahrungen und kognitiven Urteile konzentrierte, realisierte Edmund Husserl, dass es auch ein intuitives Gewahrwerden und eine sprachliche Zuschreibung in Bezug auf die intentionalen Gehalte der fremden Empfindungen und Wahrnehmungen, Gedanken und Urteile, Einstellungen und Überzeugungen, Emotionen und Motivationen, Absichten und Pläne, Entscheidungen, Taten und Unterlassungen, etc. gibt.
Jemand kann also nicht nur denken, "ich denke, dass p", sondern jemand kann auch denken, dass ein Anderer "er, sie oder es, denkt, dass p". Außerdem kann jemand ahnen oder vermuten, dass Andere etwas empfinden, wahrnehmen, meinen, urteilen, fühlen, wollen, vorhaben, planen, entscheiden, tun, untrerlassen, etc. Das geschieht tatsächlich nicht immer bewusst und sprachlich, sondern oft unbewusst und vorsprachlich. Denn sogar manche höhere Säugetiere und Vögel haben schon einen vorsprachlichen Sinn dafür, was andere Tiere, wie etwas Futterneider, Rivalen und Fressfeinde wahrnehmen und erkennen können, wenn sie ihre Beute vor ihnen verstecken oder wenn sie mit ihnen gemeinsam in einem Rudel jagen gehen. Sie haben auch schon eine rudimentäre und präreflexive Theory of Mind, wie das Psycho-logen genannt haben.
5. Selbstbewusstsein in psychologischer und psychotherapeutischer Hinsicht
Das Wort "Selbstbewusstsein" wird umgangssprachlich meistens jedoch in dem Sinn verwendet, in dem Psychologen und Psychotherapeuten von jugendlichen und erwachsenen Menschen sagen, dass sie sich mehr oder weniger selbst-bewusst fühlen und daher auch mehr oder weniger selbstbewusst verhalten. Meistens wird darunter die psychologische Eigenschaft eines Menschen verstanden, der sich selbst wertschätzt, der daher seiner selbst und seiner Sache recht sicher ist und der daher auch in einem Team oder in einer Gemeinschaft selbstsicher auftreten und seine Anliegen vertreten kann. Da das in der Regel für jemanden von Vorteil ist, wird Selbstbewusstsein im Sinne von Selbstwert-schätzung als etwas erstrebenswertes aufgefasst und nach effektiven Methoden gesucht, sein Selbstbewusstsein zu stärken.
Seltener wird dabei jedoch bedacht, dass jemand für seine Verhältnisse, seine Rolle und Funktion in einem Team oder
in einer Gemeinschaft auch zu selbstbewusst auftreten kann. Selbstbewusstsein in diesem Sinne von Selbstwert-schätzung und Selbstsicherheit kann nämlich in Relation zu Anderen und zu bestimmten Situationen auch unan-gemessen stark und daher zu hoch sein und nicht nur zu schwach oder zu niedrig. Von daher wird meistens zu wenig gefragt und bedacht, ob sich jemand in einem Team oder in einer Gemeinschaft angemessen selbstbewusst und
seinem Wert, seinen bisherigen Leistungen, seiner Rolle und Funktion angemessen einschätzt. Wenn jemand das
nicht tut, dann kann er zurecht als arrogant oder unbescheiden wirken, weil er sich selbst und seine Kompetenzen überschätzt.
Anstelle einer gesunden und erstrebenswerten Wertschätzung seiner selbst kann dann nämlich ein unangemessen hohes Selbstbewusstsein aus einem narzisstischen Geltungsbedürfnis resultieren. Anstelle der wahren und guten Selbstliebe (amour des soi) wird dann eine falsche und schlechte Selbstsucht (amour propre). Selbstsüchtige Menschen stellen sich selbst, ihr Wohlbefinden und ihre Interessen über alle Anderen und über deren Wohlbefinden und deren Interessen. Sie instrumentalisieren Andere für ihre Zwecke und beuten sie in ihrem eigenen Interesse aus.
Woher dieses pathologische Geltungsbedürfnis oder diese narzisstische Persönlichkeitsstörung kommt, darüber können sich auch seriöse Psychologen und erfolgreiche Psychotherapeuten bis heute nicht einigen. Nicht selten wird es auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit und Jugend zurückgeführt. Aber Traumata sollen manchmal auch genau das Gegenteil erklären, nämlich das fehlende Selbstbewusstsein von sich selbst unsicher verhaltenden Persönlichkeiten. Objektivierende Kausalerklärungen sind im Bereich des Psychischen eben nur mit großer Vorsicht zu genießen, da subjektive und intersubjektive leibliche, seelische und geistige Wechselwirkungen sehr komplex sind und für Andere weitgehend verborgen im dunklen Unter- und Vorbewussten der jeweiligen Persönlichkeiten liegen.
