Wo die Menschenwürde unverständlich bleibt
Recht mit ausgewiesenen Prämissen: Für Martin Kriele hat Macht der Machtlosigkeit zu dienen
Michael Pawlik
Zur Illustration seines Lehrstücks vom Faktum der Vernunft bildet Kant ein berühmtes Beispiel. Wie wird ein Bürger sich verhalten, dem sein Fürst unter Androhung der sofortigen Todesstrafe
ansinnt, ein falsches Zeugnis gegen einen ehrlichen Mann abzulegen, den der Fürst unter einem Vorwand verderben möchte? Kant weiß, daß niemand mit Gewißheit vorhersagen kann, ob er in einer
solchen Situation standhaft bleiben und seine Liebe zum Leben überwinden wird. Daß es aber zumindest möglich ist, sich zu dieser Haltung durchzuringen, muß nach Kants Überzeugung jeder-mann ohne
weiteres einräumen. "Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil er sich bewußt ist, daß er es soll." Der Sinn des moralischen Subjekts für das Rechte beweist sich am nachdrücklichsten im
Angesicht des offenkundigen Unrechts.
Wie der emeritierte Kölner Staatsphilosoph Martin Kriele in seinen "Grundproblemen der Rechtsphilosophie" zeigt, handelt es sich bei der Unrechtserfahrung in der Tat um einen anthropologisch
elementaren Sachverhalt. Längst bevor das Kind zu sagen vermag, was Gerechtigkeit positiv bedeutet, protestiert es gegen ungerechte Behandlung. Und auch derjenige, der vom kategorischen Imperativ
noch nie etwas gehört hat, weiß, daß es ein schweres Unrecht ist, einen unschuldigen Menschen dem Tod auszuliefern.
Rechtsrelativismus und Rechtspositivismus schieben das praktische Alltagswissen des um moralische Lebensführung bemühten Menschen als wissenschaftlich haltlos zur Seite. Ihre vordergründige
methodische Eleganz ist allerdings trügerisch. Für ihre Abstraktion von der moralischen Erfahrungswelt zahlen sie den hohen Preis phänomenologischer Unangemessenheit. Sie definieren die Probleme
der Rechtsethik hinweg, statt sich bei dem Bemühen um ihre Lösung die Hände schmutzig zu machen.
Das Buch Krieles ist ein einziger Widerspruch gegen diese reduktionistische Problemwahrnehmung. Die konkrete Unrechtserfahrung ist nach Kriele "das Tor, durch das man zur rechtsphilosophischen
Erkenntnis schreitet". Die Rechtsphilosophie sei zwar dazu in der Lage, ein vorhandenes Unrechtsbewußtsein auf verschiedene Weise zu begründen, zu entfalten und je nach den Umständen auch zu
korrigieren. Aber sie schaffe dieses Unrechtsbewußtsein nicht, sondern könne und müsse es voraussetzen.
Wer sein eigenes Unrechtsbewußtsein vorurteilslos analysiert, der wird nach Kriele zu der Überzeugung gelangen, daß es Formen des Umgangs mit anderen Menschen gibt, die ungeachtet der
Bestimmungen des positiven Rechts immer und überall Unrecht sind. Dabei handele es sich um solche Verhaltensweisen, die der Natur des Menschen offenkundig Gewalt antäten. Den Einwand, daß es so
etwas wie eine Natur des Menschen nicht gebe, man zumindest nichts Sicheres über sie wissen könne, läßt Kriele nicht gelten. Zwar weise der Mensch sehr viel mehr Individualität auf als das Tier,
mit der Folge, daß zu seiner Natur eine weitaus größere Variationsbreite gehöre. Für die natürlichen Rechte und Freiheiten der Menschen komme es auf die Verschiedenheiten von Rasse, Geschlecht,
Religion oder Herkunft aber gerade nicht an. Maßgeblich seien vielmehr "die dem Menschen gemeinsamen Merkmale". Dazu gehörten die Bedürfnisse nach Nahrung, Gesundheit, Wohnung, Arbeit und Bildung
ebenso wie geistige und ethische Grundstrukturen.
Auf den ersten Blick fühlt man sich hier an Rawls' Argument zu Gunsten der "Grundgüter" erinnert. Darunter versteht Rawls jene Güter, auf die ein Mensch zur Verwirklichung seiner Lebenspläne in
jedem Fall angewiesen ist, gleichgültig, wie diese Pläne im einzelnen aussehen. Daß die Menschen einander diese Grundgüter zubilligen sollen, ist nach Rawls angesichts des Informationsvakuums, in
dem sie ihre Verteilungsentscheidungen vornehmen müssen, ein Gebot der Klugheit.
Bei Kriele ist der Begründungsschritt vom Bedürfnis zum Recht, vom Sein zum Sollen bislang noch offen. Auch wenn man Kriele konzediert, daß der Natur des Menschen ein – wie er es nennt –
"Aufforderungscharakter" innewohnt, stellt dies lediglich die Umschreibung einer lebensweltlichen Evidenzerfahrung dar. Erst die plausible Einbettung dieser Erfahrung in ein System normativer
Begriffe erhebt eine Befindlichkeitshermeneutik in den Rang einer rechtsphilo-sophischen Theorie. Kriele weicht dieser Aufgabe auch keineswegs aus. In ihrer Beantwortung unterscheidet er sich
allerdings tiefgreifend von Rawls.