Weitere Bedeutungen und besondere Formen von Selbstbewusstsein
Die bisherigen fünf Bedeutungen und Stufen der Entwicklung von Selbstbewusstsein sind allgemein menschlich und gehören zur philosophischen Anthropologie sowie zur empirischen Humanpsychologie. Es gibt jedoch auch noch weitere Bedeutungen und Formen von Selbstbewusstsein, die nicht allgemein menschlich sind, sondern geschlecht-lich, familiär, kulturell, national, beruflich, religiös oder spirituell, weil sie von der jeweiligen Persönlichkeit, ihrer Herkunft und Prägung, ihrer Lebensgeschichte und ihrem persönlichen Erfahrunghorizont und damit von ihrer lebenslangen Persönlichkeitsentwicklung abhängen.
Da man dabei keine Vollständigkeit beanspruchen kann, möchte ich hier acht exemplarische Formen der weiteren möglichen Entwicklung von personalem Selbstbewusstsein nennen, die in diesem Sinne nicht allgemein menschlich sind, sondern die unverwechselbare Identität einer Person ausmachen:
1. Das geschlechtliche Selbstbewusstsein eines Mannes oder einer Frau,
2. Das familiäre Selbstbewusstsein einer Person, die seit ihrer Kindheit einer bestimmten Familie angehört,
3. Das kulturelle Selbstbewusstsein einer Person, die seit ihrer Kindheit einer bestimmten Kultur angehört,
4. Das nationale Selbstbewusstsein einer Person, die seit ihrer Kindheit einer bestimmten Nation angehört,
5. Das berufliche Selbstbewusstsein eines/r Wissenschaftlers/in, Künstlers/in, Philosophen/in oder Theologen/in, etc.
6. Das existenzielle Selbstbewusstsein einer Person, die sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst geworden ist,
7. Das religiöse Selbstbewusstsein einer Person, die einer bestimmten Religion oder Konfession angehört,
8. Das spirituelle Selbstbewusstsein einer Person, die eine bestimmte Transzendenzerfahrung gemacht hat,
Eine Identität kann jemand jedoch auch dann schon haben, wenn er oder sie sich dieser Identität noch nicht bewusst geworden ist. Insofern ist personale Identität nicht dasselbe wie das Selbstbewusstsein von dieser personalen Identität. Bis zu einem gewissen Grad kann jemand auch seine wirkliche oder wahre Identität verleugnen, gegenüber Anderen verschleiern, oder eigenständig verändern, indem er sich von ihr zu emanzipieren versucht. Aber das kann zu internen und externen psychischen Spannungen und zu massiven Selbsttäuschungen über seine wirkliche oder wahre Identität führen. Wer authentisch ist und wirkt, lebt in einer größtmöglichen Übereinstimmung mit seiner wirklichen oder wahren Identität. So jemand macht weder sich selbst noch Anderen etwas vor.
1. Das geschlechtliche Selbstbewusstsein eines Mannes der sich seiner Männlichkeit oder einer Frau, die sich ihrer Weiblichkeit voll und ganz bewusst ist und sich mit ihr identifizieren kann. Beim Mann trägt dazu die gute Beziehung zu seiner Frau und die Vaterschaft, die Fürsorge für seine Familie sowie die Kreativität und Schaffenskraft in seinem Beruf bei. Bei der Frau sind es entsptrechend primär die gute Beziehung zu ihrem Mann und ihre Mutterschaft, die gelingende Fürsorge für ihre Kinder und Familie sowie die Kreativität und Schaffenskraft in ihrem Beruf . In konkreten Einzelfällen können die Gewichtungen unterschiedlich und komplementär ausfallen.
Da jeder Mensch jedoch entweder als Junge oder als Mädchen geboren wird und da das Geschlecht angeboren und damit schicksalhaft bzw. von Gott gegeben ist, ist es eminent wichtig, sein Geschlecht anzunehmen und zu bejahen. Geschlecht ist gewöhnlich eine ganzheitliche und daher nicht nur eine leibliche, sondern auch eine seelische und geistige Angelegenheit. Die dualistische Vorstellung, angeblich "im falschen Körper geboren" zu befinden, ist nicht nur seltsam künstlich, sondern auch oft pathologisch. Eventuelle Abweichungen vom natürlichen Normalfall der Zugehörig-keit zu einem der beiden komplementären Geschlechter aufgrund zweideutiger physischer Geschlechtsmerkmale oder aufgrund vorübergehender Genderdysphorie in der Kindheit und Jugend können vorkommen. Aber sie sind sehr selten (weit unter 0,1 %), wenn Kinder und Jugendliche nicht durch ihr familiäres oder soziales Umfeld beeinflusst, fehlgeleitet und verwirrt werden. Solche seltenen Ausnahmen von der natürlichen Regel der weit überwiegenden Normalfälle sind kein Grund, den natürlichen Normalfall zu relativieren und neue sprachliche oder gar gesetzliche Regeln einzuführen.
2. Das familiäre Selbstbewusstsein einer Person, die seit ihrer Kindheit einer bestimmten Familie angehört, ist in der Kindheit und Jugend prägend. Da die familiäre Herkunft ebenfalls angeboren und damit schicksalhaft bzw. von Gott gegeben ist, ist es eminent wichtig, seine Herkunft anzunehmen und trotz aller Widerstände und Schwierigkeiten zu bejahen. Die frühe familiäre Prägung wird jedoch im Erwachsenenalter gewöhnlich schwächer, weil sich dann die neue Identität und das erwachsene Selbstbewusstsein nicht mehr aus den Quellen der familiären Herkunft, sondern der Rolle in der selbst gegründeten Ehe und Famile sowie aus den Leistungen in Beruf und Gesellschaft speist.
Es gibt jedoch bestimmte Arten von Familien, wo die Herkunftsfamilie länger wichtig bleibt, wie in Adelsfamilien und Familienclans, bei der Mafia oder in politischen Widerstandsfamilien. In solchen Familien kann der Stolz auf die familiäre Herkunft dann auch länger und bis ins hohe Alter bestehen bleiben. Leider können auch gewisse Familiengeheimnisse (emotionaler, pädagogischer und sexueller Missbrauch, etc.) und belastende Familienschicksale (wie Abtreibungen und Fehlgeburten, der fühe Tod der Eltern, Kinder oder Geschwister, etc.) zu längeren Bidungen an die Herkunftsfamilie führen.
3. Das kulturelle Selbstbewusstsein einer Person, die seit ihrer Kindheit einer bestimmten Kultur angehört, ist nicht nur in der Kindheit und Jugend prägend. Gerade für Dichter und Denker, für Künstler und Politiker, die die Wurzeln, Antriebskräfte und die Früchte ihrer eigenen Kultur, Geschichte und Tradition besser kennen als andere Leute, ist das kulturelle Bewusstsein eminent wichtig und mit ihrer persönlichen Identität und ihrem persönlichen Selbstbewusstsein eng und untrennbar verwoben. Dies gilt insbesondere in den Kulturen des politischen Widerstandes gegen mächtige Nachbarn, gegen die sie sich immer wieder zur Wehr setzen mussten, wie z.B. für die Iren, die Polen und die Ukrainer.
Da jeder Mensch jedoch in eine bestimmte Kultur hinein geboren wurde mit einer Muttersprache und eventuell auch noch mit einer Vatersprache als Zweitsprache aufgewachsen ist, und da seine kulturelle Herkunft angeboren und damit schicksalhaft bzw. von Gott gegeben ist, ist es eminent wichtig, seine kulturelle Herkuft anzunehmen und zu bejahen. Das wissen insbesondere Menschen, die einmal für ein paar Jahre im Ausland gelebt und studiert oder gearbeitet haben, und die dann jedoch freiwillig in ihre Heimat zurückgekommen sind. Sie können die Eigenheiten, Schrullen und Verquertheiten ihrer eigenen Kultur besser erkennen, da sie sich einmal anderswo anpassen und bewähren mussten.
4. Das nationale Selbstbewusstsein einer Person, die seit ihrer Kindheit einer bestimmten Nation angehört, ist keine Sache der Kindheit und Jugend, da Kinder und Jugendliche noch kein ausgeprägtes politisches Bewusstsein, wenig Erfahrung und noch kaum ein Verständnis von der eminenten Bedeutung ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation als politischer Einheit, als politischer Schicksalsgemeinschaft in der Not und als politische Kampfgemeinschaft
im Freiheitskampf und im politischen Widerstand gegen einen Angreifer haben können.