Statt wie der große alte Mann aus Harvard den Versuch zu unternehmen, das Begründungsmodell des klugen Interessenkalküls mit Hilfe eines rechtsethischen Zusatzarrangements gleichsam zu entgiften,
wagt Kriele den direkten Angriff auf diesen mächtigen Gegner. Er konzediert einer interessentheoretischen Moral- und Rechtsbegründung, daß sie in vielen Fällen die Vorteilhaftigkeit von
Kooperation und gegenseitiger Toleranz zu begründen vermöge. Das Modell versage aber dort, wo der ihm zugrunde liegende Reziprozitätsmechanismus deshalb nicht greife, weil mit der Möglichkeit
eines Rollenwechsels realistischerweise nicht gerechnet zu werden brauche.
"Eine sich mächtig und stabil wissende Mehrheit nimmt aus bloßem Eigeninteresse keine Rücksicht auf Minderheiten." Sogar die universale Geltung des Verletzungsverbots komme auf strikt
interessentheoretischer Basis ins Wanken. Weshalb solle man es auch noch in solchen Fällen einhalten, in denen feststehe, daß "die Verletzten und ihre Angehörigen, Nachkommen oder Freunde unter
keinen möglicherweise zu erwartenden Umständen in der Lage sein werden, sich rächen zu können"? Ausgerechnet denjenigen bleibt in dem interessentheoretischen Modell also der normative Schutz
versagt, die aufgrund ihrer fehlenden Marktmacht dieses Schutzes am dringendsten bedürfen. Die Macht taugt nach Kriele schlechterdings nicht zum Grundbegriff einer Rechtsphilosophie,
gleichgültig, ob man ihr wie der Rechtspositivist in unverhüllter Form huldigt oder ob man ihr in der subtileren Manier des Interessentheoretikers den Hof macht. Obgleich die Rechtsphilosophie
die Domestizierung der Macht anstrebt, soll ihr eigener Ausgangspunkt also machtunabhängig beschaffen sein.
Als semantisches Symbol zur Auflösung des darin liegenden Dilemmas wird heutzutage zumeist der Begriff der Menschenwürde herangezogen. Kriele schließt sich dieser Sichtweise an. Das
rechtsethische Grundprinzip laute: "Jeder hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Anerkennung seiner Würde." Anders als viele andere Theoretiker der Menschenwürde ist Kriele sich jedoch darüber im
klaren, daß der paradoxe Satz, wonach die Macht der Machtlosigkeit zu dienen hat, sich rein innerweltlich nicht begründen läßt.
Die Vorstellung von der Menschenwürde sei vielmehr nur nachvollziehbar, "wenn man voraussetzt, daß es Gott oder jedenfalls eine himmlische Instanz gibt, die dem Menschen diesen Adel verliehen hat
und seine Achtung gebiete. Die Verletzung der Menschenwürde bedeutet dann zugleich eine Mißachtung der verleihenden und gebietenden Instanz."
Diese These besagt bei Kriele zweierlei. Zum einen beinhaltet sie die Behauptung, daß überall dort, "wo ein religiöser Bezug zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf, Himmel und Erde
lebendig ist, der Gedanke der Menschen-würde zumindest ansatzweise mitgedacht wird". Eine Religion, die sich terroristisch gebärdet, unterliegt folglich einem verheerenden
Selbstmißverständnis.
Die zweite Folgerung Krieles ist womöglich noch provokanter. Wer immer es mit seinem Bekenntnis zur Menschenwürde ernst meint, der entpuppt sich danach als ein homo religiosus,
gleichgültig ob er dies will oder überhaupt nur weiß. Materialisten, die für die Menschenwürde eintreten, machen sich nach Kriele selbst etwas vor. "Man legt sich dann keine bewußte Rechenschaft
darüber ab, daß man den Materialismus im Grunde seines Herzens nicht wirklich meint." Einem konsequenten Materialisten müsse der Gedanke der Menschenwürde unverständlich bleiben. Der Vorwurf des
"Speziezismus" sei innerhalb eines materialistischen Weltbildes schlüssig, ja zwingend.
Kriele zufolge zeigt freilich der Erfolg des Gedankens der Menschenwürde, daß das materialistische Dogma in der Psyche des Menschen keinen wirklichen Halt findet. Krieles Fortschrittsoptimismus,
dem sich die Rechtsgeschichte als ein "Prozeß der Überwindung von Unrecht" darbietet, und seine Überzeugung, daß ein religiöses Weltverständnis zur Natur des Menschen gehöre, sind in seiner
Argumentation untrennbar miteinander verknüpft. Weil Kriele für die Zukunft einen weiteren Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit erwartet, prognostiziert er, daß auch das einundzwanzigste
Jahrhundert ein religiöses Jahrhundert sein wird.
Das düstere Gegentableau zu diesem freundlichen Aquarell hat jüngst der große italienische Rechtshistoriker Paolo Prodi ausgemalt. Mit dem in Europa stattfindenden rasanten Verfall des religiösen
Bewußtsteins wird demnach das individuelle Gewissen in die Verantwortungslosigkeit getrieben. Die Überzeugung von dem unverfügbaren Recht der Machtlosen, für das der Begriff der Menschenwürde
stand, könnte sich nach Prodis Befürchtung als ebenso vergänglich erweisen wie die geistigen Voraussetzungen, die sie bislang gestützt haben. Bereits heute steht die Menschenwürde-garantie
bekanntlich in vielen Grenzbereichen des entstehenden und des vergehenden Lebens nur noch auf dem Papier. Das Gerede über die Menschenwürde geht derweil munter weiter. Deren weiteres Schicksal
ist mithin ungewisser, als der klug-naive Alteuropäer Kriele es wahrhaben will.
Martin Kriele: Grundprobleme der Rechtsphilosophie. Münster: Lit-Verlag 2003.