Da jeder Mensch jedoch (mit seiner Familie) in einer bestimmten Nation lebt, auch wenn er nicht in sie hinein geboren wurde, sondern sie mehr oder weniger freiwillig als neue Heimat gewählt hat und zugewandert ist, ist zwar nur seine kulturelle Herkunft angeboren und damit schicksalhaft bzw. von Gott gegeben. Aber auch dann ist es eminent wichtig, seine Zugehörigkeit zu einer Nation anzunehmen und zu bejahen. Das wissen insbesondere Menschen, die einmal
für ein paar Jahre im Ausland gelebt und studiert oder gearbeitet haben, und die dann jedoch freiwillig in ihre Heimat zurückgekommen sind. Sie können oft die geschichtlich bedingten Besonderheiten, politischen Institutionen und Traditionen sowie Stärken und Schwächen ihrer eigenen Nation besser beurteilen, da sie sich einmal anderswo anpassen und bewähren mussten.
Der alte Kosmopolitismus der Stoiker (Seneca) und der neue globalisierte Kosmopolitismus des Jetsets, der anonymen Großstädter (Nowheres), der reichen Film- und Pop-Stars, der globalisierten Politik- und Finanzfunktionäre, hatte schon immer etwas Künstliches und konnte schon immer nur im Luxus leicht gelebt werden.Seit einiger Zeit jedoch findet er vor allem in den Großstädten viele kleinbürgerliche Bewunderer und mittelständige Nachahmer, die sich zwar bewusst individualistisch gebärden, die jedoch nur einer postmodernen Massenbewegung entspringen, die dem neoliberalen Zeitgeist entspricht. Gewöhnlichen Leuten (Somewheres), Aristokraten, echten Leistungs- und Verantwortungsträgern insbesondere mit familiären und heimatlichen Bindungen ist diese bindungslose, künstliche und hedonistische Lebens-weise immer schon weitgehend fremd gewesen.
5.1. Das berufliche Selbstbewusstsein eines/r Wissenschaftlers/in, besteht in erster Linie darin der Wahrheit, der Erkenntnis und dem Wissen verpflichtet zu sein, dann in zweiter Linie der logischen Rationalität, den speziellen Methoden und dem lebensdienlichen und humanen Ethos der jeweiligen Wissenschaft.
5.2. Das berufliche Selbstbewusstsein eines/r Künstlers/in, besteht in erster Linie darin der Wahrheit, dem Schönen und dem Guten verpflichtet zu sein, dann erst in zweiter Linie der eigenen Authentizität, Originalität und künstlerischen Selbstverwirklichung. Allerdings ist die Priorität in der zeitgenössischen Kunst meistens umgekehrt und damit verkehrt.
5.3. Das berufliche Selbstbewusstsein eines/r Philosophen/in besteht in erster Linie darin der Wahrheit, dem Schönen und Guten sowie der Einsicht, der Erkenntnis und dem Wissen davon verpflichtet zu sein, dann in zweiter Linie der logischen Rationalität, den speziellen Methoden einer bestimmten Schule oder der Loyalität zu einem bestimmten Paradigma von Philosophie (Platon oder Aristoteles, Augustinus oder Thomas von Aquin, Kant oder Hegel, etc.).
Ein besonders wichtiges und in der zeitgenössischen Philosophie weithin und fast einhellig anerkanntes Merkmal des philosophischen Denkens und der philosophischen Urteilskraft ist vor allem anderen die Unterscheidung zwischen dem apriorischen Denken und Urteilen, Erkennen und Wissen in Logik und Mathematik und dem empirischen Denken und Urteilen, Erkennen und Wissen in Anthropologie, Psychologie und Linguistik. Umstritten ist jedoch, inwiefern und inwieweit Ontologie und Metaphysik als Formale Ontologie oder Erste Philosophie apriori sein können oder ebenfalls empirisch vorgehen müssen.
5.4. Das berufliche Selbstbewusstsein eines/r evangelisch-christlichen Theologen/in, besteht in erster Linie darin, Gott, Jesus Christus und dem Heiligen Geist sowie der Einsicht, der Erkenntnis und dem Wissen von ihnen verpflichtet zu sein, dann in zweiter Linie der Bibel, der logischen Rationalität, den speziellen Methoden einer bestimmten Schule oder Tradition oder der Loyalität zu einem bestimmten Paradigma von Theologie (Paulus oder Augustinus, Calvin oder Luther, Melanchthon oder Zwingli, Barth oder Brunner, etc.). Entsprechendes gilt selbstverständlich für das berufliche Selbst-bewusstsein eines/r katholischen und orthodoxen, jüdischen und islamischen, etc. Theologen/in.
6. Das existenzielle Selbstbewusstsein einer Person, die sich ihrer eigenen Sterblichkeit bewusst geworden ist, be-steht in einem Bewusstsein für die Einmaligkeit, Endlichkeit und Vergänglichkeit des eigenen Lebens, der Kontingenz der Umstände des eigenen Lebens mit glücklichen Fügungen und unglücklichen Widerfahrnissen, etc. Der persönliche Glaube daran, ob es so etwas wie eine unsterbliche Geistseele, irgendeine Fortexistenz nach dem leiblichen Leben oder eine leibliche Auferweckung oder Wiedergeburt (am Ende der Tage) geben wird, hängt von der jeweiligen Nähe zu oder Zugehörigkeit zu einer Glaubensweise, Religion oder Konfession ab.
7. Das religiöse Selbstbewusstsein einer Person, die einer bestimmten Religion oder Konfession angehört, besteht in einem Bewusstsein für die Eigenart der eigenen persönlichen Glaubensweise, Religion oder Konfession sowie der dazu gehörigen ethischen Ideale, Prinzipien, Normen und Werte, der Kontingenz der eigenen freien Wahl oder der familiären Zugehörigkeit zu einer Glaubensweise, Religion oder Konfession, mit ihren glücklichen Fügungen und unglücklichen Widerfahrnissen, etc. Der persönliche Glaube daran, ob es einen (persönlichen) Gott gibt, wer Jesus von Nazaret und der Heilige Geist sind, wer Abraham und Moses, Mohammed und Zarathustra, Bab und Baha Ullah, etc. gewesen sind, hängt dann von der jeweiligen Nähe zu oder Zugehörigkeit zu einer Glaubensweise, Religion oder Konfession ab.
8. Das spirituelle Selbstbewusstsein einer Person, die eine bestimmte Transzendenzerfahrung gemacht hat, wie z.B. eine Außerkörpererfahrung (AKE), ein Nahtodeserlebnis (NTE), ein Erweckungserlebnisses, eine Nikodemus-Erfahrung von "Wiedergeburt aus Wasser und Geist", eine freiwillige Erwachsenentaufe, eine religiöse Konversion, ein Wechsel zu einer anderen Konfession, etc. hängt von wirklichen und echten persönlichen Erfahrungen und von zuverlässigen Er-innerungen an sie ab. Oft führen solche Erfahrungen und deren Selbstinterpretation zu einer veränderten Identität und zu einem erneuerten Selbstverständnis in leiblicher, seelischer oder geistiger Hinsicht.
Es gibt also nicht nur einige (mindestens fünf) Bedeutungen des Wortes "Selbstbewusstsein" und einige allgemein menschliche Formen von Selbstbewusstsein, sondern auch verschiedene (mindestens acht) nicht allgemeine, nur persönliche und gemeinschaftliche Formen von Selbstbewusstsein. Daher ist es kaum möglich, die ganze Philosophie
in einer einzigen Form von Selbstbewusstsein fundieren zu wollen, wie es Dieter Henrich es versucht hat. (Fichtes ursprüngliche Einsicht, Grundlegung aus dem Ich). Auch Ernst Tugendhats sprachanalytische Untersuchungen zum Selbstbewusstsein (Selbstbewusst sein Selbstbestimmung) greifen zu kurz, da es sich um empirisch-objektiv bzw. phäno-menologisch-introspektiv-subjektiv erforschbare psychische Phänomene handelt, die teilweise schon bei höheren Säugetieren und Vögeln rudimentär angelegt sind, aber weitgehend spezifisch und bisher ausschließlich menschlich sind. Jürgen Habermas kam der Sache zwar schon näher, bleibt jedoch im Intersubjektivismus, im skeptischen Konsensualismus und im demokratischen Dezisionismus stecken.
Am besten kehrt man zu Aristoteles und Descartes, Kant und Hegel, Brentano und Jaspers zurück, die noch vor dem reduktionistischen Schisma zwischen Phänomenologie und Sprachanalyse philosophiert haben.